Toynbee Hall – Ein Settlement mit engagiertem Programm und neuen Herausforderungen
Christian Spatscheck
In fast jedem Studiengang der Sozialen Arbeit taucht Toynbee Hall als Settlement und „Prototyp“ der Stadtteilarbeit in Modulen zur Geschichte oder zur Gemeinwesenarbeit auf. Auch für die heutige Gemeinwesen- und Sozialraumarbeit gelten die frühen Settlements aus London, Chicago oder Berlin weiterhin als modellhafte Referenzpunkte (Oelschlägel 2013a, 44ff.). Weniger bekannt ist jedoch, wie sich Toynbee Hall entwickelt hat, wie dort heute gearbeitet wird und wie die Kernideen eines Settlements in die heutige Zeit im Londoner East End übertragen werden.
Abbildung 1: Der Campus von Toynbee Hall (Quelle: Autor)
Hier knüpft dieser Beitrag an. Im Folgenden beschreibt er Toynbee Hall als Gast dieser Ausgabe mit seinen Ursprungsideen, seiner heutigen sozialräumlichen Verortung, seinen gegenwärtigen Angeboten und seinen aktuellen Aufgaben und Herausforderungen. Die Betrachtungen zu Toynbee Hall basieren auf dem benannten Quellenmaterial und konnten durch einen Besuch vor Ort im Rahmen eines Gastaufenthaltes an der Thomas Coram Research Unit des Institute of Education am University College London im September 2021 angereichert werden, von wo aus aktuell mehrere Projekte im Londoner East End begleitet werden.
1. Geschichte
Toynbee Hall wurde 1884 in London vom anglikanischen Priester Samuel Barnett und der Lehrerin und Sozialaktivistin Henrietta Barnett als gemeinnützige Einrichtung gegründet (vgl. ausführlicher Müller 1999, 21-59). Sie wurde nach Arnold Toynbee benannt, einem Historiker und Sozialreformer des 19. Jahrhunderts.
Das Projekt hat seinen Ursprung in der Settlement-Bewegung, die durch (Universitäts-)Niederlassungen von engagierten Bürger:innen das Leben in urbanen Armutsvierteln verbessern wollte. Bis heute verfolgt Toynbee Hall die Leitideen der Förderung von sozialer Gerechtigkeit, Bildung und dem Empowerment von Menschen, denen ansonsten diese Möglichkeiten verschlossen bleiben (vgl. mehr dazu unter www.toynbeehall.org.uk). Neben Toynbee Hall gab und gibt es weitere ähnliche Projekte, etwa das 1889 von Jane Addams gegründete Hull House in Chicago, die 1887 ins Leben gerufenen New Yorker Settlement Houses oder die 1911 gegründete Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost (Oelschlägel 2014).
2. Ursprungsideen und frühe Angebote
Toynbee Hall liegt im Ortsteil Spitalfields des Londoner Stadtteils Whitechapel, welcher zum Londoner Bezirk (Borough) Tower Hamlets gehört, der auch als East End bezeichnet wird und immer ein ärmeres Viertel Londons war. Der Träger bietet dort sehr unterschiedliche Angebote an, vor allem zur Stadtteilentwicklung, sozialkulturellen Bildung, Kooperation und Vernetzung, Freiwilligenarbeit, Gruppenarbeit sowie zur Beratung und Rechtshilfe für Einzelpersonen, Familien und Gruppen.
Abbildung 2: Überblick zum Campus und Angeboten von Toynbee Hall (Quelle: Autor)
Als Settlement verfolgt es das Ziel, in von Armut betroffenen Stadtteilen unterschiedliche Klassen und Milieus zusammen zu bringen und neue Möglichkeiten für die konkrete Veränderung der Lebensbedingungen zu schaffen. Die Settlements verfolgten dabei einen neuen sozialreformerischen Ansatz (vgl. hierzu auch Oelschlägel 2013a, 44ff.; 2013b, 181; Schnee 2013, 315). Sie grenzten sich ganz bewusst von der kirchlichen Almosenpolitik und den restriktiven staatlichen Armutspolitiken ab. Stattdessen schufen sie innovative Angebote zur Bildung und Selbsthilfe sowie zur gemeinschaftlichen und solidarischen Überwindung und von Armut und der Veränderung ihrer gesellschaftlichen Ursachen (vgl. Müller 1999, 21-59).
Toynbee Hall rekrutierte seine Mitglieder vor allem an den Universitäten Oxford und Cambridge sowie aus gesellschaftlich wohlhabenden Londoner Milieus. Dieter Oelschlägel (2013, 181) beschreibt dies so: „In England überschritten gegen Ende des 19. Jahrhunderts junge Akademiker die Grenzen der Universität, um aus religiösen und humanitären Motiven mit den Menschen in Armen- und Arbeitervierteln zu leben und zu arbeiten. So entstanden die Settlements als sozialkulturelle Zentren“. Ausgehend von dieser Idee entstanden später in Deutschland auch die Nachbarschaftsheime. Viele davon bestehen bis heute und haben sich im Verband für sozial-kulturelle Arbeit (VSKA) zusammenschlossen (vgl. hierzu Schnee 2013, 316 sowie www.vska.de). International sind die Settlements in der International Federation of Settlements and Neighborhood Centers (IFS) (www.ifsnetwork.org) organisiert. Die dort versammelten Organisationen und Projekte haben unterschiedliche Schwerpunkte, aber alle teilen das Ziel der Förderung und Unterstützung solidarischer Nachbarschaften sowie der Verbesserung der Lebensqualität im Stadtteil.
Eine zentrale Zielstellung der Arbeit der Settlements ist die stärkere Realisierung von sozialer Gerechtigkeit. Bei der sozialkulturellen Arbeit ging und geht es darum, „wechselseitige Bedingungen von sozialpolitischer und bildungspolitischer Unterprivilegierung“ (Schnee 2013, 314) sichtbar zu machen. Neben konkreten Hilfen ist dabei die sozio-kulturelle Bildung von zentraler Bedeutung: „Für die praktische Arbeit bedeutete dies, den Menschen neben materieller Hilfe auch Zugang zu sozialer und kultureller Bildung sowie Kompetenztrainings für ein Überleben und Zurechtfinden in den prekären Abhängigkeitsverhältnissen der Industrialisierung zu ermöglichen“ (ebd.)
Auch in Toynbee Hall wurde dieser Ansatz einer Verbindung von sozio-kultureller Bildung und konkreter Hilfe verfolgt. „So ging es in Whitechapel im Londoner Eastend primär zunächst erst einmal um die Vermittlung der gesellschaftlichen Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben, Rechnen, später folgten dann die Einrichtung einer Bibliothek samt Lesesaal sowie vielfältige Gemälde- und Kunstaustellungen in den eigenen Räumlichkeiten“ (May/Stock 2019, ohne Seite). Ergänzt wurden diese soziokulturellen Aktivitäten durch Clubs, öffentliche Essenseinladungen, der Einbindung von Studierenden mit Übernachtung und Verpflegung, Einflussnahme auf das gebildete, wohlhabende akademische Besitzbürgertum, Ausstellungen, Theater, Spenden, Geselligkeit, Bildung, Freizeit, Rechtsberatung sowie der Zusammenarbeit mit Organisationen und Bewegungen wie den Pfadfinder:innen, der Frauenbewegung, der Arbeiter:innenbewegung oder den Gewerkschaften. (Müller 1999, 41ff.). Diese vielfältigen Aktivitäten wurden über viele Jahrzehnte hinweg durchgeführt und beständig weiter entwickelt (vgl. dazu auch die Einträge im Archiv der Toynbee Hall unter https://explore.toynbeehall.org.uk/).
Im Zweiten Weltkrieg wurden durch die Bombenangriffe auf London auch die Gebäude von Toynbee Hall zerstört. Sie konnten erst in den 1950er Jahren wieder aufgebaut werden. Frühere Angebote wurden nach und nach wieder aufgegriffen und durch neue ergänzt, etwa einer weiter ausgebauten Jugendarbeit und einem stärkeren Fokus auf Rechtsberatung (Müller 1999, 58f.). Für die finanzielle und inhaltliche Entwicklung spielte ab den 1960er Jahren und bis zu seinem Tod im Jahre 2006 auch der englische Politiker John (Jack) Profumo eine besondere Rolle (Scowen o.J.). Nachdem er im Zuge der „Profumo Affäre“ wegen eines Geheimnisverrats in einer persönlichen Affäre als Kriegsminister 1963 abdanken musste, begann er sich 1964 in Toynbee Hall im Alltagsgeschäft und als Fundraiser und Netzwerker zu engagieren. Er konnte die Einrichtung über viele Jahre mit prägen und dazu beitragen, diese wirtschaftlich abzusichern.
Bis heute befindet Toynbee Hall auf einem eignen Areal in der Commercial Street mitten im Stadtteil Spitalfields. Das Projekt kann als Sozialzentrum neben dem Hauptgebäude auch mehrere weitere angrenzende Gebäude nutzen, die zu einem kleinen Campus vereinigt sind und in den letzten Jahren neu renoviert werden konnten.
3. Die Nachbarschaft: Spitalfields heute
Der Londoner Ortsteil Spitalfields zeichnet sich durch eine reiche und vielfältige Geschichte aus, die sich auch in der Architektur und in den Geschäften und Organisationen des Stadtteils widerspiegelt (Cruickshank 2016). Historisch ist Spitalfields bekannt für das namensgebende St. Mary’s Spital sowie den Spitalfields Market, dessen Markthalle bis heute einen lebendigen Ort für zahlreiche Lebensmittel- und Kunsthandwerksstände bietet. Der Stadtteil wurde im 17. Jahrhundert durch Hugenotten geprägt, die dort damals ihre neue Heimat fanden (a.a.O. 167). Seit dem 19. Jahrhundert besteht in Spitalfields eine größere jüdische Population, welche bis heute vor allem entlang der Haupteinkaufsstraße der Brick Lane sichtbar ist (a.a.O., 473). Durch die starke Präsenz von Industrie, Häfen und einer eher einfachen Bebauung war East London über die Jahrhunderte immer ein ärmeres Viertel.
Abbildung 3: Straßenszene in Spitalfields (Quelle: Autor)
In den 1960er Jahren kamen neue Immigrant:innen aus Bangladesch nach Großbritannien, um in Fabriken und der Textilindustrie zu arbeiten (Cruickshank 2016, 609ff.). Verstärkt wurde diese Entwicklung durch den Ausbruch des Bürgerkriegs in Bangladesch im Jahr 1971. Viele der Einwanderer:innen aus Bangladesch zogen in das Londoner East End, vor allem nach Spitalfields und bildeten dort eine enge Gemeinschaft. Neben den bengalischen Restaurants der Community sind im Stadtbild eine Vielzahl von Bangladeshi betriebener Textil- und Handwerksbetriebe präsent. Kultur und Traditionen dieser Gruppe sind im Stadtteil insbesondere durch Feierlichkeiten wie dem bengalischen Neujahrsfest (Baishakhi Mela-Festival) sichtbar oder durch die Straßenschilder, die in allen wichtigen Straßen in Englisch und Bengali beschrieben sind.
Abbildung 4: Straßenschild in der Brick Lane (Quelle: Autor)
Während der letzten Jahre erfuhr der Stadtteil einen starken Gentrizfizierungsschub und wurde zu einem bei Künstler:innen und Studierenden sehr beliebten Stadtteil (vgl. Cruickshank 2016, 609ff.). Heute ist Spitalfields sehr bekannt für seine multikulturelle Atmosphäre und seine lebendige Kunstszene. Es gilt mittlerweile als eines der Trendviertel Londons und kann mit zahlreichen Restaurants, Bars, Clubs, Boutiquen und Streetart-Orten aufwarten, die sich mit Neuansiedlungen von Universitäten und Kulturveranstaltenden, Musikfirmen und Ateliers, markanten historischen Gebäuden, neu gebauten Bürogebäuden und Wohnhäusern sowie mit den noch zahlreich vorhandenen kleineren und für den Stadtteil typischen Reihenhäusern mischen.
4. Toynbee Hall heute
Toynbee Hall ist noch immer eine im Stadtteil sehr präsente Institution, die sich der Stärkung der Nachbarschaft und der Unterstützung von Menschen in schwierigen Lebenssituationen widmet (www.toynbeehall.org.uk). Sie bietet vor allem Beratungs- und Vernetzungsangebote sowie sozio-kulturelle Aktivitäten an. Darüber hinaus organisiert Toynbee Hall verschiedene Gemeinschaftsveranstaltungen und Aktivitäten, die darauf abzielen, die Zusammenarbeit und das Gemeinschaftsgefühl im Stadtteil zu fördern. Die Aktivitäten können insgesamt den im Folgenden ausführlicher beschriebenen fünf Bereichen „Beratung und Information“, „Gruppenangebote und Nachbarschaftsprojekte“, „Forschung und politische Einflussnahme“, „Leitung, Fundraising und Volunteering“ sowie „Archive und Venue Hire“ zugeordnet werden.
4.1 Beratung und Information
Bis heute setzt Toynbee Hall einen starken Fokus auf die Beratung in Fragen der Existenzsicherung und den rechtlichen Angelegenheiten des Alltags. Im Bereich „Help with benefit applications“ werden Antragsteller:innen aus Tower Hamlets über Antragsmöglichkeiten und deren Voraussetzungen beraten. In der Sparte „Legal Advice“ werden niedrigschwellige und vertrauliche Rechtsberatung zu den Bereichen Arbeit, Wohnen, finanzielle Angelegenheiten, Familie und Kinder sowie zu Diskriminierung und Relationen zur Polizei angeboten. Diese wird durch „Legal Packs“ ergänzt, in denen Texte und Filme über verschiedene Rechtsbereiche benutzer:innenfreundlich aufbereitet werden. Über die Rechtsberatung hinaus wird im Angebot „Debt Advice” auch Schuldenberatung in den Bereichen Miete, Steuern, Versorgung und Banken angeboten. Mit „City Advice” wurde ein Beratungsangebot eingerichtet, das allen Bewohner:innen des Londoner Innenstadtbereichs für die Bereiche von Wohlfahrt, Wohnen, Arbeit, Schulden, Arbeit, Familie und Verbraucher:innenrechte zur Verfügung steht. Die Angebote des „Macmillan Benefits Advice” richten sich an Betroffene von Krebserkrankungen und deren Angehörige.
4.2 Gruppenangebote und Nachbarschaftsprojekte
Die Gruppenangebote und Nachbarschaftsprojekte werden im Arbeitsbereich „Community Centre” gebündelt. Hier finden vor allem Kurse, feste Gruppen, Nachbarschaftstreffen, Sportangebote sowie soziale und kulturelle Veranstaltungen statt. Im Projekt „LinkAge Plus” werden Vernetzungs-, Beratungs- und Hilfeangebote für Menschen der Altersgruppe 50plus versammelt. Das „When we Speak Youth Project” bietet „Social Activism Courses” an, die junge Menschen ermächtigen und befähigen, sich für ihre Anliegen persönlich und öffentlich einzusetzen. Die „Public Art Projections” bieten die Möglichkeit, von einer Nachbarschaftsjury kuratierte Kunstwerke und Botschaften über einen Lichtprojektor auf eine große und öffentlich einsehbare weiße Wand an einem der Gebäude gegenüber von Toynbee Hall zu projizieren. Aktuell gibt es noch das Projekt „Bangladesh 50: Stories of ‘71”, das sich dem Bürgerkrieg in Bandladesh von 1971 und dessen Bedeutung für die Menschen im Stadtteil widmet.
4.3 Forschung uns politische Einflussnahme
In Toynbee Hall werden verschiedene sozialräumliche Forschungsprojekte durchgeführt. Hierfür werden vor allem aktivierende Formen der Praxis- und Aktionsforschung eingesetzt, bei denen die Bewohner:innen als Peer Forscher:innen tätig sind und in Design, Erhebung, Auswertung und Präsentation von Daten und Forschungsergebnissen mit einbezogen sind – in manchen Projekten auch mit 15 £ pro Stunde bezahlt. Aktuell finden Praxisforschungsprojekte zur öffentlichen Sicherheit im Stadtteil, zur sozialverträglichen und klimagerechten Sanierung von Gebäuden, zur Zugängigkeit von Angeboten der Erwachsenenbildung, zur Lage der jüngeren Mieter:innen im Stadtteil oder zur Erstellung eines „Tower Hamlets Residents’ Manifesto“ mit zehn Hauptforderungen an den/die neue Bürgermeister:in von Tower Hamlets statt. Das Manifesto ist auch beispielhaft für den Transfer der Forschungsprojekte, die ihre Ergebnisse in Transferformaten immer auch in den Politikdiskurs mit einbringen. Einige der Forschungsprojekte evaluieren auch die eigene Tätigkeit von Toynbee Hall. Auf dieser Grundlage werden regelmäßige „Impact Reviews“ und „Impact and Strategy Reports“ erstellt.
4.4 Leitung, Fundraising und Volunteering
Toynbee Hall wird aktuell von einem aus fünf hauptamtlich tätigen Personen bestehenden „Senior Management Team“ geleitet, die in den Rollen „Chief Executive“, „Head of Commercial and Operations“, „Head of People“, „Managing Director – Debt Free Advice” und „Head of Research” tätig sind. Begleitet wird diese Arbeit von einen zehnköpfigen ehrenamtlich tätigen „Board of Trustees”, die die rechtliche Verantwortung für die Arbeit tragen, die Strategieentwicklung begleiten, das Senior Management Team unterstützen und die Erreichung der Ziele der Organisation im Blick behalten.
4.5 Archive und Venue Hire
Auf dem Gelände von Toynbee Hall gibt es ein Museum und Archiv, das die Geschichte von Toynbee Hall öffentlich erfahrbar macht. Viele der Unterlagen und Dokumente sind auch in einem öffentlichen Online-Archiv (https://explore.toynbeehall.org.uk/) einsehbar. Die unterschiedlichen Räume von Toynbee Hall können auch von Nachbar:innen und Organisationen aus dem Stadtteil angemietet werden.
5. Kritik und Herausforderungen der Arbeit
Toynbee Hall bietet auch heute eine vielseitige Palette von Angeboten und Initiativen an, um Menschen aus verschiedenen Gemeinden und Hintergründen zu unterstützen und dabei zu helfen, ihre lebenswichtigen Bedürfnisse zu erfüllen. Das Settlement hat über die Jahrzehnte seines Bestehens eine Vielzahl von Menschen erreicht und für die umgebende Nachbarschaft sehr viele und sehr bedeutsame Wirkungen realisiert, die ohne diese Organisation nie zu Stande gekommen wären.
Auch aktuelle Zahlen belegen diese Wirkungen. So haben im Jahr 2021/22 mehr als 4.000 Personen Rechtsberatung erhalten, über 3.800 Teilnehmende die offenen Angebote genutzt, über 13.700 Menschen Angebote von LinkAge Plus in Anspruch genommen und für junge Menschen konnten 33 Workshops angeboten werden (https://www.toynbeehall.org.uk/about-us/our-impact/).
Mit etwas Abstand betrachtet fallen vor allem drei Aspekte der Arbeit besonders ins Auge. Zum Ersten gibt es in den aktuellen Angeboten von Toynbee Hall einen ungewöhnlich starken Fokus auf Rechts-, Schulden- und Sozial(hilfe)beratung. Im Vergleich mit Nachbarschaftsheimen und -zentren in Deutschland ist dieser Bereich deutlich größer ausgebaut, während der Teil der Gruppen- und Nachbarschaftsangebote im Vergleich zu anderen Organisationen einen etwas kleineren Anteil hat. Das mag zum einen an den gegenwärtigen Förderstrukturen in Großbritannien, London und Tower Hamlets liegen, zum anderen vielleicht auch an den konkreten Bedarfen der Menschen im Stadtteil.
Zum Zweiten fällt auf, dass der Bereich der Dokumentation der Wirkungen der Arbeit und der Nachweise über Nutzung und Mitgestaltung einen besonders großen Anteil einnimmt. Hier könnte es eine Frage sein, ob auch ähnliche Einrichtungen im deutschsprachigen Raum sich Anregungen holen könnten oder ob dort dieser Bereich bewusst etwas kleiner gehalten wird, um mehr Zeit und Kapazität für die direkte Arbeit mit den Menschen zu behalten.
Zum Dritten ist die starke Forschungsorientierung und die Rolle eines eigenen Head of Research sicherlich eine weitere Besonderheit. Methodisch ist dabei die starke Ausrichtung auf die partizipatorische Praxis- und Aktionsforschung eine Besonderheit. Diese Formen der Organisation von Forschung und des Einsatzes von Forscher:innen aus dem Stadtteil könnten und sollten andere Organisationen sicherlich inspirieren.
Im Laufe seines Bestehens hat Toynbee Hall ein besonders umfangreiches Engagement für mehr soziale Gerechtigkeit erreicht und konnte die Menschen im Stadtteil dabei sehr gut einbeziehen. So wurde eine starke Orientierung an den lokalen Communities erreicht, und konkrete Wirkungen im Stadtteil durch eine Vielfalt von Aktivitäten und Formaten erreicht und fortlaufend weiterentwickelt.
Anhaltende strukturelle Herausforderungen dabei sind sicherlich die prekären oder fehlenden finanziellen Ressourcen und die Notwendigkeit, Fördermittel und Spenden einzuwerben, um die Arbeit fortsetzen zu können. Flankiert wird dies im Großbritannien der letzten Jahrzehnte durch einen anhaltenden Abbau des Sozialstaates und einer Austeritätspolitik, die viele der Probleme der Menschen im Stadtteil erst mit bedingen. Dies führt auch mit dazu, dass Toynbee Hall beständig auf das Engagement von ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen angewiesen ist und seine Dienstleitungen erweitern könnte, wenn es mehr hauptamtlich tätige Kräfte gäbe.
Abbildung 5: Street Art an einem Café in Spitalfields (Quelle: Autor)
Die einzelnen Angebote von Toynbee Hall können an dieser Stelle vermutlich nicht umfassender in Bezug auf ihre Ausrichtung, Reichweite und Ausgestaltung hinterfragt werden. Jedoch kann eine Bezugnahme auf einen kritisch-emanzipatorischen Ansatz der Sozialen Arbeit hier helfen, zumindest einige Kriterien als Referenzpunkte für die kritische Analyse der Angebote zu erhalten. Michael May benennt mit Bezug auf ein kritisch-dialektisches Grundverständnis die Hauptaufgabe Sozialer Arbeit, möglichst viele und konkrete Beiträge zur Aufhebung der menschlichen Selbstentfremdung sowie der Emanzipation und der „Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen“ selbst zu leisten (May 2022, 480; May/Schmidt 2021).
Dabei verweist May auf die verschiedenen Dimensionen von Entfremdung und Aneignung, wie sie Karl Marx in seinen ökonomisch-philosophischen Manuskripten aus dem Jahre 1844formuliert hatte (Marx 1990, 516 zit. n. May 2022, 472; vgl. hierzu auch Henning 2015, 109ff.). Marx weist dort darauf hin, dass der Mensch durch den kapitalistischen Produktionsprozess mit zwei grundlegenden Formen der Entfremdung konfrontiert ist (Marx 1990, 515): Einer Entfremdung des Menschen vom Produkt seiner Arbeit und einer Entfremdung des Menschen von seiner eigenen Tätigkeit und seiner tätigen Aneignung der Welt.
Über diese individuelle Selbsterfahrung hinaus bleibt der Mensch jedoch auch ein Gattungswesen und setzt sich als solches immer auch selbst ins Verhältnis zu seinen Mitmenschen (May 2022, 472). Dabei ist er nach Marx (1990, 516) von vier weiteren Dimensionen von Entfremdung konfrontiert: Die Entfremdung des Menschen von der Natur, der Entfremdung des Menschen von sich selbst und seiner eigenen Lebenstätigkeit, der Entfremdung des Menschen von seinem eigenen Leib und seinem geistigen Wesen sowie der Entfremdung des Menschen vom Menschen als anderen Subjekten.
Bereits die frühen Angebote von Toynbee Hall und den Settlements verfolgten sehr oft eine besonders umfassende Ausrichtung ihrer Aktivitäten, die alle diese Ebenen von Entfremdung und Aneignung adressierten. Dabei wurden die Bürger:innen in der Nachbarschaft nicht nur als Einzelpersonen in Fragen ihrer moralischen und sozial erwarteten Lebensführung beraten, sondern als ganze Personen mit all ihren Potenzialen, Eigenschaften und Bedürfnissen sowie auch als soziale Wesen in ihrer Relation zu anderen Subjekten im Gemeinwesen. Dieses wurde als politischer Sozialraum betrachtet, der die Dimensionen der Entfaltung des Menschen mitbestimmt.
Angebote von Settlements, Nachbarschaftsheimen, der Gemeinwesenarbeit und sozialräumlich orientierter Träger erfüllen in diesem Sinne auch heute nur dann ihr volles Potenzial und Aufgabenspektrum, wenn sie es vermögen, an all diesen Ebenen der Entfremdung und Aneignung anzuknüpfen und konkrete Möglichkeitsräume für Prozesse der Aneignung zu realisieren. Dies wäre und ist eine beständige Aufgabe, an der sich die Arbeit von Toynbee Hall und den vielen anderen Projekten der sozialkulturellen Arbeit immer wieder messen lassen müssen.
Literatur
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Götze, Robert (2005): Toynbee Hall (London). https://www.stadtteilarbeit.de/lernprogramm-stadtteilarbeit/hauptseiten/toynbee-hall-london, Datum des Zugriffs: 19.05.2023.
Henning, Christoph (2015): Theorien der Entfremdung. Eine Einführung. Hamburg, Junius.
Marx, Karl (1990): Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. In: MEW Bd. 40. Berlin, Dietz, 465–588.
May, Michael (2022): Zur Rekonstruktion der Marxschen Entfremdungstheorie und ihrer Bedeutung für Kritische Soziale Arbeit. In: neue praxis (52) 5/2022, 466–483.
May, Michael/Schmidt, Marcel (2021): Zur Bedeutung des dialektischen Materialismus für Wissenschaft und Praxis Sozialer Arbeit. In: Spatscheck, Christian/Borrmann, Stefan (Hrsg.): Architekturen des Wissens. Wissenschaftstheoretische Grundpositionen im Theoriediskurs der Sozialen Arbeit. Weinheim, Beltz Juventa, 142–156.
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Müller, C. Wolfgang (1999): Wie helfen zum Beruf wurde. Band 1. Weinheim/Basel, Beltz.
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Zitiervorschlag
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