iSo e. V. – Innovative Soziale Arbeit und Innovationen im Sozialraum
Matthias Gensner, Michael Gerstner
1. Einleitung
Die erste Wachstumsphase der Entwicklung von iSo e. V. (Innovative Sozialarbeit) ab 1998 in Bamberg würde heute als „Start Up“ und „Social Entrepeneurship“ bezeichnet werden. Derartige Bezeichnungen, welche terminologisch damals unbekannt waren, beschreiben gut die Dynamik dieser Jahre. Student*innen und junge Berufseinsteiger*innen, welche in ihrem Studium von Sozialraumansätzen, systemischen Konzepten und Handlungsmethoden sowie von einem identitätsstiftenden Professionsverständnis der Sozialen Arbeit geprägt waren, konzeptionierten soziale Lösungsideen und konnten kommunale Auftraggeber überzeugen, diese zu finanzieren. Von Beginn an zeichnete iSo aus, dass es wenige Berührungsängste gegenüber Akteur*innen aus anderen gesellschaftlichen Systemen wie Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Justiz etc. gibt. Aus der studentischen Denkschmiede ist mittlerweile ein mittelgroßes Unternehmen mit über 250 Mitarbeiter*innen geworden, Tendenz steigend. Trotz des Wachstums sind die o. g. Kategorien noch immer charakteristisch für das Profil des Trägers und bilden das Fundament für eine bedarfsorientierte und innovative Sozialarbeit. Wir verfolgen dabei folgende Handlungsmaxime:
Eine gelingende Kopplung an verschiedene Systeme ist Grundlage erfolgreichen Wirkens in Sozialräumen.
Abbildung 1: „Dafür setzen wir uns ein“ – Schwerpunktthemen von iSo. Quelle: iSo
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Im folgenden Text geben wir zunächst einen kurzen Überblick über die Entwicklung von iSo sowie Einblicke in organisatorische Grundhaltungen. Im Anschluss beschreiben wir, wie Offene Jugendarbeit als Fundament sowie als Ausgangspunkt für nachhaltig ausgerichtetes soziales Handeln in einem Sozialraum fungieren kann. Exemplarisch stellen wir danach die sozialräumliche und bauliche Entwicklung eines städtischen Milieus vor, um schließlich zu skizzieren, wie wir den Sozialraum als Leitbild pädagogischen Handelns methodisch nutzen. Zur Vertiefung und zur Veranschaulichung sind etliche Verlinkungen aufgeführt ebenso wie konkrete Praxiseinblicke.
2. Vom Spezialisten zum Generalisten – Von der Jugendhilfe zum „Gemischtwarenladen“
Der Blick auf iSo verleitete Prof. Dr. Ulrich Deinet vor einigen Jahren dazu, von einem „Gemischtwarenladen“ zu sprechen. Dieses Sinnbild ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Wir sind in der Jugend- und Familienhilfe breit, wenn nicht sogar sehr breit aufgestellt und decken, angefangen von der Jugendarbeit nach § 11 SGB VIII bis zur stationären Jugendhilfe nach § 34 SGB VIII, sehr viele unterschiedliche Sparten Sozialer Arbeit ab. Werden wir dadurch für unsere Kund*innen/Klient*innen/Auftraggeber*innen wirklich zu einem Gemischtwarenladen? Und falls ja, sind wir dann mehr Discounter oder mehr Biomarkt?
Die Einordnung des Trägers ist eng gekoppelt an seine Entwicklung. Folgende Meilensteine waren für die sozialräumliche Ausrichtung des Vereins prägend.
- 1985 Gründung – Ergänzende ehrenamtliche Tätigkeiten zum beruflichen Wirken der Mitglieder aus den Institutionen Gesundheits-/Jugendamt im Bereich Prävention und Selbsthilfe
- 1998 Erstes längerfristiges Erziehungshilfeangebot – project X – Soziale Gruppenarbeit mit Jugendlichen (§ 29 SGB VIII kombiniert mit § 13 SGB III); methodisch auf dem Sozialraumansatz aufbauend
- 2002 Umsetzung sozialraumorientierter Jugendarbeit von JAM, erstmalige Festanstellung von Mitarbeiter*innen
- 2003 Start der einzelfallorientierten Erziehungshilfe durch Erziehungsbeistandschaft, sozialpädagogische Familienhilfe, Clearing und aufsuchende systemische Familienberatung
- 2007 Start des mittlerweile deutschlandweit etablierten Projektes BasKIDball – finanziert aus Mitteln der Städtebauförderung – mit Partnern aus Sport und Wirtschaft. Die Umsetzung vor Ort erfolgt i. d. R. immer mit Partner*innen aus Jugendarbeit/-hilfe, Schule, Sport und Kommune. Sie erfolgt meist in Stadtteilen mit entsprechender Bedarfslage für niedrigschwellige offene Sportangebote.
- 2008 Intensivere Umsetzung schulbezogener Angebote wie Jugendsozialarbeit an Schulen und Offene Ganztagsschule, Übernahme eines Mehrgenerationenhauses im Rahmen eines Bundesprogramms
- 2011 Ausweitung der Gemeinwesenarbeit durch Stadtteil- und Quartiersmanagement
- 2012 Übernahme der offenen Jugendarbeit der Stadt Bamberg mit den städtischen Jugendeinrichtungen auf Grundlage einer sozialräumlichen Konzeption
- 2013 Komplettierung des Erziehungshilfeangebotes durch eine stationäre Wohngruppe
- 2015 Umsetzung Streetwork Bamberg sowie Eröffnung des Leuchtturmprojektes BasKIDhall
- 2019 Projektträger des Bundesprogramms „Demokratie Leben“ im Landkreis Bamberg
- 2020 Deutscher Kita-Preis für das lokale Bündnis frühe Bildung „Aus der Gereuth für die Gereuth“
Praxiseinblick: Einen guten Überblick über die verschiedenen Handlungsfelder finden sich im filmischen Jahresbericht 2016: https://www.youtube.com/watch?v=1SEJVOyuk4A sowie auf www.iso-ev.de
Ausschlaggebend für die jeweiligen Erweiterungen war immer eine positive Antwort auf die Frage: Passt das geplante Angebot zum bestehenden Wirken der vorhandenen Angebote und Arbeitsbereiche im und für den Sozialraum? Gerade Anfragen aus Gemeinwesen, zu denen keine Verbindungslinien bestanden, wurden häufig nicht verfolgt, z. B. bei der Übernahme einer Ganztagsschule in einer Kommune, in welcher wir nicht tätig waren. Der Fokus lag stets auf der Stärkung sozialräumlicher Tiefe, nicht auf einer Expansion in der Breite bzw. Fläche. Stets leitend ist dabei für uns das Selbstverständnis, zentraler Ansprechpartner zu sozialen Themen für Kommunen in Kommunen zu sein. Uns interessiert dabei vor allem die Umsetzung von neuen sozialen Ideen, welche es erst zu entwickeln gilt.
Abbildung 2: Das iSo-Projektenetz: vernetztes und eng gekoppeltes Handeln. Quelle: iSo
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Wichtig im Rahmen der horizontalen und vertikalen Differenzierung bzw. Expansion war es uns immer, eine Versäulung unserer Angebote zu vermeiden. Auch bei wachsender Größe soll eine Organisationsstruktur etabliert bleiben, welche vernetztes und eng gekoppeltes Handeln ermöglicht. Das Fundament hierfür bilden u. a. folgende Maßnahmen und Ansatzpunkte:
- Flache Hierarchien, hohe Verantwortungsbereiche bei Mitarbeiter*innen, direkte Kommunikationslinien
- Intensive Nutzung digitaler Kommunikationsformen (seit 2003 Ausstattung von Mitarbeiter*innen mit Smartphones, Extranet, Messenger-Dienste seit Covid-19: Nutzung von Discord als virtuelle Geschäftsstelle, Zoom für Videokonferenzen)
- Interne Stellenwechsel von Mitarbeiter*innen, z. T. arbeitsfeldübergreifende Stellenkombinationen
- Innovation als Möglichkeitsraum für Mitarbeiter*innen auf verschiedenen Ebenen – Scheitern ist erlaubt
- Arbeitsfeldübergreifende interne Veranstaltungen und Angebote (interne Fortbildungen, trägerübergreifende Arbeitsgruppen, Exkursionen, Innolab u. v. m.)
- Benennung von Gebiets- und Sozialraumkoordinator*innen
Abbildung 3: Organigramm der Trägerstruktur. Quelle: iSo
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Praxiseinblick: Innolab als Tool zur Organisationsentwicklung
Abbildung 4: Projektideen, Fragestellungen und innovative Beispiele aus der Praxis waren Inhalte des Innolabs 2020. Quelle: iSo
Wie kann ein gelingender projektübergreifender Austausch organisiert werden? Wo ist Raum für Innovation? Wie fördert man interne Potentiale und Kreativität? Das sind Fragen, welche wir uns als Träger gerade aufgrund unserer Ausrichtung und unseres Zuschnitts wiederkehrend stellen. Daran orientiert, setzten wir im Jahr 2020 erstmalig ein Innolab um. Grundlage des Formats waren konkrete Projektideen, Fragestellungen und innovative Beispiele aus der Praxis, welche durch die Teams zur Verfügung gestellt wurden. Der interne Aufruf im Vorfeld hatte Erfolg: Es wurden etliche Themenstellungen eingereicht, von denen zwölf ausgewählt wurden. Die halbtägliche Präsenzveranstaltung hatte eine feste Ablaufstruktur. Nach einer Einführung wurde in der ersten Runde zunächst die erste Hälfte der Themen und Projektstellungen „gepitcht“ (maximal fünf Minuten je Präsentation im Format eines „Elevator Pitch“). Im Anschluss konnten sich die Teilnehmer*innen in zwei Runden den für sie interessanten Projekten/Themen zuordnen und dort in einen intensiveren Austausch gehen. Nach einer Pause wurde der Ablauf mit den nächsten sechs Themenstellungen wiederholt. Jeder Mitwirkende erhielt folglich einen Einblick in zwölf verschiedene Projekte/Themen aus den unterschiedlichen Arbeitsfeldern, welcher interessensbezogen viermal intensiviert wurde. Gleichzeitig bestand die Möglichkeit, die Weiterentwicklung der Arbeitsfelder mit dem eigenen Know How zu fördern. Die übergreifende Entwicklung wurde forciert.
Das Innolab im Film: https://www.youtube.com/watch?v=kEyD-zbEwRE
Wichtig für unser Wirken war und ist immer die direkte Abklärung auf Augenhöhe mit unseren Auftraggebenden. Dies umfasst – mit steigender Tendenz – oftmals die Abdeckung eines kommunalpolitischen Beratungsbedarfs zu mittlerweile sehr unterschiedlichen Themen wie beispielsweise eine sozialräumliche Entwicklung von Gemeinwesen und dessen Herausforderungen sowie städtebauliche Fragestellungen. Über die Jahre hinweg war hierbei unsere Grundhaltung immer, eine fachlich fundierte Einschätzung ausgerichtet auf die vorhandenen Bedarfslagen zu treffen und Möglichkeitsräume aufzuzeigen. Dabei sind uns folgende Maximen wichtig:
Dienstleistungsorientierung: Profil als sozialer Dienstleister einer professionellen Sozialen Arbeit ohne zu moralisieren und für singuläre Positionen Stellung zu beziehen; politisch neutral, konfessionell ungebunden
Arbeitsteiliges Steuerungsverständnis: Strategische Steuerung durch Politik/Verwaltung; operative Steuerung durch iSo
Wir sehen uns als Expert*innen für soziale Entwicklungen und soziale Innovationen in Gemeinwesen. Dies betrifft auch unser eigenes Handeln: Nicht jedes angedachte Vorhaben wurde umgesetzt und manches Angebot auch beendet. Unsere Werthaltung dabei ist:
Soziale Arbeit ist nicht per se positiv, sondern immer nur dann, wenn es der Abdeckung einer vorhandenen Bedarfslage dient.
Abbildung 5: Immer wieder etwas Neues in der Auslage: “Bamberg im Takt“ vereint einheimische Jugendliche und Migrant*innen. Quelle: iSo
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Gerade diese Grundhaltung führt dazu, dass wir als verlässliche und professionelle Partner*in von kommunalpolitischen Auftraggebenden geschätzt werden. Die Nachfrage nach unseren sozialen Dienstleistungen ist deutlich höher, als der Umfang, den wir abdecken können und wollen. Unsere Vergütung ist angelehnt an tarifliche Vorgaben, das Kostenniveau im mittleren Bereich, die Fluktuation an Mitarbeiter*innen gering, die Identifikation der Kolleg*innen mit der Ausrichtung des Trägers hoch. Das sind alles Indizien, dass wir tatsächlich nicht der Discounter sind, sondern vielmehr ein hochmoderner Tante Emma Laden 2.0 mit ausgesuchtem Sortiment, persönlicher Beratung und immer wieder etwas Neuem in der Auslage.
Praxiseinblick: Zweitägige Mitarbeiter*innen-Exkursion nach Frankfurt
Wir haben dort soziale Projekte besichtigt und die räumliche Distanz genutzt, um das eigene Handeln aus der Ferne zu reflektieren.
Abbildung 6: Mitarbeiter*innen-Exkursion Frankfurt: entdecken, reflektieren und „über den Tellerrand“ schauen. Quelle: iSo
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3. Offene Jugendarbeit als Ausgangspunkt sozialräumlichen Wirkens
Abbildung 7: Bedarfslagen erkennen – Angebote entwickeln: Skate Contest. Quelle: iSo
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Um im Rahmen von Jugendarbeit sozialräumlich wirken zu können, ist ein offener konzeptioneller Blick notwendig. Gerade der ländliche Raum benötigt mit Gemeinwesen zwischen 3.000 und 10.000 Einwohner*innen, welche verteilt auf verschiedene Ortsteile leben, eine Breite an Möglichkeiten professionellen Handelns. Diese Professionalität ist notwendig, um an konkrete Bedarfslagen vor Ort anknüpfen zu können. Deswegen vereinigen sich bei iSo unter dem Banner Jugendarbeit zum einen die klassische Arbeit im Offenen Treff, aber eben auch zum anderen aufsuchende Arbeit (Streetwork), Elemente der Jugendsozialarbeit, der sozialen Gruppenarbeit und der Jugendkulturarbeit. Dies ermöglicht eine flexible Herangehensweise an die jugendspezifischen Frage- und Themenstellungen im Gemeinwesen. Je nach Schwerpunktsetzung ist es so möglich, unterschiedliche Angebote im Portfolio zu entwickeln und saisonal auf die gegenwärtige Situation zu reagieren. Es ist z. B. zu beobachten, dass der aufsuchende Teil der Arbeit in den Sommermonaten durchaus umfangreicher ausfällt, während im Winter die Arbeit in Räumen vorrangig ist. So mag im einen Sommer die konzentrierte Arbeit mit einer spezifischen Clique von Jugendlichen im Mittelpunkt stehen, während im darauffolgenden Sommer die Wahl für ein Jugendparlament vorbereitet wird. Die Jugendarbeit ist im Auftrag der Gemeinde da, wo die Jugendlichen sind. Wichtig ist uns dabei eine sozialräumliche Orientierung:
Die bauliche Grenze des Jugendzentrums ist nicht die Grenze unseres Wirkens, Jugendarbeit ist da, wo Jugend ist und ein Bedarf an professioneller Begleitung besteht.
Unsere Jugendarbeit begreift sich als förderndes Element für ein lebendiges Gemeinwesen. Sie muss sich zeigen, muss Beteiligungsmöglichkeiten verhandeln und mitgestalten. Sie sucht dafür Kooperationspartner*innen, knüpft Netzwerke (z. B. zu Schulen, Vereinen und Kirchengemeinden) und ist proaktiv sichtbar sowie erlebbar. Unsere Zielgruppen sollen dabei unterstützt werden, als Akteur*innen in eigener Sache aufzutreten und sich als Teil ihrer Gemeinde zu begreifen.
Sozialarbeiter*innen werden so als verlässliche Aktivposten im Gemeinwesen erlebt und zu relevanten Ansprechpartner*innen. Dies schafft Anschlussstellen für ergänzende Angebote und infrastrukturelle Maßnahmen, welche die Lebenswirklichkeit der Kinder und Jugendlichen berücksichtigen.
Abbildung 8: Die Pumptrack-Anlage in Litzendorf ist immer gut frequentiert. Quelle: iSo
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Der Fokus auf die Lebenswirklichkeit der Jugendlichen ermöglicht auch ungewöhnliche und herausragende Prozesse der Raumaneignung, weil die Aufmerksamkeit nicht auf klassische Jugendräume begrenzt wird. So gelang in der Gemeinde Litzendorf die Umsetzung eines Pumptracks aufgrund der Initiative von Jugendlichen und einer Agenda 21-Arbeitsgruppe.
Praxiseinblick: Pumptrack-Anlage in Litzendorf
Zur Entstehung: https://www.youtube.com/watch?v=74uYG_4lbbk
Zur Einweihung: https://www.youtube.com/watch?v=kwLkmMTC-BY
Neben dem Kernangebot Jugendarbeit können zudem ergänzende und themenorientierte Projekte in das Gemeinwesen geholt werden. Querschnittsprojekte, welche in den Gemeinden gezielt mit Gruppen von Jugendlichen arbeiten, können eine wichtige Ergänzung für die offene Jugendarbeit darstellen.
Praxiseinblick: Jugendrelevante Themen aufgreifen, Demokratie erlebbar machen
AHA! Tuturialclips – Ein Medienprojekt, welches mit Jugendlichen jugendrelevante Themen aufgreift und in Videoclips von Jugendlichen für Jugendliche umsetzt:
https://www.youtube.com/watch?v=ZFAthbkjuu0&list=PLwgJhEKvw89tDkgnk0BBj-QzBRjlGud55&index=4
Demokratie Leben – Ein Projekt, das politische Bildung von Jugendlichen zum Ziel hat und Partizipation auf unterschiedlichsten Ebenen fokussiert.
https://demokratie-leben-ist.de/
Abbildung 9: Schüler*innen diskutieren mit Martin Schulz. Quelle: iSo
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Mit dieser Herangehensweise als Unterstützende für ein lebendiges Gemeinwesen wird Soziale Arbeit zur relevanten Ansprechpartner*in für eine Vielzahl an weiteren Institutionen und Fördernden – nicht zuletzt, weil so für weitere Projekte und Initiativen auf ein bereits bestehendes Netzwerk zurückgegriffen werden kann. Dies kann dann, von der Offenen Jugendarbeit ausgehend, auch zu weiteren infrastrukturell verankerten Projektvorhaben führen, wie z. B.:
- Offene Ganztagsschule im Grund- und Mittelschulbereich oder andere Formen der Schulkindbetreuung: Hier bietet es sich an, die Personalplanung zu vernetzen, d. h. Fachkräfte der Jugendarbeit in einem Gemeinwesen sind bereits an der Schule tätig und bekommen so bereits Kontakt zu einer Zielgruppe, die einen Großteil ihres Alltags an der Schule verbringt.
- Jugendsozialarbeit an Schulen: Durch die Kopplung der unterschiedlichen thematischen Zugänge können schwierige Themen des Jugendalters präventiv aufgegriffen werden. Jugendliche in Problemlagen finden zudem ein Netzwerk von Unterstützungsangeboten in ihrer Gemeinde vor und können auswählen, welcher Person sie sich anvertrauen möchten.
- Begegnungsstätten: Die Erfahrung zeigt, dass unsere Haltung, auf jugendliche Zielgruppen zuzugehen, auch bei anderen Zielgruppen greifen. Deshalb führen wir mittlerweile in drei Gemeinden des Landkreises auch Angebote für Familien und Senioren durch.
Abbildung 10: In diesem Workshop erklären Jugendliche Senioren, wie ein Smartphone funktioniert. Quelle: iSo
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Neben ihrem eigentlichen Daseinszweck ist auch in diesen Angeboten ebenso der Blick über den Tellerrand notwendig, um in einem Gemeinwesen Synergien zu schaffen und zusätzliche Kommunikationsräume zu eröffnen, wie das Projekt Surfen durch den Technikdschungel veranschaulicht, bei dem die Jugendarbeit in Kooperation mit der Offenen Ganztagsschule der Mittelschule am Ort und einer Seniorenbegegnungsstätte zusammenwirken. Hier bringen Jugendliche Senioren Tipps und Tricks im Umgang mit dem Smartphone bei.
Abschließend muss bemerkt werden, dass eine solche Offenheit bedeutet, dass sich die oft jungen Mitarbeiter*innen, welche nicht selten erst kürzlich mit dem Studium fertig geworden sind, auf die Komplexität eines Gemeinwesens einlassen und sich grundsätzlich als Dienstleistende und Ansprechpartner*innen für soziale Fragen begreifen – zunächst zwar mit dem primären Fokus auf ihr originäres Arbeitsfeld, jedoch mit der klaren Bereitschaft und Offenheit, andere Themenstellungen aufzugreifen. Dies stellt die professionelle Selbstdefinition vor die Herausforderung, sich nicht über ihr Arbeits- oder Tätigkeitsfeld zu definieren, sondern sich mit der Frage auseinanderzusetzen, welche Formen von Sozialer Arbeit in einem Sozialraum insgesamt sinnvoll wirken könnten. Hierzu braucht es ein sozialräumliches und übergreifendes Denken beim Träger und darauf ausgerichtete Formen der Unterstützung für Mitarbeiter*innen. So wird die Wahrscheinlichkeit erheblich gesteigert, dass Soziale Arbeit als ernstzunehmende*r Ansprechpartner*in für die Belange eines Gemeinwesens wahrgenommen, entsprechend angefragt und in Diskussionsprozesse eingebunden wird.
4. Groß denken – Systemübergreifend handeln: Ein Beispiel für gelingende Stadtteilentwicklung
Wie in den meisten größeren Städten gab und gibt es auch in Bamberg einen Stadtteil, welcher früher als „Brennpunkt“ und mittlerweile – weniger stigmatisierend – als „Stadtteil mit besonderem Entwicklungsbedarf“ tituliert werden kann. Das große Verdienst des Bundesprogramms Soziale Stadt, welches sowohl für investive als auch nichtinvestive Maßnahmen umfangreiche finanzielle Ressourcen zur Verfügung stellt, ist es u. a., dass diese oftmals vergessenen Stadtteile in den Fokus lokalpolitischer Entscheidungsträger und institutioneller Akteure geraten, so auch in Bamberg.
Abbildung 11: Ein Bamberger Stadtteil verändert sich: Deutscher Kita-Preis in der Kategorie „Lokales Bündnis für frühe Bildung“ ging an unser Kooperations-Bündnis mit dem Kindergarten St. Gisela. Quelle: iSo
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Obwohl die sozialraumbezogenen Kennzahlen (hoher ALG 2 Bezug, das Vierfache an HZE-Ausgaben zum übrigen Stadtgebiet, hohe Migrationsquote) durchaus einen Handlungsbedarf signalisierten, war das Spektrum niedrigschwelliger, sozialraumorientierter und/oder präventiver Angebote sehr begrenzt bis nicht vorhanden. Bestes Beispiel war, dass es, obwohl der besagte Stadtteil prozentual der kinderreichste ist, keine Kinder- und Jugendeinrichtung gab, mit Ausnahme einer Hausaufgabenbetreuung in einer Wohnung, welche durch das Jugendamt finanziert wurde. Über die Jahre konnten durch das intensive Zusammenwirken verschiedener Handlungsakteur*innen (Jugendhilfe, Stadtbau, Kommunalpolitik, Stadtverwaltung) und unter Einbezug der Bevölkerung vielfältige Prozesse angestoßen und umgesetzt werden. Der Stadtteil hat sich maßgeblich verändert, ohne dass eine Gentrifizierung stattgefunden hat. Und die Planung für die weiteren Maßnahmen umfasst bereits jetzt einen Zeitraum für die nächsten zehn Jahre. Die bisherigen und zukünftigen Entwicklungen und Erfolge sind:
- Durch das Stadtteilmanagement gibt es ein dezentrales und niedrigschwelliges Beratungsangebot. Es bestehen vielfältige Angebote für die Bewohner*innen, die gut genutzt werden.
- Alle wesentlichen Akteur*innen des Stadtteils (Schule, Kita, Jugendhilfe, Stadtbau u. a.) stimmen sich ab und verzahnen ihr Handeln (siehe Deutscher Kita-Preis).
- Veraltete Bausubstanz wurde durch neue ausgetauscht, welche den heutigen Anforderungen entspricht. Energetische Sanierungen wurden vorgenommen.
- Das Bürgerhaus entstand, eine Begegnungsstätte von Bürger*innen für Bürger*innen.
- Durch die Initiative von iSo und unter Einbeziehung der Jugendlichen aus dem Stadtteil entstand mitten im Zentrum des Stadtteils das deutschlandweite Leuchtturmprojekt „BasKIDhall“ welches Jugendarbeit, Profisport und Sozialarbeit in einem Zentrum vereint (siehe https://www.youtube.com/watch?v=pDBr8hxbHCs&t=1s sowie www.baskidhall.de). Die Jugendlichen erhielten eine sehr attraktive Anlaufstelle und einen Identifikationspunkt mit umfangreichen Angeboten von Hausaufgabenbetreuung über offene Arbeit, Sportangebote bis hin zu kultur- und medienpädagogischen Projekten.
- Aufgrund dieser Entwicklung kam es zu einer Verlagerung eines weitläufigen Bauhofs einer größeren Baufirma, welcher mitten im Zentrum des Stadtteils angesiedelt war. Auf dem Areal entstand und entsteht sozialer Wohnraum in einem verkehrsberuhigten Bereich. Ergänzend wird nun seniorengerechtes Wohnen und eine Pflegeeinrichtung verwirklicht. Das dauerhafte Zusammenleben der verschiedenen Generationen soll ermöglicht werden. Bei den Planungen sowie der städtebaulichen Ausrichtung werden die Akteur*innen aus dem sozialen Bereich mit eingebunden. Der gemeinsame Dialog ist seit vielen Jahren geprägt von Wertschätzung und Zielorientierung.
- Ein Förderverein entstand, der lokale Initiativen unbürokratisch unterstützt und beispielsweise während der aktuellen Covid-19 Pandemie mit der Ausstattung von sozial benachteiligten Familien mit Tablets zur schulischen Förderung reagiert.
- Die vielfältigen Maßnahmen trugen zu einer Imageverbesserung sowie zu einer Öffnung des Stadtteils bei. Vorbehalte in der Gesamtbevölkerung sind zwar noch vorhanden, aber mittlerweile doch deutlich reduziert.
Möglich wurde dies nur durch die umfangreiche finanzielle Förderung durch die im Programm vorhandenen Bundes- und Landesmittel mit den damit verbunden Freiheiten in der Umsetzung vor Ort, durch die zielgerichtete Umsetzung der Kommune bzw. der städtischen Tochter Stadtbau sowie das systemübergreifende Handeln der verschiedenen Akteur*innen. Gerade das Zusammenwirken von baulichen und sozialen Maßnahmen schafft den Mehrwert, der für eine nachhaltige Veränderung notwendig ist. Hierbei wird deutlich:
Soziale Arbeit, die an den Schnittstellen verschiedener Systeme strukturell agiert, schafft nachhaltige Veränderung mit den Menschen in ihrem Sozialraum.
5. Der Sozialraum als Leitelement pädagogischen Handelns – Auseinandersetzung als fachliches Medium
Abbildung 12: Graffiti-Workshop: Sozialraum als Feld von Möglichkeiten. Quelle: iSo
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Wir begreifen den Sozialraum zunächst als abstrakte Kategorie, welche orientierend für Soziale Arbeit wirken kann: Wie oder durch was wird er „aufgespannt“? Welche räumlichen Grenzen setzt man an? Welche Bewohner*innen gehören dazu oder nicht dazu? Welche Geschichten und Zuschreibungen sind mit einem Sozialraum verknüpft? Welche Entwicklungspotenziale werden von wem für den Sozialraum gesehen?
Dies sind nur einige Fragen, die einer fundierten Reflexion zugrunde liegen. Unabhängig davon lohnt es sich, den Sozialraum als Ressource zu begreifen, als Feld von Möglichkeiten, in denen etwas entstehen kann, in dem die notwendigen Potenziale für Entwicklung bereitgestellt werden. Er wird so zu einer gestaltbaren und formbaren Größe in der Lebenswirklichkeit der Menschen, die sich auf ihn beziehen.
Diese sozialarbeiterische Haltung rückt ab von einer defizitären Beschreibung eines Sozialraums, sie lässt sich nicht ein auf die Fokussierung von Ohnmacht. Sie fragt vielmehr nach dem Wunsch nach Veränderung und bietet Möglichkeiten zur Auseinandersetzung über die Zielvorstellungen der Akteur*innen.
Abbildung 13: Pool-Party: Feste verbinden, sie machen Spaß, aber auch Mut. Quelle: iSo
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Vor allem Feste und Veranstaltungen bieten eine niedrigschwellige Gelegenheit, die Einzelpersonen und Gruppen in einem Gemeinwesen zusammenzubringen, ihnen Gelegenheiten für gemeinsame Planungsprozesse und ein gemeinsames Schaffen zu bieten. Der Sozialraum ist aber mehr. Gerade in der Arbeit mit Jugendlichen bietet er vielfältige Möglichkeiten, eigene Selbstwirksamkeit zu erleben.
Medienpädagogische Ansätze sind ein hervorragendes Medium für eine Auseinandersetzung von Kindern und Jugendlichen aber auch von Bewohnern mit ihrem Stadtteil. Dabei ist uns immer eine grundlegend positive und ressourcenorientiere Konnotation wichtig. Was macht den Stadtteil lebenswert, worin liegen die Vorzüge, wo sind die Lieblingsplätze? Die hieraus resultierenden Ergebnisse können gut genutzt werden für die Auseinandersetzung mit dem Sozialraum, aber auch für eine Imageverbesserung. Gerade bei Filmprojekten ergänzen wir dies gerne mit einer musikalischen Erarbeitung. Diese Kombination spricht junge Menschen an, denn es werden nicht nur visuelle, sondern auch auditive Emotionen erzeugt.
Praxiseinblick: Sozialraumorientierte Medien- und Musikprojekte
- Bamberg im Takt: Musikpädagogisches Projekt mit Jugendlichen mit Fluchthintergrund und deutschen Jugendlichen, bei welchem es u. a. um die Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft, aber auch ihrem neuen Lebensraum ging. Eine sehenswerte Dokumentation unter: https://www.youtube.com/watch?v=pMczVIroytw&t=965s
- You and me: Ein Sommertag im Stadtteil filmisch begleitet; der Lebensraum als Erfahrungsfeld; ausgezeichnet mit dem Bamberger Reiter Regionalfilmpreis: https://www.youtube.com/watch?v=7EZetrybNAY
- Mein Viertel: Jugendliche aus den beiden sozialen Stadtgebieten in Bamberg setzen sich mit ihrem Stadtteil auseinander.
Mein Viertel Gereuth: https://www.youtube.com/watch?v=7NR0MMHCFVA
Mein Viertel Starkenfeld: https://www.youtube.com/watch?v=VAXReY-yWiQ&list=PLwgJhEKvw89uRRaQLBKR4MFfFQ6a84-B3 - Salto Malto: Begleitend zu Mein Viertel Gereuth setzten sich die Kinder und Jugendlichen im Rahmen eines Rapworkshops auch textlich und musikalisch mit ihrem Zusammenleben in ihrem Stadtteil auseinander. Der Song ist absolut hitverdächtig: https://www.youtube.com/watch?v=u7rT2Opb4fA
Die Königsdisziplin unserer Arbeit ist die Befähigung unserer Zielgruppen (vorrangig Kinder und Jugendliche) sich in kommunalpolitischen Entscheidungsprozessen aktiv einzubringen. Der Sozialen Arbeit kommt hier die Aufgabe zuteil, den Rahmen für Partizipation mit den Entscheidungsträgern im Vorfeld gut abzustimmen und dann die Kinder und Jugendlichen zu Agent*innen in eigener Sache zu machen.
Praxiseinblick: Make Bamberg skate again
Abbildung 14: Make Bamberg skate again: gemeinsam bauen, gemeinsam einweihen, gemeinsam nutzen. Quelle: iSo
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6. Resümee
Die dargestellten Überlegungen und Beispiele haben etwas deutlich gemacht: Sozialräumliches Arbeiten ist kein Katalog von Methoden oder ein klar abgegrenztes Aufgabenprofil – für uns stellt es eine Haltung dar, welche auf den Kern von Sozialer Arbeit verweist. Es handelt sich um das Möglichmachen von Gelegenheiten für Kommunikation und das Einbeziehen von denjenigen, die vielleicht bis dato noch zu wenig beteiligt waren. Immer mit dem Blick auf das Gemeinwesen als den Ort, an dem sich Lebenswelten und -wirklichkeiten begegnen und miteinander verhandelt werden müssen.
Die Gründe für eine solche Haltung liegen für uns in einem tiefen Respekt vor der Gestaltungskraft von Einzelpersonen und Gruppen und dem Potenzial, Eigenverantwortung zu leben und Selbstwirksamkeit zu erfahren. Dadurch, dass sich Soziale Arbeit hier von ausschließlich individuell ansetzenden Hilfeformen und klassischen formellen Lernangeboten unterscheidet, indem sie das Soziale, d. h. den Kontext und die Lebensrealitäten ihrer Zielgruppen sichtbar und dadurch auch gestaltbar macht, wird sie zu einer bedeutsamen Akteur*in im Gemeinwesen. So erlangt Soziale Arbeit schließlich eine Eigenständigkeit und Ernsthaftigkeit, nach der sie lange gesucht hat.
Abbildung 15: Den Jugendtreff abreißen, um ihn neu aufzubauen, heißt auch, die Grenzen des Sozialraumes zu sprengen und neue Wegmarken zu setzen. Quelle: iSo
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Zitiervorschlag
Gensner, Matthias und Michael Gerstner (2020): iSo e. V. – Innovative Soziale Arbeit und Innovationen im Sozialraum. In: sozialraum.de (12) Ausgabe 1/2020. URL: https://www.sozialraum.de/innovative-soziale-arbeit-und-innovationen-im-sozialraum.php, Datum des Zugriffs: 21.11.2024