Familienrat: Bürger statt Klienten in der sozialräumlich inspirierten Hilfeplanung

Wolfgang Budde, Frank Früchtel

1. Klassische Hilfeplanung

Claudia Marek hat einen wütenden Brief an den Gemeinderat Rolf Petersen, einen ehemaligen Schulfreund geschrieben. Sie werde vom Jugendamt „gemobbt“. Frau Jost, Sozialarbeiterin des Allgemeinen Sozialdienstes, jage sie mit Hausbesuchen und „Einbestellungen“. Ein „Scheißamt“ sei das, schreibt sie, die hätten nichts anderes zu tun als allein erziehenden, berufstätigen Müttern den sowieso schon schwierigen Alltag noch schwerer zu machen.

Die Sozialarbeiterin sieht den Fall anders. Frau Marek ist Dauerthema im Team seit der vierjährige Gernot von der Mutter sonntags in die Klinik gebracht wurde. Der Arzt fand den Jungen derart abgemagert und dehydriert, dass er gegen den Willen der Mutter das Jugendamt alarmierte. Dort wurde der Anruf als „Kinderschutzfall“ verbucht und sofort ein Hausbesuch durchgeführt. Frau Marek wies den Verdacht, sie sorge nicht ausreichend für ihre Kinder, empört zurück. Der Junge habe einen anhaltenden Brechdurchfall gehabt. Seine Versorgung mit passendem Essen sei eh nicht leicht, da er an Neurodermitis leide. Als das Wort „Kindeswohlgefährdung“ fällt, wirft Frau Marek die Sozialarbeiterin aus dem Haus. Schließlich war sie es, die Gernot in die Klinik gebracht habe. Das zeige doch wie sehr sie sich um sein Wohl sorge und dass ihr dabei niemand helfe, sei ja nicht ihre Schuld. Die Kontaktaufnahme zur Kita trägt wenig zur Beruhigung der Sozialarbeiterin bei. Gernot und sein Bruder Kai kämen unregelmäßig in die Kita. Manchmal sähen die Erzieherinnen tagelang nichts von ihnen. Oft hätten die Kinder kein Frühstücksbrot mit und würden mit Verspätung abgeholt. Die Mutter fühle sich leicht angegriffen, wenn man sie darauf anspräche.

Das Team bespricht den Fall. Nach Rücksprache mit der Amtsleitung, erhält Frau Marek eine ultimative Aufforderung, der „Einladung“ in das Jugendamt nachzukommen. Im Hilfeplangespräch sitzt sie dann der zuständigen Bezirkssozialarbeiterin, der ASD-Leitung, einem Arzt und zwei Fachkräften des ambulanten Trägers Kidscare gegenüber.

Ihr wird „Sozialpädagogische Familienhilfe“ angeboten und dafür gibt es klare Auflagen: regelmäßige Vorstellung der Kinder beim Kinderarzt, täglicher Kita-Besuch der Jungen und eine konstruktive Zusammenarbeit mit der Fachkraft von Kidscare. Frau Marek stimmt zu und unterschreibt den Antrag auf Erziehungshilfe. Am nächsten Tag ruft Frau Korn von Kidscare bei ihr an und vereinbart den ersten Hausbesuch.

Da Frau Marek nur wohl oder übel zugestimmt hat, sind die Profis nicht wirklich zufrieden. War die „Wächter-SpFH“ wirklich gerechtfertigt? Erwiesen ist nicht, dass von der Mutter wirklich eine Gefährdung des Kindeswohls ausgeht, aber glauben darf man ihr die Geschichte mit dem Durchfall auch nicht einfach. Kinderschutz ist Gesetz. Die SpFH muss zur Sicherheit Gernots installiert werden und auch zur Sicherheit des Jugendamtes, ausreichend gehandelt zu haben (vgl. Hermani 2003, S. 561).

2. Kolonialisierung

So unentbehrlich die staatliche Intervention hier sein mag, sie bringt nicht nur Vorteile für Gernot mit sich, sondern begründet eine wachsende Abhängigkeit, da seine Erziehung nun unter staatlicher Aufsicht geschieht (Habermas 1982, S. 544). Die Verfahrensbeteiligten werden, allen Mitwirkungsgeboten des Sozialrechtes zum Trotz, Verfahrensunterworfene, weil bereits bei der Entscheidung und auch später Jugendamt und Familienhelferin festlegen, was eine gesunde Ernährung bzw. Erziehung ist. Frau Marek wird signalisiert, die „Wächter“-SpFH ist ein Angebot, das sie nicht ablehnen kann, weil die Anrufung des Familiengerichtes dieselbe Konsequenz hätte. Entsprechend vorsichtig wird sich die Mutter von nun an verhalten und nach Möglichkeit alles unterlassen, was die Familienhelferin als Kindeswohlgefährdung auslegen könnte.

Wenn sich Frau Marek so passend verhalten kann und will (was sie im übrigen auch behauptet), wäre eigentlich keine SpFH als pädagogische Intervention notwendig, sondern ein genaues Monitoring durch möglichst viel Präsens im Familienalltag. Denn gerade im pädagogischen Impetus steckt eine Haltung der Überlegenheit (vgl. Hinte 2007, S. 104), die hier kontraproduktiv wirkt. Im anderen Fall wird unterstellt, dass sich Frau Marek im Verlaufe der SpFH die gewünschten Verhaltensmuster aneignet. Es gilt zwar als ziemlich aussichtsloses Unterfangen, Menschen zielgerichtet zu verändern (ebd.), aber der Zwangskontext würde zumindest Rechtsgehorsam in Bezug auf justiziable Tatbestände erzeugen, sprich so zu kochen, dass Gewicht und Aussehen bei den Arztbesuchen stimmen. Die dritte Variante wäre, Frau Marek entwickelt Gefallen an der Familienhelferin und baut sie als dauerhafte Beratungsinstitution in ihren Familienalltag ein.

In jedem Fall gehen Kinderschutzaufgaben von den Eltern auf Experten über, gleichwohl erstere in ihrer Kinderschutzfunktion eigentlich gestärkt werden sollen. Eigentlich müsste doch ein Prozess in Gang gesetzt werden, der die Verantwortung der Eltern für ihre Kinder verstärkt und nicht ein Prozess, in dem Experten diese Verantwortung usurpieren und dem Ziel der Behandlung (Selbständigkeit) entgegen handeln (vgl. dazu die These des Motiv-, Stigmatisierungs- und Effizienzverdachtes in Kleve 2007, S. 11f)

Dieses hier nur angedeutete Phänomen hat Habermas mit dem Begriff „Kolonialisierung“ belegt: „Wissenschaft und Moral spalten sich vom naturwüchsigen Traditionsstrom des Alltags ab… Der Alltag wird den Maßstäben exklusiver, eigensinniger Expertenkulturen unterworfen und so von Zufuhren durch lebensweltliche Tradition abgeschnitten, deren Geltungsanspruch suspendiert wird… Die Imperative der Systeme dringen in die Lebenswelt – wie Kolonialherren in eine Stammesgesellschaft – ein und erzwingen die Assimilation.“ (Habermas 1981, S. 522).

Mit „Lebenswelt“ meint Habermas unsere alltäglichen zwischenmenschlichen Beziehungen: Partnerschaften, Eltern-Kind-Beziehungen, Freundschaften, Verwandtschaften, etwas verkürzt gesprochen unser alltägliches Netzwerk, in das wir als Personen eingewoben sind. Unterstützungsleistungen entstehen in der Lebenswelt durch Nähe, Betroffenheit und Hilfenormen. Wir helfen (oder erziehen), weil wir gute Eltern, Großeltern, Freunde, Geschwister sein wollen, weil es uns aus normativen, emotionalen und habitualen Motiven so normal erscheint, dass uns nichts anderes „richtig“ vorkommen würde (vgl. Früchtel 2007). Die lebensweltliche Hilfe ist mit Reziprozitätserwartungen verbunden, die langfristig gerechnet zu Stabilität und Kohäsion der Gruppe beitragen, weil die Geltung der zu Grunde liegenden Hilfenormen gestärkt wird. Ein Rechtsanspruch besteht auf diese Hilfe zwar nicht, und doch sind es genau diese Hilfebeziehungen, in denen wir uns aufgehoben, geborgen oder fachchinesisch „integriert“ fühlen, obwohl oder weil sie nirgends vertraglich geregelt sind.

Der Gegenpart (aber nicht Gegenspieler - auch wenn es im Folgenden so scheinen kann!) zur Lebenswelt ist in der Habermas’schen Terminologie das „System“. Das sind gesellschaftliche Gebilde, die am einfachsten durch die sie steuernde Zweckrationalität (Erfolgsorientierung) beschrieben werden können: in unserem Falle das Jugendamt und der beteiligte Freie Träger. Hier herrscht eine vollkommen andere Logik des Helfens vor. Geholfen wird nicht aus solidarischen, emotionalen Motiven oder Glaubensüberzeugungen, sondern weil Gernot einen Rechtsanspruch darauf hat, der abgesichert ist durch Leistungs- und Entgeltverträge mit Jugendhilfeträgern. Verkoppelt mit einer entsprechenden Bedarfsfeststellung (Verdacht auf Kindeswohlgefährdung), wird eine wissenschaftlich erprobte und dadurch notwendigerweise standardisierte Hilfeform (SpFH) „installiert“ (sic). Die beabsichtigten Effekte sind eine berechenbare Qualität, die der Logik der bedarfsfeststellenden Instanz (Jugendamt) folgt.

Die Nebenwirkungen dieser sozialstaatlichen Rechtsansprüche sind allerdings nicht zu unterschätzen. Die Hilfe durch Hilfeexperten birgt immer das Risiko, dass deren Hilfelogik sich gegen die lebensweltliche Hilfelogik durchsetzt und letztere ersetzt oder gar zersetzt, in unserem Fall zum Beispiel indem elterliche Kompetenz entwertet wird und die Mutter als vertrauensunwürdig dasteht, oder auch dadurch, dass nun eine Expertin im Hause ist, von der eine Mutter lernen soll wie sie richtig einkauft, kocht und füttert. Das erspart Adressaten zwar Recherchen im eigenen Netzwerk, muss aber unter Umständen mit größerem Gesichtsverlust bezahlt werden - nicht erst wenn es den Nachbarn auffällt. Diese „systemische“ Hilfeform hat zudem den selbstreferentiellen Bias, nur das als mögliche Hilfeleistung zu erkennen oder zuzulassen, was im System gewissermaßen zulässig oder vorrätig ist.

Am Beispiel der Adoption, wie sie bei den Maoris in Neuseeland gepflegt wird, lässt sich das illustrieren. In der traditionellen Maori-Gesellschaft wurden Kinder nicht als Eigentum ihrer Eltern betrachtet, sondern eher als Mitglieder des Stammes. Die Verantwortung für ihre Erziehung wurde geteilt. Kinder wurden nicht selten von anderen als den biologischen Eltern großgezogen. Diese „Adoption“ nennen die Maoris „Whangai“ und meinen, dass Kinder einen Platz in mehreren Familiensystemen haben (vgl. Love 2005, S. 17). Obwohl das mittlerweile auch in Deutschland bei individualisierten Patchworkfamilien häufig so sein soll, passt es überhaupt nicht zur modernen juristischen Adoptionsvorstellung, die sich eher an ökonomischen Transaktionen orientiert und Adoption als Übergang des Eigentums von einem Besitzer zum anderen konzipiert. Kind zweier Familien zu sein, ist im juristischen Code ausgeschlossen, obgleich es lebensweltlich gesehen mitunter für Vieles eine Lösung sein kann.

Genau diesen Vorwurf, dass der Sozialstaat mittels seiner juristisch und wissenschaftlich geprägten Interventionsformen als „innere“ Kolonialisierung die äußere Kolonialisierung wiederhole, erhoben die Maoris gegen die Hilfeplanung im Entwurf des Children, Young Persons, and Their Families Act von 1989. Die darauf eingesetzte Expertenkommission produzierte in vielen landesweit durchgeführten Hearings Vorschläge zur Hilfeplanung, die Rechtsansprüche von Familien gewährleisten und gleichzeitig das Kolonialisierungsrisiko durch Experten- und Verwaltungskulturen minimieren sollten (Ministerial Advisory Committee on a Maori Perspective for the Department of Social Welfare 1988).

3. Hilfeplanung als Maßanzug: Der Familienrat

Claudia Marek, Mutter von zwei Jungen, ist Thema im Kollegenteam, seit Gernot, der Vierjährige, von der Mutter in die Klinik gebracht wurde und der Arzt wegen Unterernährung und Dehydration das Jugendamt eingeschaltet hatte. Frau Marek erzählt der Sozialarbeiterin vom ASD, dass sie eine gut sorgende Mutter sei, aber eben auch alleinerziehend, berufstätig und durch die Neurodermitis von Gernot besonders gefordert. Sowohl an der Arbeitsstelle als auch im Kindergarten fände sie wenig Unterstützung, aber sie bekäme es schon hin, ihre Kinder groß zu ziehen. Dazu brauche sie kein Jugendamt.

Die Sozialarbeiterin antwortet, sie sei sicher, dass Frau Marek eine gut sorgende Mutter sei, das zeige ja schon, dass sie Gernot ins Krankenhaus gebracht hätte. Sie wolle Frau Marek dabei helfen, mehr Unterstützung von Arbeitgeber und Kita zu bekommen. Dann bietet sie ihr einen Familienrat an.

Der Familienrat als Verwaltungsverfahren nimmt das Wunsch- und Wahlrecht nicht nur ernst, sondern bestärkt die Souveränität von Bürgern, auch und gerade weil sie im Aufmerksamkeitsfokus von Jugendhilfe stehen. Mit dem Verfahren soll erreicht werden, dass Kinder in Familien sicher sind, weil Eltern, Verwandte, Freunde und Nachbarn sich für diese Sicherheit verantwortlich fühlen. Die Lösung einer Erziehungsproblematik soll Netzwerk-Engagement und bürgerschaftliche Selbstbestimmung so mit sozialstaatlichen Hilfen kombinieren, dass die Potenziale der Familie und ihres Netzwerkes nicht von Profileistungen absorbiert werden, sondern die Entscheidung und Leistung der Familie im Vordergrund stehen. Die Erfahrungen in Nordamerika, Skandinavien, Großbritannien, Australien, Holland und Neuseeland zeigen: Die „Sicherheit eines Kindes" und die Tatsache, dass Eltern ihre Familienangelegenheiten als verantwortungsvolle Bürger selbst regeln, widersprechen sich nicht (Sundell/ Vinnerljung 2004; Thomas 2004; Hamilton 2005; Baumann 2005; Sandau-Beckler 2003; Lupton / Stevens 1997, Wesp Jeugdzorg 2007). Denn durch das in Deutschland noch relativ unbekannte (in Deutschland hat der Familienrat im Rahmen von Projekten in verschiedenen Städten und Landkreisen Eingang in die Jugendhilfe gefunden: Berlin-Mitte, Braunschweig, Herford, Landkreis Kassel, Landkreis Nordfriesland, Landkreis Viersen, Landkreis Waldeck-Frankenberg, Main-Taunus-Kreis, Mühlheim/ Ruhr, Rosenheim, Stuttgart, im Arbeitsfeld Sozialpsychiatrie in Ravensburg) Verwaltungsverfahren gelingt es beeindruckend, Kinderschutzfälle mithilfe der Ressourcen von Familien und ihrer Netzwerke so zu lösen, dass Eltern und andere Bezugspersonen sich als Gestalter und Produktivkräfte des Prozesses erleben und die Fachkräfte des Jugendamtes gleichzeitig ihr Wächteramt erfüllen.

Das Verfahren wurde 1989 in Neuseeland als gesetzliches Hilfeplanverfahren im Children, Young Persons, and Their Families Act verankert und ist in allen Erziehungshilfefällen gesetzlich vorgeschrieben (§18 (1), CYP&F Act). Die „Family Group Conference", von uns mit „Familienrat" übersetzt, scheint eine überzeugende Antwort zu sein, wenn Fachkräfte zur Kenntnis nehmen müssen, dass es, in Anlehnung an ein afrikanisches Sprichwort und in Anerkennung aktueller bundesdeutscher Erfahrungen, „ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind zu schützen" (vgl. Früchtel 2002, Früchtel/Budde 2003, Staub 2005, Klünker/Nötzel 2007, Müller/Kriener 2008).

4. Die Vorbereitung

Der Familienrat trennt Wächteramt und Hilfeplanung, indem er durch eine Koordinatorin organisiert wird, die nichts mit der Fallarbeit zu tun und lediglich Verantwortung für eine lebensweltgeeignete Hilfeplanung hat. In der Vorbereitungsphase verdeutlicht er den unmittelbar betroffenen Familienmitgliedern die Prinzipien und den Ablauf: Möglichst viele Mitglieder der Familie und ihres Netzwerkes sollen teilnehmen, denn ein breiter Teilnehmerkreis erhöht die Vielfalt der verfügbaren Ressourcen. Alle Teilnehmer haben das Recht ihre Zustimmung zu einem Plan, der sie nicht überzeugt, zu verweigern, denn es geht um diskursive Willensbildung und konsensorientierte Entscheidungsfindung.

Die Koordinatorin versucht mit der Familie herauszufinden, wie deren Familientreffen üblicherweise ablaufen, und den Familienrat darauf abzustimmen. Das kann ein spezieller Ort als Treffpunkt sein, der Beginn mit einem familientypischen Essen oder mit einem gemeinsamen Gebet oder die Anwesenheit des Imams. Das klingt erst einmal ungewöhnlich, laufen doch Hilfeplangespräche sozial und kulturell eher karg ab, macht aber Sinn, wenn man Raum für die Problemlösungskultur der Familie schaffen und Besitzerschaft an der Hilfeplanung erzeugen will. Die Organisation eines Heimspiels (vgl. Früchtel/Budde/Cyprian 2007, S. 29) ist ein wesentlicher Aspekt. In der Vorbereitungsphase steckt für die Koordination die meiste Arbeit (ca. 20 Arbeitsstunden). Gelingt sie, wird der Familienrat geradezu ein Selbstläufer.

Aufgaben der Koordinatorin, die nicht Problemberatungs- sondern Organisationsaufgaben innehat:

(vgl. MacRae/ Zehr, 2004, S. 26 - 29)

Die Rolle der teilnehmenden Fachkräfte beschränkt sich darauf, die Familie dabei zu unterstützen ihre eigene Lösung zu entwickeln. Das bedeutet für alle Fachkräfte, eine positive Erwartungshaltung an den Tag zu legen. Die zuständige Fachkraft des Jugendamtes verdeutlicht anhand von Fakten die „Sorge" (üblicher Begriff im Familienrat), die dazu geführt hat, dass das Jugendamt tätig wurde. Nachdem die Familie ihre Lösung entwickelt hat, prüft sie, ob der Plan der Familie ausreicht. Andere Fachkräfte, die beteiligt sind, stellen ihr Fachwissen zum Problem, zu den Stärken der Familie und zu den Ressourcen des Hilfesystems zur Verfügung, haben aber genauso wie die Kollegin vom ASD ihre eigenen Lösungsideen „einzuklammern", denn sie wissen, dass die selbst gefundene Lösung am besten passen und das meiste Engagement entzünden wird.

Frau Korn von Kidscare ist vom Jugendamt beauftragt worden, den Familienrat zu organisieren. Sie kündigt sich bei Frau Marek mit einem Brief an, in dem sie unterstreicht, dass sowohl Frau Jost vom Jugendamt als auch sie selbst sicher sind, Familie Marek wird eine gute Lösung für Gernot im Familienrat finden. Ihre Aufgabe als Koordinatorin sei die Beratung zur Organisation des Treffens. Der Brief weist darauf hin, dass es um die Lösung der Familie gehe und Frau Marek das Recht habe, solange „Nein" zu sagen, bis der ganze Plan zu ihrer Familie passt. Dem Brief liegt ein Flyer bei, der über Ziel, Ablauf und Prinzipien des Familienrates informiert.
Danach trifft sich die Koordinatorin mit der Mutter, wiederholt die Informationen ihres Briefes und beratschlagt mit ihr die Zusammenstellung der Teilnehmer. Wer von den Verwandten und Freunden hat das Vertrauen von Frau Marek und kann ihr im Alltag mit ihren beiden Jungen helfen? Eine Netzwerkkarte (vgl. Budde/ Früchtel 2006, Herwig-Lempp 2004) macht deutlich: Frau Marek verfügt nicht nur über eine große Verwandtschaft, vor der Geburt ihrer Kinder war sie auch in der Gymnastik- und Kegelabteilung aktiv und hat auch bei den Falken mitgearbeitet. Außerdem war sie Sängerin und Gitarristin in einer Band. Die Koordinatorin schlägt noch vor, eine Erzieherin aus dem Kindergarten und einen Kinderarzt hinzuzuziehen. Er könne die Familie zu Ernährungsfragen informieren, weil hierzu das Jugendamt eine Lösung fordere. Einladung und Vorbereitung der ins Auge gefassten Teilnehmer teilen sich Mutter und Sozialarbeiterin auf. Weil ihre Zwei-Zimmerwohnung zu klein ist, soll der Familienrat im Vereinsheim stattfinden. Dort kennt sich Frau Marek aus. Wie bei früheren Heimspielen der 1. Damenmannschaft soll das Treffen mit Kaffee und selbstgebackenen Apfel-Kirsch-Kuchen beginnen - einer Spezialität aus dem Hause Marek.

Ablauf des Verwandtschaftsrates

5. Die Durchführung

Die Koordinatorin begrüßt die Anwesenden und bedankt sich für das Kommen der Familienmitglieder, Freunde und Fachkräfte. Nachdem sich alle vorgestellt haben, erklärt sie den Grund des Zusammentreffens: Das Jugendamt ist besorgt um die Ernährung von Gernot und Kai und um Frau Marek, die als Mutter und Kassiererin im Supermarkt wirklich viel zu leisten hätte. Heute ginge es darum, einen Plan zu entwickeln, der sicherstellt, dass es Gernot, Kai und Frau Marek gut geht.

Dann bittet die Koordinatorin Frau Jost zu erklären, was das Jugendamt erwartet. Diese verweist auf die erhaltene Meldung vom Krankenhaus, die dort festgestellten Anzeichen einer Mangelernährung, schildert ihr Gespräch mit Kita-Personal und erläutert das Problem mit der Neurodermitis-Diät, die im Kindergarten nicht zu haben sei. Das Jugendamt könne mit sozialpädagogischen Unterstützungsmöglichkeiten helfen und erwarte einen sicheren Plan für die Kinder. Sie sei überzeugt, dass die Familie diesen sicheren Plan entwickeln könne. Ihr Statement ist gut vorbereitet, bringt alle wesentlichen Dinge auf den Punkt und dauert nur drei Minuten. Darauf kommt es an.

Die Erzieherin beschreibt die Jungen als pfiffige Kerle, die von Anfang an gut in der Gruppe integriert gewesen seien. Nach ihrer Überzeugung seien Kai und Gernot altersgemäß entwickelt. Die Erzieherin berichtet aber auch von den Fehlzeiten, den leeren Kindergartentaschen, temperamentvollen Auseinandersetzungen mit Frau Marek und von ihrem Eindruck, dass die Mutter zwar engagiert, oft aber mit Kräften und Nerven am Ende gewesen sei, wenn sie die Jungen mit reichlicher Verspätung vom Kindergarten abgeholt hat.

Der Kinderarzt berichtet von den medizinischen Befunden. Sie deuten auf eine Mangelernährung hin, die unterschiedliche Ursachen haben könne. Er klärt darüber auf, wie eine geeignete Diät die Neurodermitis-Symptome eindämmen könne. Dazu verweist er auf die Ernährungsberatung der örtlichen AOK.

Kai und Gernots Verwandtschaftsrat

Die Koordinatorin gibt den Anwesenden Gelegenheit zu Nachfragen an die Profis und erläutert dann die Spielregeln des Familienrates: Das Treffen sei vertraulich, jeder dürfe hier zu Ende sprechen und es ginge nicht darum zu klären, was in der Vergangenheit nicht gut gelaufen sei oder wer daran schuld sei. Viel wichtiger wäre eine gute Lösung für die Zukunft. Sie schließt mit dem Auftrag an die Familie, nämlich einen Plan zu machen, der sicherstellt, dass es Gernot und Kai in der Familie gut geht. Der Plan muss eine Lösung für die Versorgung der Kinder mit Essen vorsehen. Die weitere gesundheitliche Entwicklung der Jungen muss überprüft werden. Dass die Familie das schaffe, da sei sie sich sicher.

6. Die exklusive Familienzeit

Haben die Teilnehmer keine weiteren Fragen an die Experten, beginnt die exklusive Familienzeit (Familiy-only-Phase). Hierzu verlassen alle Professionellen den Raum. Die Koordinatorin informiert darüber, wie sie erreicht werden kann. Die exklusive Familienzeit ist die für deutsche Sozialarbeiter ungewöhnlichste Phase. Die Fachkräfte des ASD müssen auf die liebgewordene Gewissheit, das Format der Hilfe mehr oder weniger subtil gestalten zu können, verzichten. Aber die exklusive Familienzeit weist unübersehbar darauf hin, dass es die Lebenswelt ist, die planen und entscheiden wird. Das ist ihr angestammtes Recht und wird ihr auch ohne Einschränkung zugetraut. Dass die Familien diese Verantwortung übernehmen und ihr gewachsen sind, belegen Auswertungen von 753 sog. „Eigenkracht-Konferenzen“ in Holland: Fast alle Familien kommen zu einem tragfähigen Plan, wobei die Familie und ihr Netzwerk 75 % ihrer Maßnahmen realisieren. Zwei Drittel der vereinbarten Maßnahmen werden vollständig umgesetzt. Auch in den Bereichen, in denen der Anteil der Profi-Leistungen überdurchschnittlich hoch ist, liegt der Realisierungsgrad nicht höher (Wesp Jeugdzorg 2004).

Insbesondere die Befürchtung in deutschen Jugendämtern, bei Kinderschutzfällen keinen Einfluss auf die Lösung zu haben, verkennt das Verfahren. Nachdem Familie und Freunde ihren Plan erarbeitet haben, wird der Familienrat mit der zuständigen Fachkraft des Jugendamtes und der Koordinatorin fortgesetzt. Hier präsentiert die Familie ihre Lösung, die nun von der Sozialarbeiterin des ASD dahingehend betrachtet werden kann, ob der Plan solide ist und die Sorge des Jugendamtes erfolgreich bearbeitet. Wurde eine Lösung für die Ernährung der Kinder gefunden? Sind Sicherungsschleifen eingebaut, damit auffällt, wenn irgendwer von den Vereinbarungen abweicht, und landen diese Informationen bei den zuständigen Stellen? Können diese Fragen nicht mit „ja“ beantwortet werden, so sieht das Verfahren vor, die Familie klar und respektvoll damit zu konfrontieren, dass die ASD-Fachkraft „Restsorgen“ hat. Diese Feststellung kann zu einem weiteren Auftrag führen, der eine erneute exklusive Familienzeit nach sich zieht.

Elemente eines soliden Plans

(vgl. Ashley 2006, S. 92)

Findet die Familie keine Lösung oder sind die zentralen Personen aus der Familie oder der zuständige Bezirkssozialarbeiter mit dem Plan auch nach Verbesserungsschleifen nicht einverstanden, wird das Scheitern des Familienrates festgestellt und von allen Anwesenden bestätigt. In diesem Fall muss das Jugendamt die Entscheidung treffen, die es für fachlich nötig hält und diese gegebenenfalls gerichtlich bestätigen lassen. Gewonnen ist auch in diesem Fall etwas: Die Familie hat erlebt, dass sie vom Jugendamt eine echte Chance bekommen hat, ihre eigene Lösung zu entwickeln. Sie hat erlebt, dass die Fachkräfte die Stärken und Ressourcen der Familie und ihrer Freunde wertschätzen und ihnen eine gute Lösung zugetraut haben. Dies hat, so unsere Erfahrung, positive Folgen für die Akzeptanz, mit der die Familie die fachlichen Entscheidungen der Fachkräfte aufnehmen wird. Dass ein Scheitern aber selten ist, beweisen holländische Zahlen: In 87,5 % der Fälle, in denen ein Familienrat geplant war, konnte er auch erfolgreich durchgeführt werden (vgl. Früchtel/Budde/Cyprian 2007, S. 57).

7. Der Plan

Die exklusive Familienzeit dauert nicht ganz zwei Stunden. In dieser Zeit haben sich die beiden Sozialarbeiterinnen mit Akten und Fachzeitschriften beschäftigt. Die anderen Fachkräfte wurden entlassen. Der Familienrat schafft in Bezug auf Zuständigkeiten Klarheit. Verantwortlich für die Kinder sind ihre Familie und deren Netzwerk. Der Plan überzeugt die Sozialarbeiterin des ASD insbesondere in den Punkten:

  1. Kindertagesstätte: Lena, Frau Mareks Nachbarin, selbst Mutter eines vierjährigen Mädchens, wird Gernot und Kai jeden Montag, Donnerstag und Freitag in den Kindergarten bringen und abholen. Das passt am besten zu ihrer Arbeitszeit und entlastet sie dienstags und mittwochs, wenn Frau Marek „dran“ ist.
  2. Ernährung: Ein großes Problem war, dass der Ganztageskindergarten kein geeignetes Essen für Gernot bieten konnte. Das sei nicht hinnehmbar meint der eingeladene Gemeinderat, den Frau Marek zum eigenen Netzwerk gezählt hat. Noch aus dem Familienrat telefoniert er mit dem Träger der Kindertagesstätte und dem Essenszulieferer mit Erfolg: Gernot wird seine Diät bekommen und es lässt sich sogar eine zusätzliche Portion in einen „Henkelmann“ abfüllen. Das wird die Mutter abends entlasten. Der Kindergarten muss das nicht umsonst machen. Frau Marek bietet ihre Mitwirkung in der musikalischen Früherziehung an.
  3. Verspätung: Dienstags wird Chris Wolf, die Kollegin im Supermarkt, sicherstellen, dass Frau Marek „pünktlich rauskommt“. Sie wird mit dem Chef reden und notfalls auch die Schicht tauschen.
  4. Stärkung der Mutter: Am Mittwoch und an jedem ersten Wochenende des Monats übernehmen die Großeltern die Betreuung der Jungen. Am Mittwochabend hat Frau Marek „Ausgang“ und will ihre Freundschaften pflegen oder auch mal tanzen gehen.

Die vier Bausteine des Plans sollen sofort umgesetzt werden.

Ein für den ASD zentraler Punkt fehlt jedoch. Wie, fragt die Sozialarbeiterin, will die Familie sicherstellen, dass die Kinder auch gesundheitlich gut versorgt werden. Sie bittet die Familie den Plan entsprechend zu ergänzen. Die Reaktion der Familie ist deutlich. Offenbar wird damit ein kontroverses Thema der exklusiven Familienzeit berührt. Aber auch hier findet sich eine Lösung mithilfe des Schulfreundes der Mutter. Erneut greift Gemeinderat Weiss zum Telefon und vereinbart mit dem Träger, dass die Kita-Leiterin sich die Kinder regelmäßig ansieht und der zuständigen Sozialarbeiterin einmal im Monat berichtet. Generell soll gelten: Tauchen bei den Mitarbeiterinnen der Kita Unsicherheiten auf, dass es Kai oder Gernot gut geht, sucht die Kita-Leiterin sofort den Kontakt zum Jugendamt.

Schließlich richtet die ASD-Sozialarbeiterin noch die Bitte an die Familie, auch ein waches Auge auf die Kinder zu werfen. Vereinbart wird, dass die Großmutter alle zwei Wochen bei Frau Jost anruft und die Sozialarbeiterin auf dem Laufenden hält. Nach drei Stunden wird der Plan von allen Anwesenden unterschrieben. Ein Familienrat in einem Kinderschutzfall ist beendet.

8. Zusammenfassung

Der Familienrat als Verwaltungsverfahren setzt das Recht ein, um der Lebenswelt Kompetenzen der Rechtsausübung zu verschaffen. Die Rechtsansprüche auf Kinderschutz und Hilfe zur Erziehung stellen sicher einen enormen historischen Fortschritt dar, aber die Verrechtlichung des Lebensrisikos „Erziehungsproblem“ fordert den Preis von umstrukturierenden Eingriffen in die Lebenswelt der Berechtigten. Denn der grundrechtliche Schutz des Kindeswohls kann administrativ nur garantiert werden, je wirksamere Eingriffmöglichkeiten dem Staat in die Privilegien der Eltern eingeräumt werden.

In der Konsequenz ergibt sich aus der Struktur des Leistungsrechts die Notwendigkeit, genau spezifizierte Tatbestände als individuelle Rechtsansprüche zu formulieren. Damit kann nicht präventiv auf die Verursachung reagiert werden (z.B. isolierende Wohnsituation, Doppelbelastung durch Mutterschaft und Erwerbstätigkeit, Arbeitszeiten, rigide Regelsysteme der Kinderbetreuung, Isolation durch das Alleinerziehen,…), sondern die leistungsrechtliche Subsumtion macht eine selektive Bearbeitung notwendig, indem das Hilfesystem diejenigen Aspekte der Notlage auswählt, die administrativ bearbeitbar sind: Ernährung, medizinische Überwachung, Kita-Besuch und z.B. nicht: Partner- und Kontaktsuche, nachbarschaftliche Solidarität usw. So wird ein Netz von Klientenverhältnissen über private Lebensbereiche geworfen, das lebensweltliche Einbindungen tendenziell eher entwertet oder abschirmt als stärkt.

Tatsächlich bestehen aber in Familiengruppen „Kinderschutznormen“, die um wirksam zu werden, auf verständigungsorientierte kommunikative Kontrolle und Verstärkung in der Lebenswelt angewiesen sind. Eigentlich müssten - so Habermas (1982, S. 544f) - an die Stelle des Rechts Verfahren der Aushandlung, der diskursiven Willensbildung und konsensorientierten Entscheidungsfindung treten, um Lebensbereiche, die auf soziale Integration durch Werte und Normen angewiesen sind, davor zu schützen, dass sie auf eine rechtsförmige Steuerung umgestellt werden, die für sie dysfunktional ist, weil Rechtsansprüche mit den Mitteln des Rechtes durchgesetzt, Gleichbehandlung zu Standardisierung und die Sorge eines Jugendamtes zum institutionalisierten Misstrauen werden (vgl. Mörsberger/Restemeier 1997). Die Family Group Conference ist nach Hayes und Houston (2007, S. 1003) eine verwaltungstaugliche Möglichkeit für die Verwaltung lebensweltliche Perspektiven wahrzunehmen, indem sie gewissermaßen ein Resonanzboden für lebensweltliche Schwingungen wird und nicht nur technischer Umsetzer von Gesetzen: „As such, FGCs are a microcosm of exchange within the ‘lifeworld’ - of ‘will formation’ that produces a communicative power to influence the enactment of statutory processes within formal child protection. It is within this context that the law acts a medium to link ‘lifeworld and ‘system’ and to channel the expression of families’ interests and needs.” (ebd., S. 996)

Oder, wie das eine Berliner Großmutter nach einem Familienrat ausdrückte: „Ick wa in drei Heime und hab vier Jören selbst uffjezogn. Dabei wa mir ditt Jugendamt nie ne echte Hilfe. Jetzte kommse uff eenmal uff de Idee, mir zu fragn. Natürlich kann ick watt für die Jungens tun. Ick frag mich nur, warum die erst jetzte fragn.“

Literatur

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Der Artikel wurde zuerst veröffentlicht in:
Jugendhilfe, 46. Jg., Juni 3/ 2008, S. 121 - 130


Zitiervorschlag

Budde, Wolfgang und Frank Früchtel (2009): Familienrat: Bürger statt Klienten in der sozialräumlich inspirierten Hilfeplanung. In: sozialraum.de (1) Ausgabe 2/2009. URL: https://www.sozialraum.de/familienrat.php, Datum des Zugriffs: 23.11.2024