Der Einsatz von Fall-Vignetten. Potential für sozialräumliche Fragestellungen

Steve Stiehler, Caroline Fritsche, Christian Reutlinger

1. Einleitung

Die „Vignette“ (frz.) ist auf eine Verkleinerungsform von „vigne“ (Rebe, Weinstock) zurückgehend und fand vor allem innerhalb der Buchdruckkunst als künstlerische Ausschmückung Eingang in den deutschen Sprachgebrauch (vgl. Wahrig 2010). Heute wird der Begriff Vignette von verschiedenen Fachrichtungen gebraucht und entsprechend eigener fachinterner Vorstellungen definiert. Während in der Buchkunst die Vignette noch immer eine Randverzierung beschreibt, stellt sie im Verkehrswesen eine Gebührenmarke für die Autobahnbenutzung dar und dient in der Medizin und Psychologie dazu, ein Fallbeispiel wiederzugeben. In den Sozialwissenschaften steht der Begriff „Vignette“ meist für eine stimulierende Ausgangssituation, die die befragten Personen zu Beurteilungen oder zu weiterführenden Handlungsmöglichkeiten anregen soll. Mittels einer Vignette wird also eine hypothetische Situation in Befragungen als Stimulus eingesetzt und die zu befragende Person gebeten, die Situation zu beurteilen und/oder eine situationsentsprechende Handlungsweise anzugeben und dies zu begründen (vgl. Schnurr, 2003). Vignetten stellen eine interessante Form der Befragungsgestaltung für die empirische Forschung der Sozialen Arbeit dar und können in verbalisierten Formen („Geschichtenanfänge“) oder als visualisierte Abbildungen („Bildgeschichte“) eingesetzt werden.

Der Einsatz von Vignetten als methodisches Instrument ermöglicht den subjektiven Handlungssinn durch imaginierte Situationen hervorzubringen und festzuhalten, d.h. Prozesse nachzuvollziehen, in denen die Akteure ihre soziale Wirklichkeit herstellen. Die bevorzugte Verwendung der Vignetten bei der Operationalisierung von gesellschaftlichen Werten und Normen begründet sich u.a. dadurch, dass Aspekte „sozialer Erwünschtheit“ durch ihren projektiven Charakter minimiert werden (vgl. Jann 2003, 5). Die Entwicklung der spezifischen Situationsvignetten erforderte zunächst die Erschließung realer Situationen in der Thematik. Dem folgte eine Übertragung der gewonnenen Situationen in prägnante Geschichtenanfänge (verbalisierte Vignetten) bzw. reale Bildgeschichten (visualisierte Vignetten), die möglichst nahe an den sozialen Wirklichkeiten und der altersgerechten Wahrnehmung der zu Befragenden sind.

2. Gehversuche mit Vignetten – Das Projekt SPIELRAUM

Zwischen 2008 und 2010 wurde in einer Kooperation zwischen der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) und dem Sportartikelhersteller Nike in fünf Großstädten im deutschsprachigen Raum das Programm SPIELRAUM durchgeführt [1]. Ziel des Programms war die finanzielle Unterstützung von sozialpädagogischen Initiativen, um öffentliche Plätze unter Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in „lebenswertere Orte zu verwandeln – für Teamsport und persönliche Entfaltung“ (http://www.dkjs.de/programme/verantwortung-wagen/spielraum.html). Das Programm SPIELRAUM zielte auf zwei Ebenen:

  1. Die Ebene der beteiligten Kinder und Jugendlichen: über ihre Mitarbeit am Projekt sollte es den Kindern und Jugendlichen gelingen ihre Handlungs- und Aneignungskompetenzen zu erweitern (Bewältigungsmuster der Kinder und Jugendlichen).
  2. Die Ebene der erwachsenen Akteure: auf dieser Ebene sollten durch das Programm neue professionelle Vernetzungen rund um den Platz angestoßen und dadurch die Handlungsoptionen der Fachpersonen erweitert werden (Vernetzungspraktiken der erwachsenen Akteure).

Gegen Ende der wissenschaftlichen Begleitung sollten diese beiden Ebenen im Zuge eines Gruppengesprächs zwischen Mitarbeitern des Trägers eines Programmstandortes und einigen am Umbauprozess beteiligten Jugendlichen miteinander verschränkt und aufeinander bezogen werden. Für dieses Gruppengespräch wurden Vignetten als Türöffner eingesetzt, denn die Jugendlichen sollten mit Hilfe von verbalisierten Geschichten dazu angeregt werden, sich mit den Protagonisten der Geschichte zu identifizieren und deren Handlungen weiterzuführen bzw. zu vervollständigen. Die Geschichten endeten in einer Dilemmasituation, in der die Jugendlichen dazu aufgefordert werden sollten die Geschichte weiterzuerzählen. Bei der Konstruktion der verbalisierten Vignetten sind die vier Dimensionen der jugendlichen Handlungsebene (Partizipation, Kritik an Autoritäten, Zugehörigkeiten und Nutzungen) eingeflossen, welche in einer vorhergehenden Phase der wissenschaftlichen Begleitung von den beteiligten Jugendlichen thematisiert wurden (siehe ausführlich Kessl/Reutlinger/Fritsche 2011).

Über diese Geschichten, die auf den tatsächlichen Umbauprozessen basierten und sowohl Jugendliche als auch Fachpersonen mit einschlossen, war die Verschränkung der beiden Ebenen in Form eines Austauschs über die Wahrnehmungen und Handlungsentwürfe beider Akteursgruppen geplant. Die angefragten Jugendlichen kamen jedoch nicht zum vereinbarten Termin.

So war es im Rahmen der SPIELRAUM-Untersuchung lediglich möglich, die Vignetten den Fachpersonen vorzustellen und nach ihrer Einschätzung der in der Geschichte beschriebenen Situation zu fragen. Durch diesen Umstand soll das hier vorgestellte Beispiel, wie Vignetten als Methode zur Erforschung/Bearbeitung sozialräumlicher Fragestellungen eingesetzt werden können, zur Diskussion gestellt werden. Anhand einer Geschichte sollen die wichtigsten Aussagen der Fachpersonen dargestellt werden: 

Vignetteneinsatz zur Erfassung der Dimension Nutzungen und mögliche Nutzungskonflikte:

Ein Jugendlicher und ein paar Freunde gehen nachmittags zum Fußballspielen zum SPIELRAUM-Platz, der vor kurzem umgestaltet wurde. Neben dem Fußballfeld stehen am Rand einige Basketballkörbe und Rampen zum Skateboard fahren.
Als die Jugendlichen auf dem SPIELRAUM-Platz ankommen, sind dort einige Skater, fahren durch das Fußballfeld und springen über die Rampen. Zwei andere unterhalten sich mit einem Jugendarbeiter.

Die in dieser Vignette erzeugte Dilemmasituation bezieht sich auf mögliche Nutzungskonflikte auf dem Platz, die durch eine Nutzung der unterschiedlichen Spiel- und Sportfelder entstehen könnte.

Die Fachkräfte schlossen an die in der Vignette geschilderte unübliche Situation an, indem sie einige Funktionen und Charakteristika des Platzes aufgriffen. Sie verwiesen auf die Spannung zwischen einer großen Sport- und Veranstaltungsfläche und dem Erzeugen einer gemütlichen Aufenthaltsqualität. Diese Spannung war sowohl Thema bei den Verantwortlichen während des Planungsprozesses als auch bei den Fachkräften vor Ort nach dem eigentlichen Umbau. Letztlich hatte der Schwerpunkt des Förderprogramms dazu geführt, den offenen Sportflächen den Vorrang zu geben.

Die in der Vignette dargestellte Situation von Nutzungskonflikten sei untypisch, da der Nutzungsdruck im Quartier nicht sehr hoch sei und die Jugendlichen sich ihren Bedürfnissen entsprechende Orte suchen. Als zentraler urbaner Ort sei der Platz jedoch sehr beliebt, da Jugendliche dort ihr Bedürfnis nach Teilnahme am urbanen Leben ausleben könnten.

Obwohl in der Vignette eine für die Fachkräfte untypische Situation dargestellt war, schlossen sich weiterführende Interpretationen und Prozessdarstellungen durch diese an, welche einige Thesen und Interpretationen aus dem Prozess der wissenschaftlichen Begleitung sowohl erweitern als auch relativieren konnten.

3. Theoretischer Hintergrund von Fall-Vignetten als sozialwissenschaftliche Methode

Theoretisch lässt sich die Entwicklung von Vignetten als eine sozialwissenschaftliche Methode in Hinblick auf tiefenpsychologische Konzepte der Projektion, sozialkonstruktivistische und kognitionspsychologische Ansätze begründen (Stiehler/Werner 2008). Die Zusammenführung dieser theoretischen Zugänge bildet die Basis des Einsatzes der Fall-Vignetten als Erhebungsmethode.

a) Projektive Verfahren

Projektive Verfahren, die ursprünglich in der klinischen Psychologie als Untersuchungsinstrumentarium zur Persönlichkeitsdiagnose Anwendung fanden, haben zum Ziel in Form einer indirekten Befragung, unterdrückte, geleugnete oder schwer ermittelbare Einstellungen des Probanden herauszuarbeiten (vgl. Rauchfleisch 1989). Den hier vorgestellten Fall-Vignetten liegt eine breitere Bedeutungshypothese von Projektion zu Grunde. Die Untersuchten nehmen in diesem Verständnis einen in Wort oder Bild dargestellten Interaktionskontext mit Aufforderungscharakter wahr und reagieren darauf je nach eigenen Gewohnheiten, Interessen, Gefühlen, Erwartungen und Wünschen. In der so genannten "attributiven (beifügenden) Projektion" werden eigene Motive, Gefühle und Verhaltensweisen den geschilderten oder abgebildeten Personen zugeschrieben. Der/Die Untersuchte identifiziert sich sozusagen mit den Protagonisten einer Geschichte oder einer Abbildung und macht stellvertretend deutlich, wie es in dieser ergebnisoffenen Situation denken, fühlen und handeln würde.

b) Kognitionspsychologische Skripttheorie

Einen weiteren theoretischen Bezugspunkt hat der Einsatz von Fall-Vignetten in der kognitionspsychologischen Skripttheorie, in der Vignetten Bestandteile spezifischer Wahrnehmungs- und Handlungsschemata (=kognitive Skripte) (Schank/Abelson (1976/1977) darstellen. Für Bachmann (1998) sind kognitive Skripte „prototypische Folgen von Situationen und Ereignissen (…), die wir regelmäßig in Interaktion mit der Umwelt absolvieren. Ein wichtiger Aspekt ist die sehr individuelle Ausprägung bestimmter Skripte durch persönliche Erfahrungen oder Beobachtungen“ (ebd., 30).

Durch vorgegebene situative Darstellungen (= Fall-Vignetten) zielt der Vignetteneinsatz darauf, diese kognitiven Strukturen zu erschließen. Zentral für die eigene Erhebung ist, dass vorhandene Wahrnehmungs- und Handlungsschemata mithilfe von treffenden bzw. alltagsnahen Fall-Vignetten abgerufen und ausgewertet werden können.

c) Script-Theorie

Darüber hinaus bietet die Script-Theorie von Simon/Gagnon (1973/2000) einen theoretischen Ansatzpunkt für den Vignetteneinsatz. Sie entwickelten ein sozialkonstruktivistisches Konzept, welches davon ausgeht, dass Menschen sich und ihre Wirklichkeit in wechselseitiger Auseinandersetzung von kulturellen Vorgaben, sozialer Umwelt und eigenen Motivationen selbst herstellen und darstellen (vgl. Simon/Gagnon, 2000). Die Autoren ziehen bei ihren Ausführungen Parallelen zu einer Bühnenaufführung im Theater.

Auf die Fallvignetten übertragen, erhalten die Befragten in dieser Methode eine Bühne, auf der sie als Regisseur agieren und eine soziale Situation selbst ausgestalten können. Dabei wird nicht von der Willkürlichkeit dieser Konstruktion ausgegangen, sondern davon, dass sie von eigenen Erfahrungen, Erlebnissen und Empfindungen abhängig ist. Über die Regieanweisungen des Befragten wird ersichtlich, wie der/die Befragte seine/ihre eigene Welt jeweils konstruiert. Die Befragten setzen sozusagen die Person auf dem Bild/in der Geschichte in Szene.

4. Gehen lernen – methodische Reflexion, Potenziale und Grenzen der Fall-Vignette für sozialräumliche Fragestellungen

Der methodische Einsatz von Fall-Vignetten ist zunächst durch ihren projektiven Aufbau charakterisiert (siehe 3a). Diese Projektion ist dann erfolgreich, wenn sich die befragten Personen in die Situation der Vignettenprotagonisten hineinversetzen und deren Geschichte in ihrem eigenen subjektiven Sinn vollenden. Durch eine zielgruppenspezifische (Alter, Geschlecht etc.) sowie aus Alltagserfahrungen rekrutierende Konstruktion der Fall-Vignette sollte eine möglichst geringe Distanz zwischen der befragten Person und den Vignetten-Protagonisten erzeugt werden. Dieser Forderung der Vignetten-Methode ist im oben dargestellten Beispiel nur teilweise Rechnung getragen worden. So ist bspw. die Dilemmasituation, die zu einer Fortführung der Handlungen durch die befragten Personen führen soll, aus Sicht der Jugendarbeiter eher undeutlich zu erkennen und erfordert nicht zwingend ein Intervenieren durch die Jugendarbeiter.

Daneben bleiben die Personen in der Vignette etwas abstrakt, so dass eine relativ große Distanz zwischen Vignetten-Personen und befragten Personen bestehen bleibt. Dadurch sind im SPIELRAUM-Projekt einige Potentiale der Vignetten-Methode nicht vollumfänglich ausgeschöpft worden. Denn durch die möglichst hohe Identifikation der befragten Person mit der Vignetten-Person könnten z.B. unterdrückte und unbewusste Einstellungen, Deutungsmuster oder Handlungsroutinen erfragt werden, die kaum über direkte Methoden erfasst werden können. Im Beispiel der Jugendarbeiter wären hier vor allem professionelle Routinen und Praktiken von Interesse, die durch ein direktes Erfragen eher rationalisiert und reflektiert werden.

Mit Verweis auf die kognitionspsychologische Skripttheorie (siehe 3b) bieten Vignetten die Möglichkeit die je individuellen Wahrnehmungs- und Handlungsschemata (Skripte) der Befragten vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen deutlich zu machen. Somit muss die Verwendung der Vignetten im SPIELRAUM-Projekt relativiert bzw. kritisch beleuchtet werden. Denn hier wurden die Vignetten einer Gruppe von Fachkräften präsentiert bzw. von diesen vervollständigt. Die durch das Gruppen-Setting ausgelösten Dynamiken sowie deren Auswirkungen auf die Äußerungen der einzelnen Fachkräfte wären bei der Analyse zu berücksichtigen. Der Einsatz der Vignetten im Spielraum-Projekt kann demnach zwar als Annäherung an die Wahrnehmungs- und Handlungsschemata der Fachkräfte verstanden werden, lässt aber keinen direkten Schluss auf spezifische kognitive Strukturen zu. Dennoch ist eine Anwendung von Vignetten in Gruppen-Settings nicht per se auszuschließen. Idealtypisch würden jedoch die Vignetten von jeder Person einzeln vervollständigt (z.B. schriftlich) und erst anschließend anonymisiert in einer Gruppe zur Diskussion gestellt werden.

Ähnlich verhält es sich mit einem Schluss auf die spezifischen Konstruktionen der Wirklichkeit einzelner Fachkräfte wie dies in Anlehnung an die Script-Theorie von Simon/Gagnon bezeichnet werden kann.

Diese Wirklichkeitskonstruktionen können vor allem über die Begründung der zuvor geleisteten Vignettenvervollständigung abgefragt und rekonstruiert werden. 

Zwar haben die Fachkräfte ihre „Regieanweisungen“ für die Vignette dargestellt, inwiefern hier jedoch die (Fach)Gruppe Äußerungen im Sinne einer sozialen (oder eben fachlichen) Erwünschtheit begünstigte, konnte nicht analysiert werden. Dennoch bestand zwischen den Äußerungen der Mitglieder Konsens über das erforderliche Vorgehen (oder: das Drehbuch), so dass zumindest eine gruppeninterne Minimalvariante der Regieanweisungen und damit der Wirklichkeitskonstruktion erhoben werden konnte.

In Bezug auf sozialräumliche Fragestellungen und Kontexte, wie sie bei SPIELRAUM im Mittelpunkt standen, bieten Vignetten weiteres Potential, indem sie stark auf die Subjektivität der einzelnen Handelnden ausgerichtet sind. Insbesondere wenn es um die Analyse von Raumaneignungsprozessen geht, können sowohl die örtlichen Gegebenheiten in die Vignette eingebaut werden als auch die  subjektiven Aneignungs- und Bewältigungsleistungen erfragt werden. Diesem Vorgehen ist ein relationales Raumverständnis hinterlegt, das Räume als hergestellt und strukturiert betrachtet und weniger als unabhängige statische Größen. Über Fall-Vignetten könnten in diesem Zusammenhang die je subjektiven aber gesellschaftlich strukturierten Aneignungsprozesse – hier verstanden als Raumherstellungsprozesse – herausgearbeitet werden. Dafür ist es jedoch zentral, die Fall-Vignetten unter theoriegeleiteten Aspekten zu konstruieren, d.h. der sozialräumliche Bezug muss systematisch in die Vignettenkonstruktion mit einfließen. Bei SPIELRAUM wurden in diesem Kontext verbalisierte Vignetten eingesetzt, in denen ein den befragten Jugendarbeitern bekannter Ort beschrieben wurde, so dass eine Identifikation mit der Person des Jugendarbeiters „vor Ort“ problemlos war. Gerade im Rahmen von sozialräumlichen Fragestellungen könnte es aber sinnvoller sein, visualisierte Vignetten zu verwenden, insbesondere wenn spezifische materielle Arrangements vor Ort von Interesse sind. Durch eine Visualisierung bestünde die Möglichkeit die vorhandenen materiellen Elemente zunächst darzustellen und im Anschluss deren Wahrnehmung bzw. deren Stellenwert innerhalb der subjektiven Raumbildungsprozesse über die Fall-Vignette zu rekonstruieren.

Schließlich ist zu bedenken, dass Fall-Vignetten in der Kombination mit anderen Methoden der Datenerhebung (wie Interview oder Gruppendiskussion) zur Anwendung kommen. Bei SPIELRAUM haben die Vignetten Themen aufgenommen, die zuvor über teilnehmende Beobachtung vor Ort und Gruppengespräche mit Jugendlichen erarbeitet wurden. Über die kreativen wie alltagsnah gestalteten  Fall-Vignetten lassen sich ansonsten schwer erreichbare Untersuchungsgruppen gut ansprechen. Neben dieser „Eisbrecherfunktion“ rücken die Fall-Vignetten (verbalisiert oder visualisiert) die befragte Person als Protagonisten mit einer je individuellen Geschichte und Wahrnehmung ins Zentrum. Zudem können Vignettenergebnisse auch eine Vermittlerfunktion zwischen verschiedenen Akteursgruppen übernehmen. Indem die Methode z.B. bei einer gemischten Gruppe von Jugendlichen und Erwachsenen zum Einsatz kommt und die Jugendlichen über die Fall-Vignetten z.B. ein eigenes Verständnis von erwachsenen Hilfeangeboten oder Bewältigungshilfen offenbaren können.

Im Fall von sozialräumlichen Fragestellungen könnten Fall-Vignetten z.B. die vorangegangene Auswertung mittels Nadelmethode oder subjektiven Landkarten aufnehmen, indem spezifisch konnotierte Orte in den Vignetten auftauchen. Erkenntnisse aus dem Einsatz von Fall-Vignetten könnten im Anschluss wiederum in eine Gruppendiskussion oder einen Interviewkontext einfließen.

Somit kann die Methode dazu dienen, erste Hypothesen zu generieren oder auch bereits bestehende Thesen in theoriegeleitete Fragen einfließen zu lassen. Über den Einsatz von Fall-Vignetten kann demnach eine Thesengenerierung aber auch -relativierung bzw. -präzisierung vorgenommen werden.

Bezüglich Auswertungsverfahren erwies sich die Orientierung an der induktiven Kategorienbildung inhaltsanalytischer Art nach Mayring (2000) als hilfreich. Um die Auswertung der Daten durchzuführen, mussten bestimmte Auswertungskriterien erfüllt sein. Die Antworten der Befragten sollten in schriftlicher Form (als Transkription oder Mitschrift) vorhanden sein. Um dem erhobenen Datenmaterial gerecht zu werden, ist eine kategoriengenerierende Auswertung möglich. Es ist notwendig, ein Kategorienschema zu entwerfen, welches den Fragestellungen, den methodischen Zielsetzungen sowie dem Potential der Vignetten-Methode entspricht. Um das zu gewährleisten können Kategorien auch in einer Kombination aus kategoriengenerierender und theoriegeleiteter Auswertung gewonnen werden. So entsteht ein vignettenspezifisches Kategoriensystem, das im Laufe der Auswertung beständig modifiziert wird. Das heißt, die Bildung der Auswertungskategorien für Geschichtenanfänge und Bildgeschichten kann sowohl aus dem empirischen Material heraus (generierend) als auch unter theoretischen Bezügen (theoriegeleitet) stattfinden.

Insgesamt gilt für den Einsatz von Fall-Vignetten für sozialräumliche Fragestellungen insbesondere zu beachten, dass die konstruierten Situationsdarstellungen immer eine sozialräumliche „Pointe“ haben bzw. auf einen sozialräumlichen Kontext bezogen werden. Wenn es bspw. um die Aneignung von Plätzen, um Verdrängung bestimmter Gruppen oder Nutzungsformen von Orten oder dergleichen geht, muss sich die befragte Person über eine in Wort oder Bild dargestellte ergebnisoffene, alltagsnahe Situation mit weiterführenden Aufforderungscharakter direkt angesprochen fühlen. Denn nur so ist es möglich, mithilfe von Fall-Vignetten, vor dem Hintergrund vorhandener Erfahrungen, Erlebnisse und Empfindungen, subjektiv vorhandene sozialräumliche Wahrnehmungs- und Handlungsschemata abzurufen und somit sichtbar zu machen.   

Literatur

Abelson, R. P. (1976). Script processing in attitude formation and decision making. In: Carroll, J. S./ Payne, J.W. (Eds.): Cognition and social behaviour (p. 33-67). Hillsdale: Lawrence Erlbaum.

Bachmann, T. (1998). Die Ähnlichkeit von Ereignisbegriffen bei der Analogiebildung. Münster: Waxmann.

Fuhs, B. (2000). Qualitative Interviews mit Kindern. Überlegungen zu einer schwierigen Methode. In F.

Hiltmann, H. (1964). Wortassoziation und verbale Ergänzungsverfahren. In: Heiss, R. (Hrsg.): Handbuch der Psychologie, 6. Band: Psychologische Diagnostik (S. 533-555). Göttingen: Hogrefe.

Kessl, F. & Reutlinger, Ch. (2012) (Hrsg.): Urbane Spielräume. Bildung und Stadtentwicklung. Wiesbaden: Springer-VS.

Kessl, F./ Reutlinger, C./ Fritsche, C. (2011): Spiel- und Handlungsräume von Jugendlichen und Jugendbildung. Zum Verhältnis von Raumbildung und Bildungsräumen. In: Coelen, T./Gusinde, F. (2011): Was ist Jugendbildung? Positionen-Definitionen-Perspektiven. Weinheim: Juventa. S. 111-122.

Rauchfleisch, U. (1989). Testpsychologie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Schank, R. C./ Abelson, R. P. (1977): Scripts, plans, goals, and understanding: An inquiry into human knowledge structures. Hillsdale: Lawrence Erlbaum.

Schnurr, S. (2003): Vignetten in quantitativen und qualitativen Forschungsdesigns. In: Otto, H.-U./ Oelerich, G./ Micheel, H.-G. (Hrsg.): Empirische Forschung. Sozialarbeit – Sozialpädagogik – Soziale Probleme. München: Luchterhand, S. 393-400.

Simon, W./ Gagnon, J. H. (1973): Sexual Conduct: The Social Origins of Human Sexuality. Chicago: Aldine.

Simon, W./ Gagnon, J. H. (2000): Wie funktionieren sexuelle Skripte? In: Schmerl, C./ Soine, S./ Stein-Hilbers, M./ Wrede, B. (Hrsg.): Sexuelle Szenen. Inszenierungen von Geschlecht und Sexualität in modernen Gesellschaften (S. 70-95). Opladen: Leske und Budrich.

Stiehler, St./ Werner, J. (2008): „Dresdner Bewältigungsvignetten“ zur Erfassung der Hilfesuch- und Bewältigungsstrategien von Kindern. In: Nestmann, F./ Günther, J./ Stiehler, St./ Wehner, K./ Werner, J.: Kindernetzwerke. Tübingen: dgvt.

Wahrig Deutsches Wörterbuch (2010). Gütersloh/München: wissmedia GmbH

Werner, J./ Stiehler, St./ Nestmann, F. (2006): „Dresdner Bewältigungsvignetten“ – Ein qualitatives Erhebungsinstrument zur Erfassung kindlicher Hilfesuch- und Bewältigungsstrategien. In Holstein, B./ Straus, F. (Hrsg.): Qualitative Netzwerkanalysen (S.417-439). Wiesbaden: VS


Fussnote

[1] Die wissenschaftliche Begleitung des Projekts übernahmen Prof. Dr. Fabian Kessl vom Institut für Soziale Arbeit und Sozialpolitik der Universität Duisburg-Essen und Prof. Dr. Christian Reutlinger vom Kompetenzzentrum Soziale Räume des Instituts für Soziale Arbeit an der Fachhochschule St.Gallen. Unter Einbezug von Studierenden beider Hochschulen wurden mehrere Gespräche mit den beteiligten Kindern und Jugendlichen sowie den erwachsenen Partnern durchgeführt. Die Ergebnisse sind über den gesamten Projektverlauf in Form verschiedener Workshops den Beteiligten zurückgespiegelt worden (Kessl/Reutlinger 2012).


Zitiervorschlag

Stiehler, Steve, Caroline Fritsche und Christian Reutlinger (2012): Der Einsatz von Fall-Vignetten. Potential für sozialräumliche Fragestellungen. In: sozialraum.de (4) Ausgabe 1/2012. URL: https://www.sozialraum.de/der-einsatz-von-fall-vignetten.php, Datum des Zugriffs: 19.03.2024