TEAM FOCUS – Sozialräumliche Erhebungen als Beitrag zum gelungenen Zusammenleben in der Stadt Wien
Sonja Gabler, Marianne Kolar-Paceski, Holger Piringer, Alexandra Rajchl, Kathrin Scheucher
1. Einleitung
TEAM FOCUS ist eine Gruppe von SozialarbeiterInnen, SozialpädagogInnen und SozialwissenschaftlerInnen, die sich mit Fragen des Zusammenlebens in der Stadt Wien beschäftigt. Organisatorisch ist das Team im Fonds Soziales Wien eingegliedert. Als Instrument der Kommunalpolitik liefert TEAM FOCUS fundierte Grundlagen zur Versachlichung und Vertiefung von Fragestellungen und Problemlagen in der Stadt, um Handlungsperspektiven zu eröffnen.
2. Zur Entstehung und Geschichte von TEAM FOCUS
Als TEAM FOCUS im Jahr 1993 gegründet wurde, ging es in erster Linie darum, differenzierte Informationen von als problematisch geltenden Plätzen oder Regionen in der Stadt zu sammeln.
Anlass dazu waren massive Beschwerden von BürgerInnen aber auch reißerische Berichterstattungen der Medien, die vermeintliche soziale Konflikte, etwa durch Drogenhandel und Drogenkonsum oder durch das Verhalten von Kindern und Jugendlichen im öffentlichen Raum problematisierten. Da auch die Aussagen und Erfahrungen unterschiedlicher Personen – etwa VertreterInnen der Exekutive, politischer Parteien oder auch sozialer Einrichtungen – divergierten, wurde die Idee eines „unabhängigen Erhebungsteams“ geboren. Dieses hatte den Auftrag, sich die Situation aus einem „sozialarbeiterischen Blickwinkel“ anzuschauen, unterschiedliche Perspektiven einzuholen und einen Bericht zu verfassen, welcher auch Empfehlungen für Maßnahmen der Stadtverwaltung beinhalten sollte.
Bei Projektstart bestand das Team aus SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen, welche vorerst gefordert waren, ein Arbeitskonzept zu entwickeln. Dabei bemühten sie sich auch auf internationale Erfahrungen zurückzugreifen und ähnliche Projekte in anderen Großstädten ausfindig zu machen, was allerdings zu diesem Zeitpunkt nicht gelang. Durch ihre Professionen und Berufserfahrungen lag es nahe, sich an Methoden der Sozialarbeit zu orientieren. Daher wurde die Tätigkeit der MitarbeiterInnen anfänglich als „Streetwork“ bezeichnet, die Recherchen als „soziale Erhebungen“. Seit der Entstehung ist die Arbeit von der Intention geprägt, selbst vor Ort zu sein und sich ein Bild von der Situation zu verschaffen sowie mit verschiedenen AkteurInnen in Kontakt zu kommen und ihre Sichtweisen und Interessen zu erfahren.
Durch die Erfahrungen und im Austausch von Praxis und Theorie entwickelten sich die Methoden und Begrifflichkeiten kontinuierlich weiter. Wissen wurde zunehmend systematischer erfasst, daraus erwuchs auch die Notwendigkeit zu einer stärkeren Orientierung an sozialwissenschaftlicher Methodik, was sich auch an den Ausbildungen und Kompetenzen der einzelnen Teammitglieder widerspiegelt.
Auch in den inhaltlichen Ausrichtungen und Fragestellungen erweiterte sich das Spektrum: zwar stehen auch heute noch der öffentliche Raum und die besonderen Bedarfslagen von Kindern und Jugendlichen oder gesellschaftlichen Randgruppen im Mittelpunkt, zusätzlich beschäftigt sich TEAM FOCUS aber auch immer wieder mit Fragestellungen zu anderen Gruppen oder Institutionen.
Da sich bereits in den Anfangsjahren der Bedarf nach einer Vernetzung der im Sozialbereich tätigen Institutionen und Initiativen auf regionaler Ebene zeigte, unterstütze TEAM FOCUS zahlreiche Regionalforen bei ihrer Entstehung und Entwicklung. Zusätzlich übernahmen die MitarbeiterInnen auch die Koordination und Moderation wienweiter Arbeitskreise, etwa zu Themen wie „Gemeinwesenarbeit in Wien“ oder „Soziale Arbeit im öffentlichen Raum“.
3. Erhebungen von TEAM FOCUS
3.1 Theoretischer Zugang und Forschungsgegenstand
Ausgangspunkt der Erhebungen von TEAM FOCUS sind meist Fragestellungen, die einzelne Regionen oder Institutionen sowie bestimmte Gruppen betreffen. Der zentrale Fokus liegt dabei auf den konkreten Sozialräumen, in denen Menschen leben und handeln. Der Begriff des Sozialraums verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass es sich nicht alleine um geografische begrenzte Räume handelt, sondern um Lebensräume und die sichtbare Wechselwirkung zwischen Gesellschaft, dem menschlichen Handeln und deren räumlicher Ausdrucksform (vgl. Kessl et al. 2005). Dem zugrunde liegt die Annahme, dass Räume nicht einfach nur statisch existieren, sondern prozesshaft im Handeln geschaffen werden und als räumliche Strukturen das Handeln beeinflussen (vgl. Löw/Steets/Stoetzer 2008; Löw 2001).
3.2 Sozialraumanalysen
Ein geeignetes Instrument, um einen Sozialraum aus unterschiedlichen Perspektiven zu erfassen und Zusammenhänge zwischen sozialem Handeln und räumlichen Gegebenheiten sichtbar zu machen sind Sozialraumanalysen. Diese ermöglichen es, vorhandene Strukturen, Probleme und soziale Ungleichheiten darzustellen sowie besondere Bedarfsgruppen, Ressourcen und Potentiale zu ermitteln und aufzuzeigen.
Auf Basis der bestehenden Analyseergebnisse werden Empfehlungen für mögliche Maßnahmen aufgezeigt. Die von TEAM FOCUS ausgearbeiteten Vorschläge können somit als Handlungsgrundlage von EntscheidungsträgerInnen dienen und damit Veränderungen im Sozialraum und folglich von strukturellen Gegebenheiten initiieren.
3.3 Reflexive Forschungshaltung
MitarbeiterInnen von TEAM FOCUS sind sich darüber bewusst, dass nicht nur Forschungsergebnisse sondern auch die Forschungspraxis selbst das Handeln der AkteurInnen und damit den Sozialraum beeinflussen können. Dies erfordert eine besondere reflexive Forschungshaltung mit dem Bewusstsein, dass durch die Forschungstätigkeit auch Erwartungen bei Beteiligten geweckt werden und Erhebungsmethoden aktivierend wirken können. Begegnungen mit AkteurInnen und der Einsatz von Methoden bedürfen daher eines verantwortungsvollen Umgangs und einer regelmäßigen und intensiven Planung und Reflexion.
Auch wenn sich die Erhebungs- und Analysearbeit deutlich von operativer Sozialer Arbeit unterscheidet, dienen professionelle Handlungsebenen und Grundprinzipien der Sozialen Arbeit (vgl. Krisch et al. 2011; Spatscheck 2009; Galuske 2007) als richtungsweisende Reflexionskonzepte, die sich auch in den Aufgaben und Zielen von TEAM FOCUS widerspiegeln.
3.4 Aufgaben und Ziele
Ziel von TEAM FOCUS ist es, ein gelungenes Zusammenleben und eine sozial gerechte Raumnutzung in der Stadt zu fördern. Eine der zentralen Aufgaben der Analysetätigkeit ist es daher, fachliche Empfehlungen über Maßnahmen abzugeben, die zu einer Verbesserung der jeweiligen Situation bzw. der Lebensbedingungen der Menschen beitragen, indem sie ihren Handlungsspielraum erweitern können. Die Orientierung an den Interessen der Betroffenen und den vorhandenen Ressourcen sowie die Vernetzung unterschiedlicher AkteurInnen spielen dabei eine wesentliche Rolle.
Interessen und Bedarfslagen aufzeigen
Bei der Erhebungsarbeit ist TEAM FOCUS in der Regel mit vielen und auch divergierenden Vorstellungen und Wünschen konfrontiert. Dabei wird häufig erwartet, die Verantwortlichen (die PolitikerInnen, die Stadtverwaltung, die zuständigen sozialen Institutionen usw.) sollten die von Einzelnen definierten Anliegen erfüllen. TEAM FOCUS versucht jedoch bewusst den Blick von diesen ersten Wünschen auf langfristige, sozial ausgewogene Interessen und Bedarfslagen zu richten. Es geht darum, im direkten Kontakt mit den Betroffenen zu erfahren, was ihre Interessen sind und welche Ziele sie erreichen wollen. Personen werden als aktive Subjekte betrachtet, deren Selbsthilfekräfte und Eigeninitiative es in geeigneten Maßnahmen zu fördern gilt. TEAM FOCUS versucht daher zu vermitteln, dass Angebote den Interessen der Menschen entsprechen müssen und wirksame Prozesse nur gemeinsam mit den Betroffenen stattfinden können.
Vorhandene sozialräumliche Ressourcen erkennen
Neben den Interessen der Betroffen geht es auch darum, die baulichen, räumlichen aber vor allem auch institutionellen und sozialen Ressourcen zu erheben und darzustellen. Das Erkenntnisinteresse liegt dabei auf den Potentialen der vorhandenen Ressourcen: wie gut sind diese für AkteurInnen erreichbar, verfügbar, nutzbar und gestaltbar; wie kann dies verbessert und ergänzt werden? Empfehlungen von TEAM FOCUS basieren demnach darauf, dass sich soziale Problemlagen und Konflikte nicht durch Ausgrenzungs-, Ordnungs- oder Disziplinierungsmaßnahmen nachhaltig lösen lassen. Vielmehr muss es darum gehen, notwendige Ressourcen im Sozialraum verfügbar zu machen, Teilhabe zu fördern und die Betroffenen in ihren selbstverantwortlichen Lebenskompetenzen zu stärken.
Vernetzung und Kooperation fördern
Für nachhaltige Maßnahmen in einem Sozialraum sollte immer multiperspektivisch gedacht und bereichsübergreifend konzeptioniert werden. Eine gute Vernetzung und Kooperation verschiedener sozialer AkteurInnen sind dabei wichtige Grundlagen für funktionierende Planungsprozesse und angemessene Interventionen. Für TEAM FOCUS bedeutet das, vorhandene Vernetzungs- und Kommunikationsstrukturen aufzuzeigen und mögliche Potentiale und Bedarfslagen zu erkennen. Wichtig ist dabei, relevante AkteurInnen zu erfassen und Menschen sowie Gruppen aus unterschiedlichen organisatorischen und politischen Ebenen mit einzubeziehen. Im Rahmen von wienweiten Arbeitskreisen ist TEAM FOCUS darüber hinaus selbst Teil von Vernetzungsplattformen und fungiert durch seine Moderations- und Koordinationstätigkeit auch als Schnittstelle zwischen BürgerInnen, Institutionen, Politik, Wissenschaft und Praxis.
4. Ablauf und Methoden einer Erhebung
4.1 Klärung der Fragestellung
Zu Beginn einer Erhebung wird mit dem Antragsteller das Erkenntnisinteresse geklärt und in weiterer Folge werden die Fragestellungen in einem gemeinsamen Prozess erarbeitet.
Ein großer Teil der Aufträge an TEAM FOCUS weist einen Bezug zum öffentlichen Raum, zu bestimmten Stadteilen oder Gemeindebezirken auf. Hier knüpft TEAM FOCUS in seiner Vorgehensweise an verschiedene Traditionen von Sozialraumanalysen an:
4.2 Recherche und Auswertung sozialstatistischer Daten
Mittels Recherche und Auswertung von bestehendem quantitativem Datenmaterial wird die soziodemographische und infrastrukturelle Ebene erfasst.
4.3 Anwendung von qualitativen Methoden
Die soziokulturellen und lebensweltlichen Bedeutungen des Sozialraums werden durch qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung erhoben. Im Mittelpunkt stehen hier die Beobachtung, offene und teilstrukturierte Interviews mit Zielgruppen sowie ExpertInneninterviews. Fallweise werden auch verschiedene weitere Methoden ergänzend eingesetzt, wie z. B. die Nadelmethode oder Fokusgruppen.
Beobachtungen
Zu Beginn jeder Erhebung im öffentlichen Raum werden durch explorative Stadtteilbegehungen und Beobachtungen Eindrücke über die Region, die dort handelnden Personen und ihre Interaktionen gesammelt.
In der fokussierten Erhebungsphase ermöglichen strukturierte Beobachtungen eine Darstellung der Nutzungsformen und -frequenzen des öffentlichen Raums. Mittels offener Beobachtung werden die Bedeutungen des Raumes für die dort handelnden Menschen erhoben. Durch die methodische Nähe zur teilnehmenden Beobachtung werden auch die subjektiven Wahrnehmungen der MitarbeiterInnen, ihre Eindrücke, Irritationen und Gefühle berücksichtigt. Diese werden dokumentiert, im Team reflektiert und fließen in die Analyse ein.
Zielgruppeninterviews
In sozialräumlichen Erhebungen bilden qualitative Interviews mit Zielgruppen ein zentrales Erhebungsinstrument. AkteurInnen im öffentlichen Raum, z. B. Kinder und Jugendliche, PassantInnen oder Angehörige marginalisierter Gruppen, werden zumeist an ihren Aufenthaltsorten angesprochen und zu ihrer Lebenswelt, ihren Interessen und der subjektiven Bedeutung des Sozialraums befragt. Je nach Fragestellung und Ausgangsituation werden auch Einschätzungen von Konfliktsituationen oder sozialräumlichen Defiziten erfragt. Die Kontaktaufnahme von NutzerInnen der öffentlichen Räume erfordert eine hohe Sensibilität der MitarbeiterInnen, um Vertrauen herzustellen und wertschätzend und reflektiert mit den Informationen der Personen umzugehen.
Weiters werden Interviews in einem geschützten Rahmen einer Institution, z. B. in einer Jugendeinrichtung geführt, sie ermöglichen häufig umfassendere Gespräche, die beitragen, Informationen weiter zu vertiefen.
Die Interviews werden entweder mit Einzelpersonen oder in Gruppen geführt.
ExpertInneninterviews
Eine weitere zentrale Erhebungsmethode stellen ExpertInneninterviews dar. ExpertInnen sind dabei Personen, die über den Untersuchungsgegenstand bzw. Sozialraum einschlägiges Fachwissen besitzen, in diesem Bereich tätig sind und auch Praxiswissen aufweisen.
Typische ExpertInnen für TEAM FOCUS-Erhebungen sind MitarbeiterInnen von Jugendeinrichtungen, des Amts für Jugend und Familie, des Stadtgartenamts, der Exekutive, SchulleiterInnen und PädagogInnen, MitarbeiterInnen der Stadtplanung, BezirkspolitikerInnen sowie VertreterInnen aller Institutionen und Vereine, die mit dem Erhebungsthema konfrontiert sind oder in Bezug dazu stehen.
TEAM FOCUS erschließt ihr Fach- und Prozesswissen in qualitativen, teilstrukturierten Interviews. Zu Beginn einer Erhebung dienen ExpertInneninterviews auch der Annäherung an den Untersuchungsgegenstand.
4.4 Analyse und Berichtserstellung
Noch während des Erhebungsprozesses ist die Reflexion im Team ein wesentliches Qualität sicherndes Element der Arbeitsmethode. Zwischenergebnisse werden laufend diskutiert und festgehalten und in einem zirkulären Prozess verdichtet. Nach Abschluss der Recherche erfolgt die Auswertung der gesammelten Daten in einer Mischform aus inhalts-, themenanalytischen und theoriegenerierenden Zugängen. Die Bewältigung des umfangreichen Datenmaterials erfolgt seit einigen Jahren unter Zuhilfenahme von QDA-Software[1]. Im Mittelpunkt der Analyse stehen eine umfassende Aufbereitung der gewonnenen Inhalte und das Aufzeigen der Differenziertheit verschiedener Sichtweisen, Deutungen und Problemdefinitionen. Insbesondere die Darstellung der Perspektiven der Betroffenen ist TEAM FOCUS ein Anliegen.
Aus der Analyse werden schließlich mögliche Bedarfslagen sowie Verbesserungspotentiale und Empfehlungen unter theoriegeleiteten Gesichtspunkten herausgearbeitet.
Im Anschluss erfolgt die Verschriftlichung des Abschlussberichtes unter den Gesichtspunkten der guten Lesbarkeit, Übersichtlichkeit, Praxisnähe und Umsetzbarkeit der Empfehlungen.
4.5 Veröffentlichung und Präsentation
Der fertige Erhebungsbericht ergeht an die AuftraggeberInnen sowie an alle GesprächspartnerInnen, relevante Geschäftsgruppen der Stadt Wien und wird im Internet veröffentlicht[2].
Die MitarbeiterInnen von TEAM FOCUS stehen nach Abschluss der Erhebung weiterhin zur Verfügung, um die Ergebnisse zu präsentieren und diese mit den AuftraggeberInnen bzw. den jeweiligen regionalen Vernetzungsgremien und betroffenen Institutionen zu diskutieren. Die konkrete Umsetzung der Vorschläge obliegt im Anschluss den Verantwortlichen aus Politik und Verwaltung.
5. Aus der Praxis von TEAM FOCUS
In den rund 65 bisher durchgeführten Erhebungen erforschte TEAM FOCUS eine Vielzahl von Themen und Fragestellungen. Die Aufträge kamen meistens über die Bezirksvorstehungen der 23 Wiener Gemeindebezirke, in einzelnen Fällen auch über andere Organe der Wiener Stadtverwaltung.
In vielen Aufträgen standen die Nutzung (halb-)öffentlicher Räume und deren soziale Auswirkungen im Vordergrund. Interessenskonflikte, die fehlende Einbeziehung betroffener Bevölkerungsgruppen und unzureichende Kommunikation städtischer Institutionen hatten oftmals zur Verschärfung problematischer Situationen und somit zur Beauftragung von TEAM FOCUS geführt.
Bei mehr als der Hälfte der Sozialraumanalysen wurden Aspekte der Lebenssituation sowie Bedarfslagen von Kindern und Jugendlichen, die sich im öffentlichen Raum aufhalten, erforscht. Darüber hinaus gab es auch Fragestellungen, die sich nicht auf eine Region bezogen, sondern bei denen Institutionen der Stadt Wien im Mittelpunkt standen.
Die nun folgenden Praxisbeispiele sollen einen Einblick in die vielfältigen Arbeitsaufträge von TEAM FOCUS geben.
Praxisbeispiel 1: Wien-Karlsplatz: Ein urbaner Ort, der vielen Ansprüchen gerecht werden soll
Der Karlsplatz und der angrenzende Resselpark waren seit Jahren für den Konsum und Handel illegaler Drogen bekannt. 2005 beantragte der Wiener Drogenkoordinator eine Sozialraumanalyse, um ein möglichst umfassendes Bild aller vorhandenen Problemfelder sowie Entwicklungspotentiale zu erhalten.
Am Karlsplatz traf eine Vielfalt an Nutzungsinteressen aufeinander, die zu Konflikten und Störungen führten. Die Gruppe der DrogenkonsumentInnen, die den Platz und Park schon seit vielen Jahren als wichtige Hauptaufenthaltsorte nutzten, wurde besonders stark wahrgenommen und löste bei AnrainerInnen, Geschäftsleuten und PassantInnen subjektive Verunsicherungen aus. Durch zahlreiche Interviews und Beobachtungen konnte aufgezeigt werden, dass es wenig konkrete Vorfälle oder Schadensvorkommnisse gab, jedoch kontroverse Sichtweisen zur Nutzung der Region und zur Bewältigung von Konflikten.
Im Erhebungszeitraum wurde zur Vermeidung eines Zusammentreffens von SchülerInnen und DrogenkonsumentInnen erstmals eine „Schutzzone“ (§36a Sicherheitspolizeigesetz) vor einer Schule eingeführt. Dies führte wiederum zu einer Verlagerung der Drogenszene in den Innenbereich der Opernpassage und zu einer Verschärfung der Spannungsfelder. Auch der Zugang zu sozialarbeiterischen und risikominimierenden Angeboten wurde erschwert. Aus diesem Grund empfahl TEAM FOCUS, dem Interesse der Betroffenen, einen akzeptierten, betreuten Aufenthaltsbereich für DrogenkonsumentInnen in der Region zu schaffen, zu entsprechen.
Die geplante Installierung des Projekts „Help U“ als Ansprech-, Informations- und Konfliktschlichtungsstelle für alle NutzerInnen des Karlsplatzes hielt TEAM FOCUS für zielführend. Hervorzuheben ist, dass hier eine bereichsübergreifende Kooperation der Wiener Suchthilfe mit den Wiener Linien (Verkehrsbetriebe) gelungen ist.
Darüber hinaus sollte eine umfassende Vernetzung und Zusammenarbeit der in der Region Tätigen einen Interessensausgleich ermöglichen sowie als Grundlage für funktionierende Einzelhilfen dienen.
Praxisbeispiel 2: Wien-Neubau: Mädchen wollen ihr eigenes Café
Im westlichen Teil des 7. Wiener Gemeindebezirks fehlten spezifische Freizeitangebote und Rückzugsräume für Mädchen. Aus diesem Grund forderten BezirkspolitikerInnen die Errichtung eines Jugendtreffs ausschließlich für Mädchen und beauftragten TEAM FOCUS im Jahr 2007 mit einer Sozialraumanalyse. Diese umfasste einerseits die Beschreibung von bereits praktizierten Ansätzen der außerschulischen Mädchenarbeit in Wien, andererseits sollten Aspekte der Lebenssituation von Mädchen und jungen Frauen aus Neubau sowie deren Interesse an Freizeitangeboten erhoben werden.
TEAM FOCUS interviewte ExpertInnen der Mädchenarbeit sowie sozialer Einrichtungen und befragte Mädchen in Parks und im Jugendtreffpunkt „cult.café“. Eine Fragebogenerhebung bildete die Freizeit- und Schulsituation von Schülerinnen des 7. Bezirks ab. Aufgrund guter Erfahrungen bisher umgesetzter Projekte in Bregenz und Berlin sowie der Daten aus dem Bezirk sprach sich TEAM FOCUS für die Errichtung eines kommunalen Mädchencafés mit partizipativem Ansatz aus. Sowohl bei der Konzeptionierung, Suche der Räumlichkeiten und Erstellung der Angebote sollten die Bedarfslagen und Interessen der Mädchen im Mittelpunkt stehen.
Die Sozialraumanalyse war der Anlass für den Bezirk, mit der Stadt Wien und VertreterInnen der offenen Jugendarbeit Gespräche über die Finanzierung und Konzeption der empfohlenen Einrichtung zu beginnen. Die Eröffnung von Wiens erstem partizipativen Mädchencafé fand schließlich 2011 statt. Der Jugendtreff wurde von der Zielgruppe geplant und umgesetzt. Von der Lokalsuche bis hin zu dem Angebot und den Öffnungszeiten waren bzw. sind die jugendlichen Nutzerinnen aktiv beteiligt[3].
Praxisbeispiel 3: Wien-Favoriten: Herausforderungen des Zusammenlebens im Gemeindebau
Die städtische Wohnhausanlage Karl-Wrba-Hof wurde 1978 errichtet und wird von ca. 3.000 Personen bewohnt. Massive Beschwerden von MieterInnen des Gemeindebaus über lärmende Kinder und Jugendliche führten 2008 zur Beauftragung von TEAM FOCUS.
Während der Erhebung wurden mehrere Interessenskonflikte sichtbar: Ein Mangel an Spiel- und Sportflächen führte zu einem verstärkten Aufenthalt von Kindern und Jugendlichen in den Höfen. Nachbarschaftstreitigkeiten sowie der neue Zuzug von MieterInnen mit Migrationshintergrund waren Anlass für Klagen. Auch veränderte formalisierte Abläufe in der Verwaltung – wie die Einführung eines Call Centers und der Wegfall der HausbesorgerInnen – erhöhten die Unzufriedenheit. Zusätzlich bestand ein Sanierungsbedarf des Bauwerkes und der Spielanlagen.
Um gegenseitiges Verständnis zu fördern und BewohnerInnen zu aktivieren, schlug TEAM FOCUS die Installierung eines Kommunikationszentrums vor, das im Jahr 2010 auch eröffnet wurde. Zur Unterstützung der Kinder und Jugendlichen wurde die Ausweitung eines bereits angelaufenen herausreichenden sozialräumlich orientierten Jugendarbeitsprojektes befürwortet. Darüber hinaus stellte TEAM FOCUS einen umfassenden Sanierungsbedarf der Wohnanlage fest und empfahl die Implementierung einer Ansprechperson der Hausverwaltung („Wiener Wohnen“) vor Ort.
Praxisbeispiel 4: Rudolfsheim-Fünfhaus: Implementierung von Sozialarbeit in das Wiener Pflichtschulsystem
Wachsende soziale Herausforderungen an Pflichtschulen im 15. Wiener Gemeindebezirk führten 2009 bei der Bezirksvorstehung zum Wunsch nach genauer Kenntnis der Situation und zur Beauftragung von TEAM FOCUS.
Die Bedarfslagen an den vier untersuchten Schulen waren ähnlich: Schwierigkeiten sozial schwacher und bildungsferner Familien zeigten sich auch im Unterricht. Steigende Anteile von Kindern mit Lern- und Verhaltensproblemen belasteten die Klassengefüge. Schulverweigerung und unregelmäßiger Schulbesuch stellten PädagogInnen ebenso vor Herausforderungen wie interkulturelle Anforderungen. GesprächspartnerInnen sahen Lehrkräfte mit diesen Problematiken überfordert und überlastet – sie selbst bestätigten diesen Eindruck. PädagogInnen fühlten sich für zahlreiche Aufgaben nur unzureichend ausgebildet, vielfach äußerten sie den Wunsch nach sozialpädagogischer, sozialarbeiterischer und psychotherapeutischer Unterstützung an den Schulen.
Als problematische Phase für SchülerInnen erwies sich der Übergang von Pflichtschule zum Beruf: Obwohl Beruf und Ausbildung zentrale Themen für Jugendliche waren, meldete sich ein Drittel der arbeitsuchenden PflichtschulabsolventInnen zu spät oder gar nicht beim Arbeitsmarktservice. Dadurch geriet gerade diese ausgrenzungsgefährdete Gruppe häufig in für sie unzufrieden stellende Ausbildungen, was wiederum zu vermehrten Abbrüchen führte.
Die Ergebnisse der TEAM FOCUS-Erhebung lieferten einen Beitrag zum Start des Pilotprojekts „Wiener Schulsozialarbeit“. Eine Steuerungsgruppe mit dem Ziel der (Weiter-)Entwicklung von Schulsozialarbeit begleitete deren Einführung in die Pflichtschulen. In der Steuerungsgruppe befanden sich VertreterInnen unterschiedlicher administrativer und politischer Bereiche. Um den teilweise sehr vielfältigen Bedürfnissen und Interessen der Schulen gerecht zu werden, wurde hier ressort- bzw. bereichsübergreifend zusammengearbeitet.
Seit dem Jahr 2010 führen SozialarbeiterInnen Beratungstätigkeiten an Pflichtschulen durch und bilden eine Brücke zu schulexternen Unterstützungseinrichtungen und den Familien. 2011 evaluierte TEAM FOCUS die Tätigkeitsfelder und die Spezifika des Wiener Modells der Schulsozialarbeit.
Praxisbeispiel 5: Wien-Floridsdorf: Die sozialräumliche Situation von Jugendlichen im Donaufeld
Im Jahr 2014 beforschten MitarbeiterInnen der Mobilen Jugendarbeit Donaufeld mittels sozialräumlicher Methodik die Situation von Jugendlichen im Donaufeld[4]. TEAM FOCUS wurde als Kooperationspartner vom Verein Wiener Jugendzentren beauftragt, ergänzend regionale und überregionale ExpertInnen zu befragen. Von Interesse war die vorhandene Expertise zu sozialen Veränderungsprozessen im Stadtteil, der Nutzung von Aufenthaltsorten sowie freizeitpädagogischen Angeboten, zu Möglichkeiten der Partizipation und Bedarfslagen von Jugendlichen. In diesem Zusammenhang erhob TEAM FOCUS auch Einschätzungen zum 60 ha großen Donaufelder Stadtentwicklungsgebiet, das sich derzeit noch in Planung befindet.
TEAM FOCUS führte qualitative leitfadenorientierte Interviews mit ExpertInnen und veranstaltete eine Fokusgruppe zum Stadtentwicklungsgebiet. Die Ergebnisse zeigten Qualitäten und Potentiale des Sozialraums auf. Die Qualitäten des Sozialraums für Jugendliche lagen vor allem in den nahegelegenen Grün- und Freiflächen, der vorhandenen Bildungs- und Institutionenlandschaft sowie den vielfältigen Kooperationen der Einrichtungen des Donaufeldes.
Im öffentlichen Raum zeigten sich folgende Besonderheiten: In Neubaugebieten – insbesondere an siedlungsbezogenen Spielplätzen – fehlte zum Teil die Akzeptanz für den Aufenthalt von Jugendlichen. Hier kommt der sozialräumlich orientierten Mobilen Jugendarbeit als Vermittlerin zwischen den Generationen und Unterstützerin der Aneignungsprozesse eine besondere Rolle zu.
Beim Stadtentwicklungsgebiet waren sich ExpertInnen einig, dass Jugendliche schon bei der Planung mitgedacht werden müssten. Der öffentliche Raum sollte kinder- und jugendgerecht gestaltet werden, mit Begegnungszonen, Spiel- und Sportplätzen und ausreichenden Indoor-Aufenthaltsmöglichkeiten. Bestehendes Wissen von ExpertInnen über soziale Dynamiken im Donaufeld und Erfahrungen aus der praktischen Arbeit von Institutionen sollten in die weitere Stadtentwicklung kontinuierlich einfließen.
Literatur
Galuske, Michael (2007): Methoden der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. Weinheim, München: Juventa Verlag.
Kessl, Fabian/ Reutlinger, Christian/ Maurer, Susanne/ Frey Oliver (Hrsg.) (2005): Handbuch Sozialraum. Wiesbaden: VS Verlag.
Krisch, Richard/ Stoik, Christoph/ Benrazougui-Hofbauer, Evelyn/ Kellner, Johannes (2011): Glossar Soziale Arbeit im öffentlichen Raum. Kurz- und Langfassungen. Stand: Februar 2011. Wien: Kompetenzzentrum für Soziale Arbeit GMBH, FH Campus Wien. In: sozialraum.de (4) 2/2012. URL: http://www.sozialraum.de/soziale-arbeit-im-oeffentlichen-raum-glossar.php, Datum des Zugriffs: 25.08.2015
Löw, Martina/ Steets, Silke/ Stoetzer, Sergej (2008): Einführung in die Stadt- und Raumsoziologie. 2., aktualisierte Auflage. Opladen & Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich.
Löw, Martina (2001): Raumsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
Spatscheck, Christian (2009): Theorie- und Methodendiskussion. In: sozialraum.de (1) 1/2009. URL: http://www.sozialraum.de/spatscheck-theorie-und-methodendiskussion.php, Datum des Zugriffs: 16.06.2015.
Weitere Informationen zu TEAM FOCUS finden Sie auf: www.fsw.at/teamfocus
Fussnoten
[1] Zur Unterstützung der Qualitativen Datenanalyse (engl. „Qualitative Data Analysis“, QDA) wird eine Computersoftware eingesetzt. Diese hilft, Texte zu strukturieren, zu systematisieren und letztendlich auszuwerten.
[4] vgl.: Verein Wiener Jugendzentren, Mobile Jugendarbeit Donaufeld, Sozialraumanalyse Donaufeld – Die Situation von Jugendlichen aus Sicht der Mobilen Jugendarbeit, Wien, Mai 2015.
Zitiervorschlag
Gabler, Sonja, Marianne Kolar-Paceski, Holger Piringer, Alexandra Rajchl und Kathrin Scheucher (2015): TEAM FOCUS – Sozialräumliche Erhebungen als Beitrag zum gelungenen Zusammenleben in der Stadt Wien. In: sozialraum.de (7) Ausgabe 1/2015. URL: https://www.sozialraum.de/team-focus.php, Datum des Zugriffs: 21.11.2024