Gemeinwesenarbeit in und mit Nachbarschaften in der Postmoderne – eine studiengeleitete Skizze

Patrick Oehler, Nadine Käser, Matthias Drilling, Olaf Schnur

In diesem Beitrag wird angeregt, das Thema Nachbarschaft wieder expliziter in der Gemeinwesenarbeit zu verhandeln. Ausserdem wird perspektivisch ein weiter zu entfaltendes Modell skizziert, an dem sich Professionelle orientieren können, die in und mit Nachbarschaften in sich permanent im Wandel befindenden Städten arbeiten. Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist die vom vhw – Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung in Auftrag gegebene und mittlerweile abgeschlossene Pilotstudie „Potenziale postmoderner Nachbarschaften" [1] (vgl. Drilling et al. 2016 und Drilling/Oehler/Käser 2017). Damit knüpft der Beitrag an dieser Studie an, reicht aber gleichzeitig über sie hinaus und fokussiert dabei besonders auf die Gemeinwesenarbeit als Handlungsfeld und Arbeitsprinzip.

Es war einmal… GWA und Nachbarschaft

Ein Blick in die Praxis- und Theoriegeschichte der Gemeinwesenarbeit (GWA) zeigt unmissverständlich, dass sich GWA seit ihrer Entstehung mit Nachbarschaften beschäftigte bzw. in und mit Nachbarschaften arbeitete. Noch pointierter formuliert: GWA als sozialräumliches Handlungsprinzip hat ihren Anfang in der Nachbarschaftsarbeit genommen – in der Settlement-Bewegung – und sich von dort aus konzeptionell und methodisch erweitert und in andere Arbeitsfelder wie die Stadtentwicklung hinein bewegt (Boulet/Krauss/Oelschlägel 1980, 17ff.; Oehler/Drilling 2016).

Gleichwohl wurde im deutschsprachigen Diskurs zur GWA (der vor allem innerhalb der Sozialen Arbeit geführt wird) bis vor kurzem relativ wenig auf den Begriff Nachbarschaft Bezug genommen; vielmehr wird als Bezugsrahmen für die GWA in der Literatur auf „Gemeinwesen“, respektive „grössere soziale Systeme“, „Quartiere“, „Stadtteile“, „soziale Netzwerke“, „Lebenswelten“ und, im Moment besonders en vogue, auf „Sozialräume“ verwiesen. Zweifellos lassen sich alle diese Begriffe und Konzepte mit Nachbarschaften verbinden, doch machen sie das Thema Nachbarschaft nicht explizit und lassen es sozusagen als soziales Phänomen und als „Gegenstand“ der GWA theoretisch und handlungsleitend unterbelichtet. Auf den Punkt gebracht: obwohl die Praxis der Gemeinwesenarbeit in den meisten Fällen in und mit Nachbarschaften arbeitet, und diese (neben anderen Akteursgruppen) für GWA-Projekte und deren Erfolg strategisch von hoher Relevanz sind, wird das Thema Nachbarschaft in der Literatur und Forschung zur GWA, geradezu marginal verhandelt. [2] Dies mit der Konsequenz, dass das nachbarschaftsbezogene Arbeiten weitgehend ohne spezifische bzw. ausreichende theoretische Fundierung zu diesem Thema erfolgt. Es fehlt an theoretischem Orientierungswissen, das hilft auf praxisrelevante Fragestellungen wie zum Beispiel „was bedeutet Nachbarschaft heute unter postmodernen gesellschaftlichen Bedingungen?“ und „was sind sinnvolle Zielsetzungen der GWA im Hinblick auf Nachbarschaften in sich rasch wandelnden Stadtgebieten?“ schlüssige und theoriebasierte Antworten zu finden.

Aufgrund der Tatsache, dass die Themen Nachbarschaft und Gemeinschaft im Kontext von Stadtplanung, Siedlungsentwicklung und Quartierarbeit in den letzten Jahren vermehrt aufgegriffen, ja teilweise geradezu als Kernthema der Zukunftsstrategie für städtisches Wohnen und Leben von unterschiedlichen AkteurInnen (städtische Verwaltungen, Wohnbaugenossenschaften, zivilgesellschaftlichen soziale Netzwerke etc.) programmatisch vorangetrieben werden (Stichworte dazu sind etwa „gemeinschaftliches Wohnen" oder „Netzwerk für gute Nachbarschaft") ist jedoch zu erwarten, dass das Thema Nachbarschaft auch wieder in der Theorie zur GWA vermehrt verhandelt wird – nicht zuletzt auch, weil der Diskurs um Nachbarschaften in anderen sozial- und geisteswissenschaftlichen Bereichen ebenfalls bereits neu lanciert wurde (vgl. hierzu exemplarisch etwa Bartmann/Dürr/Lehmann 2011; Evans/Schahadat 2011; Reutlinger/Stiehler/Lingg 2015; Schnur 2012).

Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt wurde (vgl. Drilling et al. 2016, Schnur 2016, 6ff.) erleben wir zurzeit eine Revitalisierung von Nachbarschaft: zum einen in der Realität von Städten, wo Nachbarschaft in zunehmendem Masse von unterschiedlichen AkteurInnen – teils auch mit unterschiedlichen Zielsetzungen – als eine soziale Praxis beansprucht und inszeniert wird, zum anderen in der Wissenschaft, in der versucht wird, die Idee oder das Konzept von Nachbarschaft für den heutigen Kontext aus einer theoretischen Perspektive zu reformulieren und zu klären.

Beide Trends legen nahe, auch im GWA-Diskurs wieder stärker am Thema Nachbarschaften anzuknüpfen und dieses aus eigener Perspektive, im Hinblick auf die professionelle Praxis, zu beleuchten. Doch bevor dies hier exemplarisch versucht wird, soll zunächst jedoch noch einmal – mit Rückgriff auf die Ergebnisse der Pilotstudie – in groben Zügen umrissen werden, was sich eigentlich hinter dem komplexen Konzept von Nachbarschaft verbirgt, respektive was darunter in der Forschung zu Nachbarschaft, aber auch in der Praxis der GWA (Nachbarschaftshäuser, Quartiersmanagement-Büros) verstanden wird.

Nachbarschaft unter postmodernen Bedingungen

Das Phänomen der Nachbarschaft ist analytisch schwer zu fassen, da die Vorstellungen und Konzepte, die dazu gemacht werden, immer kontextbedingt sind (historisch, kulturell, sozial, geographisch etc.). In der Vormoderne des Mittelalters etwa war die Vorstellung von Nachbarschaft durch den Alltag in der ländlichen Dorfgemeinschaft geprägt. Nachbarschaft definierte sich hauptsächlich über die räumliche Nähe des Wohnortes sowie die gegenseitige Hilfe und Unterstützung im Alltag und in Notsituationen. Nachbarschaft war sozusagen selbstverständlich über das nebeneinander Wohnen als eine soziale Tatsache gegeben. Im Gegensatz zu diesem vormodernen Verständnis von Nachbarschaft, bildete sich ab Ende des 19. Jahrhunderts in der Theorie und Praxis des Städtebaus und der Architektur die Idee heraus, dass sich die soziale nachbarschaftliche Interaktion in der modernen städtischen Wohnumgebung nicht mehr „natürlich“ einfach so über die räumliche Nähe ergibt, sondern dass diese nun bewusst geplant und baulich gefördert werden könne oder müsse. Diese moderne Vorstellung von Nachbarschaft als etwas Plan- und Beeinflussbares wurde im Verlauf der Zeit mit unterschiedlichen sozialen und städtebaulichen Utopien verbunden und bestimmte so immer auch wieder die Planung und Gestaltung von Siedlungen und Stadtteilen der wachsenden Städte ab der Industrialisierung. Das moderne Verständnis von Nachbarschaft bezog sich somit nach wie vor auf eine räumliche Nähe, basierte aber zunehmend auf der Vorstellung von Nachbarschaft als eine bestimmte Qualität sozialer Interaktion, die durch äussere Faktoren beeinflusst wird und nicht einfach selbstverständlich gegeben ist.

Mit dem Übergang in die Gesellschaft der Spät- oder Postmoderne (und die postindustrielle Stadt), kommt es zu einer Vervielfältigung von Lebens- und Wohnstilen und zu einer hochmobilen und beschleunigten sozialen Welt mit neuen Unsicherheiten, die zu einem Ausgangspunkt für einen neuen Paradigmenwechsel hinsichtlich der Vorstellung und Bedeutung von Nachbarschaft werden und diese in den gesellschaftlichen Kontext der Postmoderne stellt. Er reicht nun nicht mehr, Nachbarschaften einfach nur als soziale Tatsache zu verstehen bzw. diese nach bestimmten Regeln planen und gestalten zu wollen. Vielmehr fordert der aktuelle wissenschaftliche Diskurs zu Nachbarschaften dazu auf, Nachbarschaften vor dem Hintergrund der sie bestimmenden gesellschaftlichen Kontexte und der ihr inhärenten Eigenlogiken, die allerdings immer erst auch vor Ort rekonstruiert werden müssen, wahrzunehmen. Radikal formuliert: Was Nachbarschaft ist, lässt sich nicht mehr abschliessend klären, sondern muss in einem offenbleibenden Diskurs immer wieder unter Einbezug der (potentiellen) Nachbarinnen und Nachbarn bestimmt werden. Für den Städtebau ist dies höchst anspruchsvoll, da der Leitsatz „wir planen und gestalten für die Nachbarschaft“ eine völlig neue Bedeutung erhält, indem die Nachbarschaft nicht mehr nur Objekt ist, sondern über eine Partizipation bei der Planung zu einem Teil des Subjekts, des Wir, wird. DIE Nachbarschaft gibt es nicht mehr, sondern wir befassen uns mit einer mehrdeutigen und prozesshaften sozialen Realität, welche eine differenzierte und den Erkenntnisprozess offenlassende Betrachtung des Phänomens Nachbarschaft voraussetzt (vgl. Drilling et al. 2016, 317-319).

Nachbarschaft als „Gegenstand“ der Praxis

Neben einer systematischen Aufarbeitung und Interpretation des aktuellen Forschungsstandes zum Thema Nachbarschaft wie er sich in der Literatur abbildet (vgl. hierzu Drilling et al. 2016), ging es in der hier bereits erwähnten Pilotstudie „Potenziale postmoderner Nachbarschaften“ auch darum herauszufinden, wie heutige Nachbarschaften in der „Praxis“ von verschiedenen städtischen AkteurInnen wahrgenommen werden und inwiefern das Thema Nachbarschaft aus deren Perspektive relevant ist. Um etwas über die Relevanz und Wahrnehmungen von Nachbarschaften aus Sicht der Praxis zu erfahren, wurden mit AkteurInnen aus der Verwaltung (Stadtplanung, Koordination), der Quartiersarbeit, aus zivilgesellschaftlichen Initiativen und von Wohnbaugesellschaften 18 qualitative Interviews (Einzel- und Gruppeninterviews) in vier verschiedenen Quartieren in drei Bezirken Berlins durchgeführt und ausgewertet (für die detaillierten Ergebnisse siehe Drilling/Oehler/Käser 2017, 46-68).

Aus der Analyse der Interviews geht deutlich hervor, dass das Thema Nachbarschaft für alle Akteursgruppen, unabhängig vom beruflichen Hintergrund und ihrer Funktion, eine sehr hohe Relevanz hat, auch wenn die Gründe dafür je nach AkteurInnen- und Ortsperspektive divergieren. Ebenso überwiegt bei den befragten Personen unisono ein Bild von Nachbarschaften als organisch gewachsene Strukturen, die heute zugleich aber auch sehr unbeständig, fluide und dynamisch geworden sind.

Aus dem Gebiet der Gemeinwesenarbeit und der Sozialen Arbeit wurden in der oben erwähnten Studie Fachpersonen aus dem Quartiersmanagement und von der Nachbarschaftsarbeit (Nachbarschaftshaus, Familienzentrum, Kontaktstelle) befragt. Sie sehen Nachbarschaften als eine wichtige Ressource, insbesondere auch vor dem Hintergrund von gesellschaftlichen Trends wie einer zunehmenden Digitalisierung, einer hohen beruflichen und privaten Mobilität, einer Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeitswelt, dem Rückgang staatlicher Leistungen (z.B. mit Fokus Altersarmut) und der baulichen und sozialen Neusortierung von Quartieren (Verteuerung von Wohnraum, Gentrifizierung, notfallbezogene Unterbringung von Flüchtlingen), geprägt ist.

Nachbarschaften werden von den interviewten Fachpersonen aus der GWA und der Sozialen Arbeit aber auch als wichtige zu beteiligende Adressatinnen für ihre alltägliche Arbeit verstanden. Daraus leiten sich dann Zielsetzungen für ihre Arbeit ab wie Nachbarschaften, bzw. einzelne Gruppen zielgruppengerecht zu aktivieren, zu vernetzen, zu informieren, zu sensibilisieren und an partizipativen Prozessen zu beteiligen, um so die jeweiligen Lebensräume gemeinsam zu gestalten und die gegenseitige Unterstützung zwischen den Menschen zu fördern. Gleichwohl gibt es aber bei den AkteurInnen der GWA und der Sozialen Arbeit eine Art Ausdifferenzierung im Hinblick auf das Verständnis und den Zugang zu Nachbarschaft, welche sozusagen im Selbst- und Arbeitsverständnis der jeweiligen AkteurInnen begründet sind. Während in den Quartiermanagementbüros das Verwaltungs- und Zuständigkeitsgebiet ihrer Tätigkeit und die Vorstellung, welche Bedeutung Nachbarschaft für ihre Arbeit hat, meist klar definiert sind, sehen Fachpersonen aus der Nachbarschaftsarbeit Nachbarschaft(en) vorwiegend als soziale Netzwerke von gegenseitiger Unterstützung und Hilfe. Folglich deuten die Fachpersonen aus den Quartiermanagementbüros ihre Rolle im Hinblick auf Nachbarschaften in erster Linie als Brückenfunktion zwischen der Verwaltung für das Gebiet und den Menschen, der Nachbarschaft, vor Ort. Ihre Aufgabe sehen sie darin, die Nachbarschaften zu befähigen, sich selbstständig für ihren Stadtteil einzusetzen und Verantwortung für ihr Wohnumfeld zu übernehmen. Im Unterschied dazu betrachten sich die Nachbarschaftsorganisationen vorwiegend als eine offene Anlaufstelle für alle Menschen, die in einer weniger territorial definierten Nachbarschaft leben. Jedoch wollen auch sie Ressourcen und Möglichkeiten zur Verfügung zu stellen, damit Menschen (befähigt werden) ihr Lebensumfeld selber aktiv gestalten zu können. Gleichzeitig handelt es sich bei den hier beschriebenen Ausdifferenzierungen mehr um arbeits- und funktionsbezogene Schwerpunktsetzungen, denn um strikte Trennungen. Sprich: auch das Quartiersmanagement dient als Anlaufstelle und versucht soziale Nachbarschaftsnetze zu unterstützen, und auch die Nachbarschaftsarbeit übernimmt Brückenaufgaben, in dem sie sich zwischen der Nachbarschaft und anderen AkteurInnen hin und her bewegen (vgl. Drilling/Oehler/Käser 2017, 53-64).

Gemeinwesenarbeit in und mit Nachbarschaften in der Postmoderne ist kompliziert

Aus den bisherigen Ausführungen kann festgehalten werden: Städtische Quartiere und Nachbarschaften sind heute in einem stetigen Wandel und es gibt keine allgemeingültige Vorstellung mehr, was eine (ideale) Nachbarschaft ist, für was Nachbarschaft gut ist und wozu und wie jemand am besten in und mit Nachbarschaften arbeitet. Nachbarschaft ist ein undurchsichtiger, diffuser, nicht fassbarer, fluider „Gegenstand“. Was „gute" Nachbarschaft an einem bestimmten Ort, in einem bestimmten Kontext bedeutet, ist letztlich immer wieder neu auszuhandeln, unter Einbezug der Beteiligten (auch wenn es zugleich wünschenswert, ja unerlässlich ist, dass Professionelle der GWA ein theoretisches Wissen zu Nachbarschaften haben, das sie in ihre Reflexion des Gegenstandes und ihr darauf bezogenes professionellen Handelns miteinbeziehen). Deshalb bedeutet in und mit heutigen Nachbarschaften professionell bzw. reflexiv zu arbeiten erstens, mit Ungewissheiten und Unklarheiten zu arbeiten und zweitens, im Hinblick auf Nachbarschaften deutungs- und handlungsoffen zu bleiben. Drittens erfordert Gemeinwesenarbeit, als ein strukturbezogenes, theoriegeleitetes und transformatives Handeln, das praktisch wirksam werden soll, aber auch normativ-ethische und fachliche Bezugspunkte, an denen sich Professionelle mit ihrem Denken, Fühlen und Handeln und in wechselnden Situationen immer wieder orientieren können. Nur so, mit solchen Bezugspunkten ausgestattet, können sie sich offen in den Strom des Ereignisses der sich wandelnden Nachbarschaft hineinbegeben und gleichzeitig wissen (und explizieren), was sie tun und weshalb.

Vier Orientierungspunkte für die praktische Arbeit in und mit Nachbarschaften heute

Um zu konkretisieren, was unter Orientierungspunkten für die GWA in und mit Nachbarschaften in der Postmoderne gemeint sein kann und wie diese im Hinblick auf eine professionelle Praxis inhaltlich gefüllt und miteinander verknüpft werden können, wird zum Abschluss ein exemplarisches Modell skizziert. Aufgebaut ist dieses Modell auf den bisherigen Ausführungen zu Gemeinwesenarbeit und Nachbarschaft in der Postmoderne sowie ersten Vorüberlegungen aus einem Artikel zu Nachbarschaft und Sozialer Arbeit (Oehler/Drilling/Guhl 2016) und einem in einer anderen Forschungsarbeit dargelegten demokratischen Professionsverständnis in Bezug auf die Soziale Arbeit (Oehler 2016).

Ausgegangen wird bei diesem Modell von den vier Orientierungspunkten Diagnose, Unterstützung, Gestaltung und Demokratie, wobei der Startpunkt und der Zyklus situativ angepasst werden können. Unabhängig von wo aus gestartet wird, sollten letztlich immer alle vier Dimensionen beim Schlussfolgern und Handeln im Blick behalten und ausbalanciert werden, da diese miteinander einen logischen Zusammenhang bilden und die eine Dimension immer auch wieder zur Grundlage der anderen wird bzw. sich diese jeweils gegenseitig voraussetzen.

Abbildung 1: Modell GWA und Nachbarschaft (Quelle: eigene Darstellung)
Abbildung 1: Modell GWA und Nachbarschaft (Quelle: eigene Darstellung)
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Der Orientierungspunkt Diagnose weist auf die Tätigkeit des Diagnostizierens, Wahrnehmens, des Erkennens, des Konstatierens, des Beobachtens, des Forschens und des Beurteilens hin. Zu den Aufgaben von Professionellen gehört immer auch eine Situation, ein Sachverhalt, ein Gegenstand, ein Problem vor dem Hintergrund des eigenen Fachwissens zu betrachten, zu interpretieren und zu beurteilen, und schliesslich auch Schlussfolgerungen zu ziehen, welches Handeln oder welche Intervention in diesem Fall empfehlenswert ist. Diese für Professionen charakteristischen Tätigkeiten des Diagnostizierens und Schlussfolgerns (vgl. Abbott 1999), sind auch in der GWA mit Blick auf Nachbarschaften unerlässlich, wenn die (Gemeinwesen-)Arbeit professionellen Standards genügen soll.

Auf der Grundlage von Diagnosen lassen sich dann auch begründete Rückschlüsse ziehen, was Nachbarschaft an einem bestimmten Ort bedeutet, wie sich dieses Phänomen dort zeigt, und wie diese Nachbarschaften – was den zweiten Orientierungspunkt markiert – unterstützt werden können. Also welche nützlichen Dienstleistungen für einen gelingenden Alltag oder zur Nachbarschaftsbildung zur Verfügung gestellt werden können, wer mit wem vernetzt und in Kontakt gebracht werden könnte, und was für Projekte angeregt oder selber initiiert werden sollten. Unterstützen wird hier immer relativ zeitnah gedacht, damit die Nachbarschaften die GWA als ein sinnvolles Format erfahren und zugleich experimentierend herausfinden können, wie sie das (immer auch begrenzte) Hilfsangebot der GWA am besten für sich nutzen (vgl. hierzu auch Müller 2012 und Oelschlägel 2001, 654).

Auf der anderen Seite gilt es in der GWA aber auch den Blick auf Gestaltungsmöglichkeiten und die Zukunft zu richten – womit wir beim dritten Orientierungspunkt angelangt sind – und damit Lebensverhältnisse (möglichst zusammen mit den Betroffenen) zu verändern bzw. auf die Planung und Entwicklung eines Quartiers oder einer Siedlung Einfluss zu nehmen (vgl. Drilling/Oehler 2016). Dazu können die Professionellen ihr Diagnose- und Fachwissen einbringen, zwischen verschiedenen AkteurInnen vermitteln oder eine faire Partizipation von verschiedenen Gruppen an Planungsprozessen ermöglichen.

Das Gestalten der (zukünftigen) Lebensverhältnisse unter Einbezug der Betroffenen leitet dann über zum vierten Orientierungspunkt der Demokratie. Dabei ist naheliegend von einem erweiterten Demokratieverständnis auszugehen, wie es Beispielsweise der Philosoph John Dewey in den 1920er Jahren skizziert hat. Dewey begreift Demokratie als eine Lebensform des friedlichen Miteinanders, bei der verschiedene Interessen diskursiv miteinander abgewogen werden. Lösungen für (öffentliche) Probleme in einer sich ständig wandelnden Gesellschaft sind das ausgehandelte Ergebnis von zu neuen Erkenntnissen führenden Dialogen, mit denen möglichst faire und für alle tragbare Lösungen, im Kleinen, aber auch im Großen, gefunden werden sollen. Dass eine solche auf Verständigung abzielende demokratische Praxis in unserer Gesellschaft nicht einfach und angesichts der bestehenden sozialen Ungleichheiten und unterschiedlicher Interessen nicht konfliktfrei ist, ist klar – das zeigen etwa auch die auf demokratische Deliberation abzielenden Beteiligungsprojekte des vhw (Kuder 2016). Doch da die „Kämpfe um Anerkennung" (Honneth 2003) ein wichtiger Bestandteil demokratischer Gesellschaften sind, sollte sich die GWA in und mit Nachbarschaften dadurch nicht beirren lassen, sondern mit ihnen arbeiten und den demokratischen Prozess in der Nachbarschaft und in der jeweiligen Stadt gerade auch damit weitertreiben, auch innerhalb des eigenen professionellen Handelns. Demokratie ist ein experimenteller (politischer) Lernprozess, dem ein emanzipiertes und zugleich gemeinschaftliches Menschenbild zugrunde liegt. Demokratie geht davon aus, dass es für öffentliche Probleme, sei dies auf Ebene Nachbarschaft oder einer grösseren Ebene wie einer Stadt, immer Lösungen gibt, die jedoch zuerst kreativ in einem Erkenntnisprozess gemeinsam entdeckt werden müssen. Aber unabhängig, auf welcher Ebene die Probleme und Lösungen gelagert sind, schreibt Dewey, dass die Demokratie zu Hause beginnen muss, „und ihr Zuhause ist die nachbarliche Gemeinschaft“ (Dewey 1996: 177).

Literatur

Abbott, Andrew (1999): The System of Professions. An Essay on the Division of Expert Labor. Chicago/London: University of Chicago Press.

Bartmann, Christoph/Dürr, Carola/Lehmann, Klaus-Dieter (Hrsg.). (2011): Illusion der Nähe? Ausblicke auf die europäische Nachbarschaft von Morgen. Göttingen: Steidl Verlag.

Boulet, Jaak/Krauss, Ernst J./Oelschlägel, Dieter (1980): Gemeinwesenarbeit. Eine Grundlegung. Bielefeld: AJZ-Druck Verlag.

Dewey, John (1996): Die Öffentlichkeit und ihre Probleme. Bodenheim: philo Verlagsgesellschaft.

Drilling, Matthias/Oehler, Patrick (2016): Soziale Arbeit und Stadtentwicklung aus einer planungsbezogenen Perspektive. In: Dies. (Hrsg.): Soziale Arbeit und Stadtentwicklung. Forschungsperspektiven, Handlungsfelder, Herausforderungen. Wiesbaden: Springer VS, 78-109.

Drilling, Matthias/Schnur, Olaf/Käser, Nadine/Oehler, Patrick (2016). Postmoderne Nachbarschaften – ein stadtentwicklungspolitisches Handlungsfeld?. In: Forum Wohnen und Stadtentwicklung, Nr. 6/2016, 317-321.

Drilling, Matthias/Oehler, Patrick/Käser, Nadine (2017): Potenziale postmoderner Nachbarschaften. Eine Pilotstudie im Auftrag des Bundesverbands Wohnen und Stadtentwicklung e.V. Berlin. Basel: Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung ISOS, Hochschule für Soziale Arbeit FHNW.

Evans, Sandra/Schahadat, Schamma (Hrsg.) (2011): Nachbarschaft – Räume – Emotionen. Interdisziplinäre Beiträge zu einer sozialen Lebensform. Bielefeld: transcript.

Honneth, Axel (2003): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Berlin: Suhrkamp.

Kuder, Thomas (2016): Starke Lokale Demokratie: Leitlinien für eine hochwertige, inklusive Bür-gerbeteiligung. vhw-werkSTADT Nr. 8. Berlin.

Müller, Burkhard (2012): Beziehungsarbeit und Organisation. Ein Interpretationsversuch zur Theorie des sogenannten „Functional Social Work“. In: Ders.: Professionell helfen: Was das ist und wie man das lernt. Die Aktualität einer vergessenen Tradition Sozialer Arbeit. Ibbenbüren: Münster Verlag, 48-63.

Oehler, Patrick (2016): Demokratie und Soziale Arbeit. Entwicklungslinien und Konturen demokratischer Professionalität. Dissertation, Freie Universität Berlin (erscheint demnächst in Wiesbaden im Springer VS Verlag).

Oehler Patrick/Drilling, Matthias (2016): Soziale Arbeit, Gemeinwesenarbeit und Stadtentwicklung. Eine theoriegeschichtliche Spurensuche. In: Drilling, Matthias/Oehler, Patrick (Hrsg.): Soziale Arbeit und Stadtentwicklung. Forschungsperspektiven, Handlungsfelder, Herausforderungen. Wiesbaden: Springer VS, 13-41.

Oehler, Patrick/Drilling, Matthias/Guhl, Jutta (2016): Nachbarschaft – Reformulierung eines Konzeptes von Sozialer Arbeit im Kontext der unternehmerischen Stadt. In: Oehler, Patrick/Thomas, Nicola/Drilling, Matthias (Hrsg.): Soziale Arbeit in der unternehmerischen Stadt. Kontexte, Programmatiken, Ausblicke. Wiesbaden: Springer VS, 23-40.

Oelschlägel, Dieter (2001): Gemeinwesenarbeit. In: Otto, Hans-Uwe/Thiersch, Hans (Hrsg.): Handbuch der Sozialarbeit/Sozialpädagogik. Neuwied, Kriftel: Luchterhand, 653-659.

Reutlinger, Christian/Stiehler, Steve/Lingg, Eva (Hrsg.) (2015): Soziale Nachbarschaften. Geschichte, Grundlagen, Perspektiven. Wiesbaden: VS Verlag.

Schnur, Olaf (2012): Nachbarschaft und Quartier. In: Eckardt, Frank (Hrsg.): Handbuch Stadtsoziologie. Wiesbaden: VS Verlag, 449-474.

Schnur, Olaf (2016): Urbane Vielfalt und Kohäsion – zwischen Moderne und Postmoderne. Eine Verortung der Forschungsperspektive des vhw. vhw-werkSTADT Nr. 3. Berlin.


Fussnoten

[1] Bei der Pilotstudie "Potenziale postmoderner Nachbarschaften" handelt es sich um eine explorative Studie, die im Auftrag des Bundesverbands Wohnen und Stadtentwicklung e.V. von 2016 bis 2017 vom Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung ISOS, Hochschule für Soziale Arbeit FHNW Basel in Quartieren bzw. Bezirken in Berlin durchgeführt wurde. Das Ziel dieser Pilotstudie war die Relevanz und die Bedeutung von Nachbarschaften im aktuellen gesellschaftlichen Kontext, der unter Bezugnahme auf aktuelle philosophische und sozialwissenschaftliche Theorieangebote zum Beispiel als „postmodern“ beschrieben werden kann, besser zu verstehen, um basierend auf diesen neuen Erkenntnissen, einen Beitrag zur Stärkung der Bürgergesellschaft, der lokalen Demokratie und der sozialen Kohäsion in den Städten und Quartieren leisten zu können. Die Studie ist online zugänglich unter: www.vhw.de/publikationen/studien-befragungen/.

[2] Als eine bemerkenswerte Ausnahme, die auch anschlussfähig an die GWA ist, lässt sich hier auf Reutlinger/Stiehler/Lingg 2015 hinweisen.


Zitiervorschlag

Oehler, Patrick, Nadine Käser, Matthias Drilling und Olaf Schnur (2017): Gemeinwesenarbeit in und mit Nachbarschaften in der Postmoderne – eine studiengeleitete Skizze. In: sozialraum.de (9) Ausgabe 1/2017. URL: https://www.sozialraum.de/gemeinwesenarbeit-in-und-mit-nachbarschaften-in-der-postmoderne.php, Datum des Zugriffs: 18.04.2024