Quartiergeschichten und das Leben im Alter greifbar machen – Erfahrungen aus einer Luzerner Quartierforschungswerkstatt

Simone Gretler Heusser

Hier habe ich mein erstes Geld verdient, als Kind. Ich wollte ein Velo kaufen. Da habe ich leere Flaschen gesammelt und sie hier abgegeben, da gab’s Flaschenpfand, hier war ein Getränkehandel. So habe ich mein erstes Geld verdient.

Wir waren eine der ersten Familien, die hierher gezogen ist, 1935, da war ich sieben Jahre alt. Da gab es natürlich dieses ganze Quartier noch nicht, da waren drei Bauernhöfe, sonst nichts.

Ich finde es wunderbar, wie das Seeufer nun aufgewertet worden ist, dass man von ganz zuhinterst im Quartier im Prinzip bis zum Bahnhof spazieren kann! [1]

1. Einblicke in eine praktische Quartierforschendengruppe

Es ist ein kühler Samstagvormittag im Mai. Eine Gruppe von 15 Personen aus dem Luzerner Tribschenquartier wandert strammen Schrittes die so genannte „Wartegg-Rippe“ hinauf. Den Einen gefällt das an den Hang geschmiegte, langgezogene Mehrfamilienhaus, den Anderen kommt es eingezwängt vor. Die Baugenossenschaft, welche hier am Werk ist, ersetzt die alten, noch weiter auseinander stehenden Bauten kontinuierlich mit verdichteten und gleichzeitig komfortabler ausgestatteten Wohnhäusern. Die alten Häuser stehen mittlerweile leer, Bauschutt und Erdwälle türmen sich. Ein kleines Apfelbäumchen blüht einsam und trotzig auf einer Wiese; die Beete der ehemaligen Nutzgärten sind noch erkennbar, Brombeerranken und Johannissträucher, auch Tulpen und Narzissen, doch die einzige Betrachterin außer unserer Gruppe ist heute eine Katze mit rotgetigertem Fell.

Die Steigung ist geschafft, nun wird der Blick frei auf ein kleines, herrschaftliches Gut. Die Quartierbewohnerinnen und -bewohner diskutieren, wie das Gut heiße und wem es gehöre. Verschiedene Namen und Bezeichnungen, An- und Enteignungsgeschichten fliegen hin und her. Auch wurde das Anwesen über die Zeit hinweg offensichtlich unterschiedlich genutzt, zuletzt von der Musikschule und einer Abteilung der städtischen Verwaltung.

So geht es weiter an diesem Samstagmorgen, über drei Stunden lang. Zwei Personen, die seit einem halben Jahr in freiwilligem Engagement in einer Spurgruppe für dieses Quartier mitgewirkt haben, haben den heutigen Spaziergang vorbereitet. Sie haben dafür gesorgt, dass die Gruppe einige interessante Orte und Menschen besser kennen lernen kann. Vieles kennen sie schon und haben es noch genauer recherchiert, an einigen Stationen haben sie einen Gast zu einem kurzen Austausch mit den Spazierenden eingeladen. Das alte Industrieareal, welches auch den oben erwähnten Getränkehandel beheimatet hat – davon zeugt noch ein Schild in geschwungener Schrift – wird heute von kreativ-alternativen Start Ups aus der Grafik- und Musikbranche und einem Brockenhaus belebt, welche jederzeit den perfekten Hintergrund für ein Retro-Mode-Fotoshooting abgeben würden.

In der Nähe befindet sich Luzerns Straßenstrich-Szene, von der man aber am Vormittag – zum Bedauern einiger der Teilnehmenden – nichts sehen kann. Ebenfalls im selben Straßengeviert steht die Gassenküche, welche Süchtigen neben einer kostengünstigen und gesunden Mahlzeit auch Duschen und eine Waschmaschine, eine Bibliothek mit Sofa und eine Gesprächsmöglichkeit mit einem Mitarbeitenden bietet. Ein paar Minuten weiter wartet der Bewohner einer Genossenschaftswohnung in einem romantisch überwachsenen Innenhof, um die Gruppe über die verschiedenen hier praktizierten Wohnmodelle zu informieren. Vorbei an einer graffitiverzierten Kegelbahn, über Schleichwege und kleine Treppen geht es so weiter zu bemerkenswerten Quartierstationen.

Die Spazierenden äußern sich zu den Busverbindungen in die Stadt und den abnehmenden Einkaufsmöglichkeiten für den täglichen Bedarf im Quartier. Für einen Teilnehmer ist es klar, dass hier Arbeitsintegrationsprojekte lanciert werden müssten. Die Quartierspaziergänger lernen den Raum kennen, wo im Winterhalbjahr einmal wöchentlich ein Mittagstisch für Senior*innen stattfindet, organisiert von Freiwilligen der römisch-katholischen und der reformierten Kirche, offen für alle. Eine junge Frau bindet weiße Blüten aller Größen und Gestalt zu Blumensträußen vor dem Altar einer Kirche, später wird hier ein Hochzeitspaar getraut. Die Mehrheit der Anwesenden sieht die protestantische Kirche zum ersten Mal von innen, obwohl diese für ihre Architektur ausgezeichnet worden ist und über eine hervorragende Akustik und interessante Kunst – einen aus Gräsern und Halmen geflochtenen Wandteppich – verfügt.

An der Straße steht ein etwas heruntergekommenes, doch schutzwürdiges Gebäude; in der Vision Einiger könnte dort künftig das Quartierzentrum stehen. Zurzeit sind einige Vereine verschiedener Migrant*innengruppen im Gebäude eingemietet. Es besteht Konsens, dass diese im Fall einer neuen Nutzung als Quartierzentrum mit einbezogen und zur gemeinsamen Konzeptentwicklung eingeladen werden müssten.

Weiter geht es entlang dem See, am Jachthafen vorbei, mit Blick auf nistende Enten und eine kleine Schilfinsel, welche den Luzerner Schwulenstrich beherbergen soll. Es gibt hier ein Richard-Wagner-Museum, Konzertlokale und große Sportanlagen. Der Spaziergang geht zu Ende im Vereinslokal des örtlichen Fußballclubs, Junioren gehen ein und aus, Mütter und Väter holen ihre Kinder ab, manche mit jüngeren, plüschtierbewehrten Geschwistern im Schlepptau. Zum Schluss erzählt ein ehemaliger Spitzensportler und Schweizer Rudermeister aus seinem Leben. [2]

Die Anwesenden hören zu, stellen Fragen, tauschen Adressen untereinander aus. Manche haben sich auf den verteilten Unterlagen Notizen gemacht zu Fragen der Gestaltung des öffentlichen Raums und privater Außenräume, konnten auf gefährliche Verkehrssituationen hinweisen und auf weitere, noch ungehobene Schätze im Quartier. Diese Dokumente sammeln wir nun ein. Manche kündigen ihre Notizen per Post an, sie wollen noch etwas nachschauen oder sind während der vergangenen Stunden dermaßen in Gespräche vertieft gewesen, dass sie noch nicht dazugekommen sind, etwas zu notieren.

Am Himmel dräuen unterdessen immer dunklere Wolken, bald wird es richtig regnen. Man verabschiedet sich voneinander und macht sich auf den Rückweg. Die Leute zweigen nach links und nach rechts ab, machen sich zu Fuß oder per Bus auf den Heimweg – das Quartier ist extrem langgestreckt. Die fehlenden Verbindungen im Quartier sind ein Thema auch in der vorbereitenden Gruppe gewesen, der sogenannten „Spurgruppe Tribschen-Langensand“. Einer Gruppe, neu zusammengewürfelt und vielfältig wie das Quartier Tribschen-Langensand auch. Es gibt hier neuere und ältere Mehrfamilienhaussiedlungen, ein großes Einkaufszentrum, selbstverständlich weiteres Gewerbe, Schulen, Kirchen, Theaterräume, aber auch Straßenzüge mit kleinen, älteren Einfamilienhäusern im Bereich Langensand.

Auf der anderen Seite der oben erwähnten „Rippe“ dann die neue Tribschenstadt, mit einem viel urbaneren, verdichteteren Charakter. Hier sind ab dem Jahr 2000 Tausende von neuen (gehobenen) Miet- und Eigentumswohnungen sowie Büro- und Gewerberäume entstanden, welche die vormaligen Kleingewerbe- und Industriebauten weitgehend ersetzt haben. Es gibt also die Alteingesessenen hier sowie eine große Zahl von neu Zugezogenen.

Entsprechend kennen sich auch in unserer Spurgruppe Tribschen-Langensand – im Gegensatz zu den anderen Spurgruppen, welche aufgrund von Mund-zu-Mund Propaganda des Projektleiters erstmals einberufen worden sind – einige Leute nicht. Da sind drei Mitglieder, welche, nach Abschluss ihrer Berufstätigkeit oder im Übergang in die Pensionierung, bewusst und gezielt die Tribschenstadt, respektive das ältere Schönbühlquartier als neuen Wohnsitz gewählt haben. Zwei von ihnen sind von außerhalb gekommen und sehen die Spurgruppe (sowie den Quartierverein) als Möglichkeit, sich an ihrem neuen Wohnort aktiv einzugeben und zu engagieren. Der dritte ist Mitglied bei Innovage [3], einem Netzwerk ehemaliger Führungskräfte, welche ihr Know How unentgeltlich im öffentlichen und gemeinnützigen Bereich einsetzen. Die weiteren drei Spurgruppen-Mitglieder sind schon lange im Quartier, als Sozialarbeiterin der katholischen Kirche sowie als langjährige Quartierbewohner*in, welche im einen Fall auch ihren Arbeitsplatz im Quartier hatte, im andern als pensionierter Bibliothekar und ehemaliger Mitarbeiter der Zentralbibliothek Luzern das Flair für Quartiergeschichte weiterpflegen kann.

Anlässlich der ersten Treffen in der Spurgruppe wurde deutlich, wie stark sich die Bilder des Quartiers in der Spurgruppe unterschieden. Der Sozialarbeiterin beispielsweise ist aus ihrem beruflichen Kontext bewusst, dass einzelne betagte Personen, in erster Linie Frauen, ihre Wohnung so gut wie nie verlassen; ihr wäre es ein Anliegen, hier z.B. eine Form von aufsuchender Nachbarschaftshilfe einzurichten, welche die Isolation dieser Frauen vielleicht überwinden könnte.

Der ehemaligen Versicherungskauffrau ist die Straße mit ihren gefährlichen Übergängen ein Dorn im Auge, welche sie von ihrem Arbeitsplatz aus stets im Blick hatte.

Für die Neuzuzügerin und bald-pensionierte selbständige Beraterin ist das Quartier ganz neu, sie möchte es durch die Arbeit in der Spurgruppe besser kennenlernen und auch mit ihrem Engagement einen Beitrag zu ihrer eigenen sozialen Integration im neuen Lebensumfeld leisten.

Und so weiter – die Spannweite ist groß, das Interesse aneinander auch. Also sind wir in diesem Quartier mit einer Art Bestandsaufnahme aus den Köpfen eingestiegen. Zwei Weiterbildungsstudierende der Hochschule Luzern haben die Spurgruppe getroffen und die Geschichten und Quartierbilder, welche die einzelnen Spurgruppenmitglieder einander geschildert und mitgeteilt haben, dokumentiert.

Aus diesen Erzählungen haben wir dann gemeinsam Themenfelder für dieses Quartier definiert und es ist die Idee entstanden, weitere solche Quartiergeschichten und Blicke auf das Quartier zu sammeln – an Quartierrundgängen mit Menschen aus dem Quartier. Insgesamt haben gut 60 zumeist ältere Personen an den drei Quartierrundgängen in Tribschen-Langensand teilgenommen, das nähere Lebensumfeld erkundet und rund 250 konkrete Anregungen für eine bessere Wohnqualität im eigenen Quartier gesammelt. Diese werden nun gebündelt und priorisiert. Eine Frau plant, den vielen während dieser Quartierrundgänge gehörten Geschichten zur Entwicklung des Quartiers Tribschen-Langensand, aber auch den Kindheitserlebnissen heute betagter Quartierbewohnerinnen und -bewohner, in einem Erzählcafé Raum zu geben – selbstverständlich im Quartier.

Im Quartier Wesemlin haben sich zwei Arbeitsgruppen in mehreren Sitzungen und aufgrund von eigenen Recherchen um die Themen Wohnen und Quartierleben gekümmert. Dabei wurden unter anderem eine Quartier-Wohnungsbörse (große Wohnungen können gegen kleinere eingetauscht werden) und ein offener Bücherschrank mit Lesestunden im öffentlich zugänglichen Garten eines Klosters im Quartier lanciert.

Im Stadtteil Littau haben neun Zweierteams von freiwillig engagierten Seniorinnen und Senioren insgesamt 40 persönliche Interviews mit Frauen und Männern der Generation 60plus geführt, die nach dem Zufallsprinzip ausgewählt worden waren. Die Altersspannweite der befragten Personen betrug 60 bis 91 Jahre. Die Frageraster waren zuvor in Workshops gemeinsam entwickelt und diskutiert worden. Ebenfalls in Workshops wurde die Gesprächssituation geübt und die Quartierforscherinnen und -forscher stellten ein Dossier zusammen, mit welchem sie dann die Senior*innen im Stadtteil aufsuchten. Dazu gehörten ein Ausweis der Stadt in Form einer Visitenkarte, welche sie als Quartierforscher*innen auswies, Informationsmaterial der Stadt über Beratungsangebote im Altersbereich, ein Gesprächsleitfaden sowie ein Beobachtungsraster.

Als nächster Schritt ist nun die Vorstellung dieser Projektideen an drei öffentlichen Informationsveranstaltungen in den Quartieren vorgesehen. Gesucht sind Frauen und Männer aus den drei Quartieren, welche allenfalls bei der Umsetzung der konkreten Projekte mitarbeiten wollen.

2. Einbettung der Ergebnisse in die städtische Alterspolitik

Die eigene Wohnung und das unmittelbare Wohnumfeld gewinnen im Alltag von älteren Personen stark an Bedeutung. Im Rahmen des Projekts «Altersgerechtes Quartier Luzern» wurden in verschiedenen Quartieren der Stadt Luzern Prozesse zur Entwicklung von altersgerechten Quartieren angestoßen. Der Große Stadtrat hat das Projekt am 27. Oktober 2011 gutgeheißen.

In Zusammenarbeit mit einem Projektteam der Hochschule Luzern - Soziale Arbeit sollte damit in drei städtischen Quartieren der Grundstein für die Entstehung eines altersgerechten Quartiers gelegt werden. Die Pilotquartiere Wesemlin­Dreilinden, Tribschen­Langensand und der Stadtteil Littau unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihres Alters als Quartier, sondern auch in Bezug auf ihre Gebäude­ und Infrastruktur sowie die soziodemografische Zusammensetzung. Aufgrund der unterschiedlichen Gegebenheiten in den einzelnen Quartieren wurde das Projekt in drei Teilprojekte unterteilt. Ziel des Gesamtprojektes ist es, eine Verbesserung der Lebensqualität älterer Menschen zu erzielen und aufzuzeigen, wie ihre Ressourcen besser gefördert und ins gesellschaftliche Leben einfließen können.

3. Leitlinien der Alterspolitik in Luzern

Mit der künftigen Alterspolitik will die Stadt Luzern die Rahmenbedingungen „für ein gelingendes Altern“ schaffen. Dabei will sie die aktive Teilhabe fördern und insbesondere auf das Potenzial der älteren Bevölkerung setzen. Die Alterspolitik in Luzern soll partizipativ, generationenübergreifend und quartiernah umgesetzt werden. ?Das Entwicklungskonzept, welches bis 2015 umgesetzt werden soll, umfasst drei Handlungsfelder. Neben den quartiernahen Projekten (deren Pilotphase in diesem Text berichtet wird) umfasst das Entwicklungskonzept  Projekte im Bereich der Kommunikation und Vernetzung. Dazu gehört das Pilotprojekt www.luzern60plus.ch, eine Internetplattform, welche die ältere Generation politisch und gesellschaftlich stärker einbinden will. Unter dem Titel Kompass60plus fasst die Stadt die Angebote der öffentlichen Hand und der privaten Altershilfe zusammen.

Dabei soll ein besonderes Augenmerk auf den Bedürfnissen benachteiligter Gruppen liegen. Wie können Personen, welche in ihrer Bildungsbiographie oder aufgrund ihrer Belastung im Alltag keinen Zugang zu diesen Angeboten finden, erreicht und in den Prozess miteinbezogen werden?

Ein weiteres Projekt ist der Marktplatz 60plus, welches dazu beitragen soll, passive und negative Altersbilder zu revidieren und Frauen und Männern in der Nacherwerbsphase die vielfältigen Möglichkeiten für Bildung, Kultur und zivilgesellschaftliches Engagement aufzuzeigen.

4. Methodische Erkenntnisse aus Sicht der Sozialen Arbeit

Für die Begleitung der Pilotprojekte in den drei Quartieren hat der Projektleiter der Stadt Luzern ein Team des Instituts für Soziokulturelle Entwicklung vom Departement Soziale Arbeit der Fachhochschule Zentralschweiz in Luzern angefragt. Welches sind nun, am Schluss der Pilotphase dieses Projektes, die Erkenntnisse aus Sicht der Sozialen Arbeit? Im Folgenden versuchen wir Kriterien zu identifizieren, welche diesen Prozess gefördert haben.

4.1 Partizipative Projektentwicklung und Methodenvielfalt

Ein wichtiges Element des Gesamtprojektes war die Methodenvielfalt, welche zur Anwendung gekommen ist. Dabei wurde zu Beginn der Arbeit in den Spurgruppen vom Projektleiter formuliert, dass er ein partizipatives Vorgehen und eine rollende Planung und Projektentwicklung begrüßen würde. Die Diskussionen innerhalb der Spurgruppen verliefen dann sehr unterschiedlich:

In Wesemlin-Dreilinden wurde sehr schnell eine öffentliche Veranstaltung organisiert, an welcher zwei thematische Arbeitsgruppen sich konstituierten. Diese Arbeitsgruppen haben dann autonom ihre Teilprojekte entwickelt und schon in der ersten Arbeitsphase umfangreiche Abklärungen getroffen, so dass diese Projektideen unmittelbar umgesetzt werden können.

In Littau hat die Spurgruppe schnell den Wunsch geäußert, mittels dieses Projektes mit Bewohnerinnen und Bewohnern des Stadtteils ins Gespräch kommen zu wollen, welche ihnen nicht schon aus ihren verschiedenen Vereinsstrukturen bekannt seien. In der Folge wurde die Idee der Quartierforscher*innen konkretisiert. Einzelne Mitglieder der Spurgruppe beteiligten sich im Folgenden an den Interviews mit Quartierbewohner*innen, andere beschränkten sich auf eine eher strategische Rolle. Die Spurgruppe legte dabei Wert darauf, dass mit der Quartierforschung auch eine Art Bestandsaufnahme der in Bezug auf ein altersgerechtes Quartier wichtigen Punkte möglich würde. Dabei war sehr hilfreich, dass eine Gruppe von Bachelorstudierenden der Soziokulturellen Animation anlässlich einer Begehung ihre Eindrücke bezüglich Barrierefreiheit und Begegnungsorten in Littau fotografisch und schriftlich dokumentierten und zur Verfügung stellten.

In Tribschen-Langensand wiederum hat sich rasch gezeigt, dass die Mitglieder der Spurgruppe selber aktiv werden wollten. In diesem Quartier, welches sowohl über ältere Strukturen als auch einen beträchtlichen Neubau-Anteil mit entsprechend vielen Neuzuzüger*innen verfügt, war es wichtig, vorerst die unterschiedlichen Narrative und Bilder des Quartiers aufzunehmen, welche die Mitglieder der Spurgruppe in sich tragen. Diese wurden von zwei Studierenden des Weiterbildungslehrgangs „Gemeinde-, Stadt- und Regionalentwicklung“ der Hochschule Luzern aufgenommen und der Spurgruppe zurückgespiegelt. Danach war es möglich, die drei schließlich gewählten Begehungsrouten zu definieren.

4.2 Wertschätzung und Arbeitsteilung

Es ist in diesem Projekt bisher gut gelungen, eine allgemeine Kultur der Wertschätzung und eine sinnvolle Arbeitsteilung zu finden. Die von Beginn weg klar adressierte, aber auch im Projektverlauf immer wieder überprüfte und angepasste adäquate Arbeitsteilung hat eine Zusammenarbeit in gegenseitiger Wertschätzung ermöglicht, welche den Beitrag aller Beteiligten als wertvoll und gleichwertig taxiert. Hilfreich war dazu neben der transparenten Kommunikation aller Beteiligten auf der Ebene der Spurgruppen auch die Arbeitsteilung zwischen Ehrenamtlichen (den Spurgruppen-Mitgliedern) und Lohnbezügern (Projektleiter der Stadt und Vertretung Hochschule) sowie die Arbeits- und Aufgabenteilung unter den Mitgliedern der Spurgruppen und zwischen Projektleitung und Hochschule.

Die Quartiervertreter*innen, welche ehrenamtlich in den Spurgruppen mitgearbeitet haben, haben inhaltlich ihr Vorgehen bestimmt und konnten sich auf die administrative Unterstützung des Projektleiters und des Teams der Hochschule Luzern verlassen. Projektleiter und Hochschulvertreter*in haben sich die organisatorischen und administrativen Aufgaben jeweils von Fall zu Fall aufgeteilt. Grob kann gesagt werden, dass der Projektleiter der Stadt in den Pilotgruppen für die Einladungen und die Protokolle sowie die Organisation der Zusammenkünfte verantwortlich war, die Hochschulvertreter*in Instrumente wie Gesprächsleitfäden und Beobachtungsraster für die einzelnen Teilprojekte entworfen und nach den Feedbacks aus den Spurgruppen jeweils überarbeitet hat.

4.3 Ergebnisoffenheit

Von großer Bedeutung war auch die vom Projektleiter glaubwürdig vertretene Ergebnisoffenheit. Erwünscht war das Sich-Einlassen auf diesen Prozess, ohne Druck, eine bestimmte Anzahl von Ideen zur Lösung bestimmter Probleme zu generieren. Also gewissermaßen: Ideen willkommen, Scheitern erlaubt. Diese experimentierfreudige und vertrauensvolle Haltung der Behörden hat im Resultat zu konstruktiven und realisierbaren Vorschlägen geführt. Auch stand das echte Interesse der Stadt an den Meinungen aus dem Quartier außer Zweifel. Hier ist es mit dem gewählten Vorgehen gelungen, die Stadt als „interessiert zuhörende Institution“ zu positionieren. Ziele sind formuliert (siehe oben), jedoch auf einer allgemeinen Ebene; das heißt, Anliegen aus dem Quartier werden gehört, die Verantwortung für ihre Bearbeitung jedoch muss im weiteren Vorgehen ausgehandelt werden. In den nächsten Projektschritten wird es wichtig sein, durch eine sorgfältige und umsichtige Sequenzierung der vorgeschlagenen Maßnahmen diesen gut etablierten Dialog zwischen „Stadt“ und „Quartier“, zwischen Behörde und Freiwilligen aufrecht zu erhalten.

4.4 Ressourcen

Die Pilotprojekte für altersgerechte Quartiere in drei Gebieten der Stadt Luzern konnten auf zahlreiche und vielfältige Ressourcen bauen, insbesondere:

Der Projektleitung ist es zu verdanken, dass diese Ressourcen erkannt wurden und nutzbringend eingesetzt wurden.

5. Fazit: Möglichkeiten und Grenzen dieses Vorgehens

Möglichst lange in der eigenen Wohnung bleiben können. Auch im Alter noch selbständig unterwegs sein können. Und vor allem: Auch im Alter noch dazugehören, sich nicht überflüssig fühlen. So lassen sich die Aussagen von Menschen zusammenfassen, die nach ihren Bedürfnissen im Alter gefragt werden.

Jedoch wird eine altersfreundliche Politik nicht maßgeblich auf Quartierebene definiert. Die Soziale Sicherheit, das Altersrentensystem, die Festlegung des Pensionsalters, das Regime der Pensionskassen – alles keine Quartierthemen. Die Pflegeplanung erfolgt in der Schweiz auf regionaler Ebene in so genannten Planungsregionen, in welchen mehrere Gemeinden zusammen geschlossen sind. [5] Zwar sind die Gemeinden (Kommunen) seit Einführung der neuen Pflegefinanzierung ab Januar 2011 stärker gefordert, doch auch bei dieser Aufgabe spielt die Quartierebene keine Rolle. Selbst die für die tägliche Lebensqualität so bedeutenden Möglichkeiten der pflegerischen Leistungen zu Hause (oder auch Haushaltshilfen) sowie der öffentliche Verkehr werden mindestens auf kommunaler Ebene geregelt.

Das gute Zusammenleben im Quartier kann eine gute Sozialpolitik sowie eine allgemein altersfreundlich ausgerichtete Politik auch nicht ersetzen. Tatsächlich zeigt sich in unseren ersten Erfahrungen in verschiedenen Quartieren der Stadt Luzern jedoch, dass Maßnahmen auf Quartierebene sich in verschiedener Hinsicht unmittelbar auf die Lebensqualität im Quartier auswirken – und zwar für alle Menschen im Quartier.

Dabei ist zu unterscheiden zwischen Bedürfnissen und Anliegen, welche im Quartier eruiert wurden, jedoch nicht innerhalb des Quartiers zu beantworten sind, und Quartierinitiativen, bei welchen die Quartierbewohnerinnen und -bewohner direkt und autonom aktiv werden.

Im ersten Fall geht es eher darum, dass Quartierbewohnende als „betroffene Expert*innen“ die kommunalen Dienste auf kleinere oder größere Mängel aufmerksam machen. Im Luzerner Projekt waren dies fehlende Sitzgelegenheiten sowie schlecht beleuchtete Fahrpläne bei den Busstationen (Wesemlin-Dreilinden; Littau), aber auch Hinweise auf gefährliche Straßenübergänge, respektive Zebrastreifen am „falschen Ort“(Littau, Tribschen), behindernde Treppen ohne Geländer (Littau) oder auf fehlende öffentlich zugängliche Toiletten (Littau; Tribschen). Bei diesen Anliegen wird es bei der Umsetzung der vorgeschlagenen Maßnahmen vordringlich darum gehen, Quartiervertreter*innen und die zuständigen Verwaltungsstellenvertreter*innen in einen Dialog zu bringen.

Im zweiten Fall handelt es sich um Vorschläge und Quartierinitiativen, welche aus den Pilotprojekten gewachsen sind und bei welchen der Stadt lediglich eine Rolle als Ermöglicherin zukommt, welche beispielsweise finanzielle Unterstützung bieten oder spezifisches Know How vermitteln kann – auf Wunsch der Projektverantwortlichen aus dem Quartier. Diese Ideen sind zustande gekommen im Zusammenspiel des freiwilligen Engagements [6] der Personen, welche in den Spurgruppen vertreten sind, der Begleitung durch den Projektleiter der Stadt und der Hochschule sowie in Interaktion mit dem Quartier – den Interviewenden und den Befragten und ihren Erzählungen in der Quartierforschung im Stadtteil Littau, den Teilnehmenden an den Begehungen in Tribschen-Langensand und ihren Geschichten, die auch geprägt sind vom Quartier als gebaute und gelebte Struktur. Die Anordnung und Ausgestaltung der Wohnungen in Wesemlin-Dreilinden, die geographische Gestalt des Tribschenquartiers, das Zusammenspiel von Dichte und bäuerischem Leben in Littau – dies hat die entstandenen Projektvorschläge mitgeprägt. Beispiel dafür kann ein Projekt aus dem Wesemlin-Quartier sein, welches eine informelle, quartierbezogene und autonome Wohnungsbörse vorsieht.

Diese Ausführungen sollen zeigen: Wenn auch Alterspolitik maßgeblich nicht auf Quartierebene entschieden wird, so können Initiativen wie die vorgestellten doch ganz entscheidend zum „gelingenden“ oder „guten“ Altern [7] beitragen. Sie können Verbesserungen erzielen, welche mehr Sicherheit oder eine bessere Versorgung gewährleisten. Vor allem aber – und die Hinweise verdichten sich, dass diese Dimension in Zukunft an Bedeutung noch gewinnen wird – ermöglichen sie den Beteiligten die Realisierung von sozialen Kontakten, sinnhaftem Tun und die Aneignung des Quartiers in seinen verschiedenen Dimensionen.

Literatur

Bundesamt für Statistik 2013: Statistik der sozialmedizinischen Institutionen 2011. Neuchâtel.

Kubik, Andreas/Kumlehn, Martina (Hrsg.) 2012: Konstrukte gelingenden Alters. Kohlhammer. Stuttgart.

Löw, Martina/Terizakis, Georgios (Hrsg.) 2011: Städte und ihre Eigenlogik. Campus. Frankfurt a.M.


Fussnoten

[1] Aussagen von drei verschiedenen Teilnehmenden an der Quartierbegehung in Tribschen-Langensand vom 4. Mai 2013.

[2] http://www.luzern60plus.ch/aktuell/portraet/paul-koelliker-ein-leben-fast-wie-im-abenteuerroman/

[3] www.innovage.ch

[4] In Anlehnung an das Konzept der Eigenlogik der Städte, siehe: Martina Löw und Geogios Terizakis (Hrsg.). 2011. Städte und ihre Eigenlogik. Campus.

[5] Dabei sind grosse Unterschiede bezüglich Pflegeplatz-Dichte zwischen Regionen und Kantonen festzustellen. Die Zentralschweiz und besonders der Kanton Luzern gehört aktuell zu den Gebieten mit der höchsten Pflegebettdichte in der Schweiz. Vgl. Bundesamt für Statistik: Statistik der sozialmedizinischen Institutionen 2011. Neuchâtel 2013.

[6] Und häufig genug geht das Engagement in einer Spurgruppe auf weitere freiwillige und ehrenamtliche Tätigkeiten zurück, etwa in der Kirche, der Quartierbibliothek, einem Quartierverein.

[7] Bei aller Vorsicht, mit der diesen Begrifflichkeiten begegnet werden soll, siehe etwa Andreas Kubik und Martina Kumlehn (Hrsg.). 2012. Konstrukte gelingenden Alters. Kohlhammer.


Zitiervorschlag

Gretler Heusser, Simone (2013): Quartiergeschichten und das Leben im Alter greifbar machen – Erfahrungen aus einer Luzerner Quartierforschungswerkstatt. In: sozialraum.de (5) Ausgabe 1/2013. URL: https://www.sozialraum.de/quartiergeschichten-und-das-leben-im-alter-greifbar.php, Datum des Zugriffs: 17.04.2024