Das uneingelöste Erbe der gemeinwesenarbeiterischen Arbeitsprinzipien Dieter Oelschlägels
Michael May, Lothar Stock
Angesichts des Todes von Dieter Oelschlägel, der wie kein Zweiter die fachlichen und politischen Diskussionen über Gemeinwesenarbeit (GWA) in Deutschland geprägt hat, wollen wir in diesem Beitrag zentrale Überlegungen von ihm rekonstruieren, die aus unserer Sicht auch heute noch eine Perspektive für die aktuelle und zukünftige Ausrichtung der GWA bergen. Deshalb sprechen wir im Titel dieses Beitrages im Anschluss an Ernst Bloch (1976) von einem „uneingelösten Erbe“, weil viele von Dieter Oelschlägels konzeptionellen Überlegungen in ihrer Potentialität bisher noch unzureichend verwirklicht werden konnten. Uns ist bewusst, dass Dieter Oelschlägel von GWA als Arbeitsprinzip stets im Singular geschrieben und geredet hat. Allerdings gehen seine konzeptionellen Ideen darin lang nicht auf. Deshalb haben wir den in diesem Kontext sicher ungewöhnlichen Plural von gemeinwesenarbeiterischen Arbeitsprinzipien gewählt. Nicht geleistet werden kann in diesem Beitrag eine Würdigung des breiten (fach-)politischen Engagements von Dieter Oelschlägel. Um den Rahmen nicht zu sprengen, mussten wir uns diesbezüglich auf kleine Verweise in Nebenbemerkungen beschränken.
Emanzipation
Dieter Oelschlägel studierte bei C.W. Müller und hat nach eigenem Bekunden sich in seinen eigenen Arbeiten stark durch die von diesem „gelehrte politische Dimension der GWA“ (Lüttringhaus/Oelschlägel/Hinte 2007: 24) inspirieren lassen. Mit Müller zusammen hat er die auf Aufklärung zielende Emanzipationspädagogik als „halbierte Emanzipation“ (Müller/Oelschlägel 1975: 301) kritisiert. Zwar verschließe sich eine solche Pädagogik nicht den gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Möglichkeit, binde diese aber an das Vorhandensein kritisch-rationalen Argumentierens und letztlich an die Fähigkeit des Einzelnen, sich von gesellschaftlichen Abhängigkeiten zu befreien.
Vor diesem Hintergrund hat er nicht nur seine eigene Praxis als Gemeinwesenarbeiter im Berliner Projekt „Heerstraße Nord“, das damals bundesweite Aufmerksamkeit genoss, kritisch reflektiert (Oelschlägel 1975a). In der „Kontroverse zwischen unterschiedlichen Positionen der Praxiskritik“ (Arbeitsgruppe Gemeinwesenarbeit 1975: 165ff.) hat er gegenüber dem von Ursula Adams vertretenen „anwaltlichen“ Selbstverständnis von GWA, welches sie mit der angeblichen Organisationsunfähigkeit „randständiger Gruppen“ begründete, leidenschaftlich für ein Organizing der (Interessen der) Betroffenen plädiert (Oelschlägel 1975b). Er suchte dabei nach einer dritten Möglichkeit zwischen einem naiven Selbstaufklärungspostulat der Betroffenen und einem Avantgardekonzept, wie es in dieser Zeit einerseits theoretisch von der kritischen Theorie der Frankfurter Schule, andererseits aber politisch von damals wie Pilze aus dem Boden schießenden K-Gruppen beansprucht wurde, deren Kader sich jeweils als „Speerspitze der Arbeiterklasse“ wähnten.
Ebenso hat sich Dieter Oelschlägel gegen ein eingrenzendes Verständnis von GWA als sogenannte „dritte Methode“ der Sozialen Arbeit neben Einzelfallhilfe und sozialer Gruppenarbeit gewehrt. So war er vor dem Hintergrund dessen, dass sich in dem vom Handlungsdruck entlasteten Wissenschaftsbereich gesellschaftliche Antagonismen nacheinander bis zum Stadium der Widerspruchsfreiheit aufheben lassen, während sie sich in der Praxis alle gleichzeitig realisieren, generell skeptisch gegenüber der Entwicklung widerspruchsfreier Methoden und sah dies als größte Herausforderung für ein Projektstudium in der GWA (Oelschlägel 1976).
Inzwischen als Studiengangplaner an der damaligen Gesamthochschule (heute Universität) Kassel tätig, arbeitete er mit seinen Kollegen Jaak Boulet und Jürgen Krauss (1980) an einer Grundlegung von GWA als einem strukturierenden Arbeitsprinzip sozialer Berufsarbeit schlechthin. Diese rekonstruierte „zunächst auf der Erscheinungsebene“ (Klappentext) die historische Entwicklung der GWA, um dann vor dem Hintergrund einer Analyse der „gesellschaftlichen Funktion von Sozialarbeit/Sozialpädagogik“ (ebd.) deren „Methodenkonzepte [...] zu kritisieren“ (ebd.) und schließlich in einer „positive[n] Wendung dieser Kritik“ (ebd.) jenes „Arbeitsprinzip[.] Gemeinwesenarbeit in seiner gesellschaftstheoretischen, handlungstheoretischen und operationalen Dimension“ (ebd.) zu begründen.
Schon diese Formulierungen des Klappentextes verraten die Bezugnahme auf eine Analyse- und Theoriebildung in der Tradition des historischen und dialektischen Materialismus. Dabei werden als „[w]issenschaftstheoretische Umrisse eines handlungstheoretischen Referenzrahmens“ (ebd.: 251) praxisphilosophische Ansätze, wie die von Agnes Heller, Kosik, Bloch und Lefebvre sowie die an sie anschließenden Arbeiten von Negt/Kluge und Leithäuser, welche allesamt die Kategorien von Marx´ Kritik der politischen Ökonomie zu den alltäglichen Erfahrungen der Menschen zu öffnen versuchen (ebd.: 245ff.), ebenso aufgegriffen wie die „marxistische Handlungs- und Tätigkeitspsychologie“ (ebd.: 238ff.). Statt der heute üblichen arbeitsteiligen Ausdifferenzierung im Wissenschaftsbetrieb sowie der von diesem deutlich markierten Trennung zur Praxis werden auf dieser Basis dann unter einer emanzipatorischen Perspektive der „Wirkungszusammenhang des Alltagshandelns/ -bewußtseins“ (ebd.: 261ff.), im Zusammenhang mit dem der „interaktionellen und institutionellen Ebene“ (ebd.: 265 ff.) sowie dem „politisch-ökonomische[n] Wirkungszusammenhang“ (ebd.: 271ff.) ausgeleuchtet, um auf diese Weise einen „Referenzrahmen für die Entwicklung von Strategien bzw. die Begründung von Handlungsspielräumen“ (ebd.: 261) auszuarbeiten.
Vorgezeichnet ist somit ein Projekt, dass in wissenschaftlicher Hinsicht heute als ein „transdisziplinäres“ (Mittelstraß 2005; Bergmann et al. 2010) zu kennzeichnen wäre, welches „nicht nur die Grenzen zwischen den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen, sondern auch die zwischen den Wissenschaften und anderen gesellschaftlichen Bereichen“ (td-net 2008: 171) zu überwinden trachtet, um „den Bruch zwischen theoretischer und politischer Allgemeinheit zu kitten“ (May 2008: 230), der sich durch jene erwähnte Arbeitsteilung nicht nur innerhalb der Wissenschaften, sondern vor allem zwischen ihnen und der gesellschaftlichen Praxis gegenwärtig mehr denn je zu manifestieren scheint. Nicht eingelöst ist so der mit jener Grundlegung von GWA verbundene Anspruch, „über theoretische zu praktischen Verallgemeinerungen“ (Bader/Ludewig 2006: 111) zu kommen: vor allem aber der dabei mit dem Begriff „Gemeinwesen“ assoziierte Anspruch, Emanzipation in den einzelnen biographischen Lebensläufen mit gesellschaftlicher – ja, letztlich einer Emanzipation in gattungsgeschichtlicher Hinsicht zu vermitteln.
Im Anschluss an die Argumentation Oelschlägels (1975b) in seiner skizzierten Kontroverse mit Ursula Adam hat er gemeinsam mit Boulet und Krauss (1980: 158ff.) überzeugend dargelegt, wie „Emanzipation und Partizipation notwendigerweise in einem dialektischen Wechselverhältnis [stehen], indem sie sich gegenseitig voraussetzen und hervorrufen“ (ebd.: 289). Vor diesem Hintergrund gilt es dann umgekehrt herrschaftliche Blockierungszusammenhänge, wie sie von Betroffenen als „Grenzsituationen“ (Freire 1975: 82) in der Verwirklichung „menschlichen Gemeinwesens“ (Marx 1978: 408) – und damit als „verallgemeinerte[.] Interessen an menschlicher Verwirklichung“ (May 2008: 230) – artikuliert werden, in einer solchen emanzipatorischen Absicht auch „mit der wissenschaftlichen Verallgemeinerung einer darauf bezogenen Theoriebildung“ (ebd.) zu vermitteln.
GWA als Arbeitsprinzip
Im Zuge dessen, was Boulet/Krauss/Oelschlägel in ihrer Grundlegung als „operationale[n] Zugriff“ (1980: 281ff.) bezeichnen, entfalten sie vor dem Hintergrund von Oelschlägels angesprochenen Überlegungen zu den Herausforderungen des Projektstudiums im Hinblick auf eine „Theorie-Praxis-Integration“ (ebd.: 281) einen von ihnen als Arbeitsprinzip bezeichneten, „intermediären Rahmen […], in dem die konkreten gesellschaftlichen Widersprüche mit den vorliegenden Methoden, Techniken, Interventionsformen welcher Herkunft auch immer [...] unter strategisch-politisch-organisatorischem Vorzeichen“ (ebd.: 285) konkret „im jeweiligen Praxisfeld“ (ebd.: 281) und „Arbeitskontext“ (ebd.: 287) als „Arbeitsformen“ (ebd.) „»orchestriert« [...] entwickelt werden können“ (ebd.). Als „Ordnungskriterien bzw. Dimensionen“ (ebd.: 293), welche „den integrierten Zugriff“ (ebd.) auf „ein räumlich erkennbares und »subjektiv« wahrgenommenes Gemeinwesen“ (ebd.) als „sozialräumliche Größe organisieren helfen“ (ebd.), differenzieren sie zwischen territorialer, funktionaler und kategorialer GWA.
Wenn die Autoren darlegen, wie unter einem territorialen Blickwinkel Gemeinwesen „als politisch-ökologischer Raum“ (ebd.: 293) erscheint, grenzen sie sich mit dem Attribut „politisch“ von evolutionären Vorstellungen der Chicagoer Schule ab (Keim 1978) und verweisen auf die gesellschaftliche Produktion eines solchen Raumes. Wenn sie dabei zugleich auch „das dialektische Wechselverhältnis zwischen Raum und Erfahrung“ (Boulet/Krauss/Oelschlägel 1980: 293) betonen, zeigen sich deutliche Parallelen zu Henri Lefebvres (2006; 2018) Raumtrias, die „vieles aufgreift, was 25 Jahre später zum festen Bestandteil sozialwissenschaftlichen Wissens“ (Löw/Sturm 2019: 11) werden sollte und noch heute differenzierte Sozialraumanalysen zu inspirieren vermag. Der in der Grundlegung entfaltete territoriale Blickwinkel zeichnet dabei zugleich auch eine dialektische Vermittlung (May 2016) der beiden bis heute unterschiedenen „begrifflichen Raum-Auffassungen [...] als a) Lagerungs-Qualität der Körperwelt b) [...] »Behälter« aller körperlichen Objekte“ (Einstein 1960: XIII) bzw. a) relationaler und b) Container-Raum vor.
Wenn in dieser Grundlegung der „politisch-ökologische[.] Raum […] als relativ selbstständiges sozial-räumliches Gebilde“ (Boulet/Krauss/Oelschlägel 1980: 293) bezeichnet wird, kommt unter Bezug auf die von Oelschlägel schon zuvor fokussierte Bearbeitbarkeit gesellschaftlicher Widersprüche bereits die dann ebenfalls erst 25 Jahre später im Zusammenhang mit der in den Politics of Scale (Wissen/Röttger/Heeg 2008) als „konflikthafte Konstruktion räumlicher Hierarchien und deren strukturierende Wirkung auf soziales Handeln“ (Röttger/Wissen 2005: 219) näher untersuchte Frage in den Blick, „inwieweit gesellschaftliche Widersprüche erfolgreich bearbeitet werden könnten bzw. inwieweit es subalternen Akteuren gelingt, diese Widersprüche zu politisieren und bestehende Machtverhältnisse herauszufordern“ (ebd.). Mit dem Begriff „relativ selbständiges sozial-räumliches Gebilde“ verbinden die Autoren die doppelte Zielsetzung einer Bildung von Kommunikationsstrukturen und der Ausdehnung von Partizipationsmöglichkeiten als „Herstellung einer sozialen wie politischen Öffentlichkeit“ (Boulet/Krauss/Oelschlägel 1980: 294) ohne dabei in die Illusion vieler aktueller sozialräumlicher Ansätze zu verfallen, die unreflektiert vermeinen, ihren Auftrag gemäß lokaler Probleme lösen zu können, deren strukturelle Ursachen und Bearbeitungsbedingungen und -maßgaben auf einer ganz anderen, übergreifenden räumlichen Maßstabsebene liegen.
Als Gegenstand funktionaler GWA, der nur in diesem Rahmen zu bearbeiten ist, werden dann in der Grundlegung „jene gemeinwesenspezifischen Lebensbedingungen“ (ebd.) ausgewiesen, „die für eine befriedigende Handhabung solcher Bedürfnisse notwendig sind, die mit »reproduktiven« Bedürfnissen bezeichnet werden können (Reproduktion hier gebraucht im Doppelsinn der unmittelbaren Wiederherstellung erschöpfter Arbeitskraft als auch der Sicherung langfristiger Anforderungen an die zukünftige Generation, d.h. Sozialisation) […] und die damit […] auch »Funktionen« des Gemeinwesens genannt werden“ (ebd.). Angesprochen ist damit bereits die erst in den letzten Jahren im Zusammenhang mit dem, was als „Krise in der sozialen Reproduktion“ (trouble everyday collective 2014) bezeichnet wird, thematisierte und politisierte Frage einer Vermittlung von Care und Gemeinwesenarbeit (May 2014).
Schließlich geht es in der kategorialen GWA als „strategische Ergänzung“ (Boulet/Krauss/Oelschlägel 1980: 300) territorialer und funktionaler Ansätze darum, Menschen mit einem gemeinsamen Kennzeichen – wie z.B. Lebensalter, eine bestimmte Problemsituation, Herkunft etc. – in einem umschriebenen Sozialraum zu organisieren, zwischen denen noch keine Gruppenbeziehung zu bestehen braucht. Letztere hinsichtlich gemeinsamer Problem- und Interessen-Lagen in Interaktion miteinander zu bringen, zielt nicht nur darauf, deren Isolation in ihren Problemen und ihre damit nahezu zwangsläufige Abhängigkeit von einem juristisch-administrativ-therapeutischen Management der Bedürfnisbefriedigung (Fraser 1994: 240) zu durchbrechen und statt dessen dialogische, partizipative Prozesse der Bedürfnisinterpretation (ebd.) anzustoßen, um diese dann politisch machtvoll im Sinne von Hannah Arendt (1998) zu organisieren.
Wenn aber GWA in dieser Weise auf „die Herstellung politischer Handlungszusammenhänge“ (Boulet/Krauss/Oelschlägel 1980: 191) zielt, um „damit Formen »autonomer Vergesellschaftung« auf aktuellem historischen Niveau zu ermöglichen“ (ebd.: 192), scheint eine auf jeweils ganz unterschiedliche Reproduktionsbedürfnisse bezogene Organisationsform (Negt 1976) angemessen, weil nur so – durch vielfältige Vernetzung – ein nicht-ausgrenzendes funktionales Gemeinwesen zu entstehen vermag. Zwar ist in der Vergangenheit versucht worden, über „kategoriale und interkategoriale Feste; »kategoriale« Treffen mit anderen Gruppen außerhalb des Gemeinwesens“ (Boulet/Krauss/Oelschlägel 1980: 301) Möglichkeiten zu „erschließen für »Intergruppen-Arbeit«, wodurch das Verhältnis zwischen gruppenspezifischen Interessen und gemeinsamen, gruppenüberschreitenden Interessen erlernt werden können“ (ebd.: 300). Diesbezüglich sind heute, angesichts einer Zunahme ideologischer Abschottungen – z.B. auf der Ebene ethnischer und lebensstilbezogener Komponenten –, sicher um einiges verstärktere und auch methodisch anders gelagerte Bemühungen erforderlich.
Um zu verhindern, dass durch „Direktübertragung“ (Negt/Kluge 2001a: 536) von Privat- und Gruppeninteressen in ein gesamtgesellschaftliches Verhältnis es „zu sich überstürzenden Geltungsansprüchen [kommt], die häufig die Tendenz haben, einander zu zerstören“ (Negt/Kluge 2001b: 709), wäre Negts (1976) Devise „Nicht nach Köpfen, sondern Interessen organisieren“ auf solche elementaren Mangel- oder Unterdrückungszusammenhänge zu beziehen, die für eine darauf bezogene Politik der Bedürfnisinterpretation zunächst seitens der Betroffenen einer eigenen Öffentlichkeit bedürfen. Perspektivisch läuft dies auf eine intersektionalitätssensible kategoriale Gemeinwesenarbeit (May 2017: 167ff.) hinaus.
Angelegt ist diese Idee schon – wenngleich auch noch nicht auf Intersektionalität bezogen – wenn Dieter Oelschlägel in Weiterführung von Michael Winklers (1988) Konzept sozialpädagogischen Ortshandelns für „die Herstellung von Infrastrukturen“ (Oelschlägel 2007: 63) plädiert, in denen die in der Verwirklichung menschlichen Gemeinwesens Blockierten „ihre Bedürfnisse auch gegen das Gesellschaftssystem produzieren können“ (ebd.), um damit zugleich auch die „handelnde Aneignung gesellschaftlich vorhandener Möglichkeiten“ (ebd.) zu befördern. Konzentriert sich Winklers Konzept darauf, „in der Gestalt des Ortes [...] Aneignungsmaterial zur Verfügung" (Winkler 1988: 281) zu stellen, „über welches sich der Bildungsprozess des Subjekts entfalten" (ebd.) könne bzw. solle, geht Oelschlägel somit weit darüber hinaus, auch in dem er in seinem geweiteten Begriff von sozialpädagogischen Ortshandeln Gelegenheiten mit einbezieht, in denen sich „informelle alltägliche Sozialbezüge ausbilden“ (Oelschlägel 2007: 63) können, ähnlich wie das später dann auch Winkler in seiner „[k]leine[n] Skizze einer revidierten Theorie der Sozialpädagogik“ (vgl. 2007: 63) gefordert hat.
Soziale Kulturarbeit – kulturelle Sozialarbeit – Gemeinwesenarbeit?
Wenn Dieter Oelschlägel „die Herstellung von Infrastrukturen“ (Oelschlägel 2007: 63) fordert, in denen die Zielgruppen von GWA „ihre Bedürfnisse auch gegen das Gesellschaftssystem produzieren können“ (ebd.), um damit zugleich die „handelnde Aneignung gesellschaftlich vorhandener Möglichkeiten“ (ebd.) zu befördern, dann ist damit zumindest implizit schon eine spezifische Art von Kulturarbeit angesprochen, für die er sich ebenso leidenschaftlich engagiert hat.
Bereits in den ersten Settlements – egal ob Toynbee Hall in London, Hull House in Chicago oder SAG Ost in Berlin – war die Auseinandersetzung mit Kultur ein zentraler Bestandteil der dortigen Arbeit. So ging es in Whitechapel im Londoner Eastend primär zunächst erst einmal um die Vermittlung der gesellschaftlichen Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben, Rechnen, später folgten dann die Einrichtung einer Bibliothek samt Lesesaal sowie vielfältige Gemälde- und Kunstaustellungen in den eigenen Räumlichkeiten. Im 42. Bezirk von Chicago veranstaltete Jane Addams mit ihren Mitstreiterinnen Lese- und Diskussionsabende und öffnete das von ihr geführte Haus für Tanzveranstaltungen sowie Familienfeiern. Und auch in Berlin-Friedrichshain hielt Pfarrer Siegmund-Schultze vielfältige Kulturangebote insbesondere in Clubform für unterschiedliche Personengruppen des Wohngebiets rund um den Schlesischen Bahnhof vor, nicht zu vergessen die „Kaffeeklappe“ als späterer Anlaufpunkt für arbeitslose Jugendliche und frühe Form einer Straßensozialarbeit. Auch in der 1971 erfolgten Umbenennung des Verbands Deutscher Nachbarschaftsheime e.V. in Verband für sozial-kulturelle Arbeit e.V. spiegelt sich diese Kulturaffinität wieder. Dieter Oelschlägel hat nicht nur über viele Jahre hinweg die Arbeit dieses Verbands in unterschiedlichen Funktionen, u. a. als Vorsitzender, begleitet. Er hat sich intensiv auch mit dessen Geschichte sowie der der GWA insgesamt beschäftigt und dazu international publiziert. Gearbeitet hat er in den letzten Jahren insbesondere zu den jüdischen Settlements. Den Abschluss dieser Forschungen als Gesamtwerk verhinderte jedoch seine schwere Krankheit. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist seine Archivierung sämtlicher Publikationen zur GWA im deutschen Sprachraum. Einher mit all diesen Tätigkeiten ging die inhaltliche Auseinandersetzung um Wesen und Bedeutung von Kultur in Verbindung mit Sozialer Arbeit. Hierauf soll im Nachfolgenden eingegangen werden.
Die oben angeführten Beispiele kultureller Aktivitäten und Angebote in den Anfangsjahren der Settlementbewegung verweisen allerdings auf einen eher eingeschränkten, weitgehend passiven Kulturbegriff. Kultur ist demnach ein „dem Menschen Äußerliches“ (Oelschlägel 1980a: 4), ein in den unterschiedlichen Lebensphasen rezeptiv Anzueignendes. Demgegenüber steht ein Verständnis von Kultur als Produkt menschlicher Auseinandersetzung mit der natürlichen sowie gesellschaftlich geschaffenen Umwelt. Das Individuum ist nunmehr nicht länger passiver Rezipient von Kultur, sondern aktiver Produzent derselben im Zusammenspiel mit den jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungen. Der Kulturbegriff, über Jahrhunderte hinweg ausschließlich verkörpert in Form der „Hochkultur“, wird damit erweitert um eine „Kultur für alle“ (Hoffmann 1979). Wird Kultur nunmehr „weitgehend in dem umfassenden Sinn von Lebensweise oder Lebenszusammenhang verstanden“ (Metscher 1980: 61), so sind „Kultur- und Sozialarbeit als zwei Seiten einer Medaille“ (zu betrachten). Gerade die Bürger- und Gemeinschaftshäuser haben die Chance, beide Seiten zum Vorschein bringen zu lassen (Oelschlägel 1980b: 47). Es lohnt sich diese beiden Seiten etwas näher anzuschauen.
Sowohl die Sozial- als auch die Kulturarbeit werden von Oelschlägel als professionelle Tätigkeit verstanden, wobei insbesondere bei Letzterer „die Grenzen zum nichtprofessionellen Raum fließend“ (Oelschlägel 1980a: 3) sind. Die klassische Form der Kulturarbeit findet an Orten und in Institutionen sowie in der Tradition der „Hochkultur“ statt (kommunale Kulturämter, Bibliotheken, Museen, Theater etc.), während soziale Kulturarbeit ihren Fokus auf den (neuen) Bereich der „Kultur für alle“ richtet: „Bibliotheken machen Zielgruppenarbeit, Kulturämter veranstalten Stadtteilfeste, Museen pädagogisieren ihre Arbeit, Kulturläden in Stadtteilen werden eingerichtet“ (ebd.). Entgegen der „herrschenden Kultur“, die für Menschen mit geringem Einkommen zu teuer ist und auch nicht deren Bedürfnissen oder Möglichkeiten entspricht, soll mit sozialer Kulturarbeit explizit diesem Teil der Bevölkerung der Zugang zur Kultur als Teil ihrer Lebenswelt eröffnet sowie die eigene, produktive Auseinandersetzung mit bzw. die Aneignung derselben ermöglicht werden. Soziale Kulturarbeit nähert sich somit dem primären Adressat*innenkreis der Sozialen Arbeit sowie deren allgemeinen Zielsetzung der Ermöglichung von Teilhabe. Damit entsteht zwangsläufig aber auch die Gefahr der vorschnellen Instrumentalisierung. „Viele Sozialarbeiter erwarten – wie vorher von den Therapieformen – von der Kulturarbeit eine Lösung des Methodendefizits, eine Lösung ihrer Praxisprobleme“ (ebd.). Dies wiederum steht im diametralen Widerspruch zum Verständnis von Kultur als „Selbsttätigkeit der Individuen im Interesse ihrer Selbstentfaltung, … (als) die genußreiche Beziehung auf menschliche Bedürfnisse“ (Haug 1978: 102).
Der Sozialarbeit selbst attestiert Oelschlägel generell ein „kulturelles Defizit“ (Oelschlägel 1980a: 7), insbesondere wenn es um das Kerngeschäft der Sozial- und Gesundheitsfürsorge sowie der Jugendhilfe geht, oder gar „eine antikulturelle Haltung“ (ebd. 1980b: 48). Wenn überhaupt, dann würden kulturelle Aktivitäten, vordringlich in der Kinder- und Jugendarbeit, „instrumentell eingesetzt: Videoarbeit um bestimmte Jugendliche zu erreichen und an die Einrichtung zu binden; Theaterarbeit, um bestimmte pädagogische Ziele zu transportieren“ (ebd.). Dies hat aber wenig bis nichts mit Kultur als umfassender menschlicher Selbstentfaltung zu tun, wie diese oben dargelegt wurde. Folglich muss sich Sozialarbeit ein derartiges Selbstverständnis im Sinne einer „Kultur für alle“ zunächst erst einmal selbst aneignen, ohne dabei aber ihre Adressat*innengruppe in ihrer Gesamtheit aus dem Blick zu verlieren. Die Gefahr, dass sich eine kulturelle Sozialarbeit ausschließlich an entsprechend affine Bevölkerungsgruppen richtet, einhergehend mit dem Ausschluss all der anderen, ist virulent und hat in der Folge bei einer Reihe von Nachbarschaftshäusern in der Praxis schließlich auch zu jener Angebotsstruktur geführt, die das zunehmende Wegbleiben der ursprünglich angesprochenen Adressat*innen dann nachhaltig beförderte.
Anknüpfend an die Tradition und Entstehungsgeschichte der Settlementbewegung Ende des 19. Jahrhunderts im anglo-amerikanischen Sprachraum sowie an die praktische Arbeit der ersten deutschen Nachbarschaftshäuser zu Beginn des 20. Jahrhunderts sieht Oelschlägel die Gemeinwesenarbeit als den Ort, an dem Soziales und Kultur nicht nur zusammenwachsen, sondern darüber hinaus sich gar gegenseitig bedingen. Gemeinsame Zielperspektive beider Bereiche ist die Bewusstmachung individueller wie kollektiver Lebensbedingungen und deren Änderung. Dabei bedienen sich „soziale Kulturarbeit und GWA vielfach derselben Interventionen, Medien, etc.: Stadteilfeste, Stadtteilzeitungen, Straßentheater, Stadtspiele, Videoprojekte, Stärkung des Vereinslebens, Ausstellungen, Kulturläden etc.“ (Oelschlägel 1979: 45). Oder um es in den Worten von Rolf Schwendter auszudrücken: „Gemeinwesenarbeit wird wirkungslos wenn nicht Medien mitverwendet werden; Soziale Kulturarbeit wird unmöglich, wenn nicht durch Gemeinwesenarbeit strukturelle Handlungsvoraussetzungen geschafften werden, damit Kultur als Aneignung von Umwelt erfolgen kann“ (zitiert nach ebd.: 46).
Die vorangegangenen Ausführungen müssen im Kontext der Diskussion um die Einrichtung eines postgradualen Studiengangs „Soziale Kulturarbeit“ an der damaligen Gesamthochschule (heute: Universität) Kassel gesehen werden, also als Versuch Kultur und Soziales im akademischen Bereich zusammen zu führen. Auch dies kann als Teil des uneingelösten Erbe Dieter Oelschlägels angesehen werden. Studienorte, an denen diese beiden Bereiche zumindest eine räumliche Nähe in Form eines gemeinsamen Fachbereichs aufweisen, sind in der deutschen Hochschullandschaft nach wie vor in nur sehr überschaubarer Anzahl vorhanden (z.B. Hochschule Düsseldorf, Hochschule Merseburg). Bei den Darlegungen unberücksichtigt blieb die hinter der Debatte um (kulturelle) Sozialarbeit oder (soziale) Kulturarbeit in der Praxis vielfach verborgene Diskussion um die konzeptionelle und inhaltliche Ausrichtung der Nachbarschaftshäuser in den 1970er und 1980er Jahren als Orte der Pädagogik (erziehend verändern zur individuellen Selbsthilfe) oder aber als Orte der Politik (agitierend und organisierend). Diese Debatte fand sich auch in der zeitgleich geführten Auseinandersetzung um das Selbstverständnis des Verbands für sozial-kulturelle Arbeit als Fach- oder aber als Dachverband wieder. An beiden Diskussionssträngen wirkte Dieter Oelschlägel mit zahlreichen Beiträgen nachhaltig mit.
Auch in der Folgezeit brachte sich Dieter Oelschlägel immer wieder in die Diskussion um die Weiterentwicklung der GWA in Deutschland ein. Hierzu zählen zahlreiche wissenschaftliche Aufsätze, sein persönliches Engagements im Duisburger Armutsstadtteil Bruckhausen, aber auch seine jahrelange aktive Mitarbeit in den Treffen und Veranstaltungen der Sektion GWA der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit, der Bundesarbeitsgemeinschaft Soziale Stadtentwicklung und Gemeinwesenarbeit und des Forum Community Organizing.
Inneres und äußeres Gemeinwesen
Wenn es so etwas wie eine inhaltliche Klammer im Werk von Dieter Oelschlägel gibt, wäre es wohl die dialektische Denkfigur, dass „Soziale Arbeit in allen ihren Facetten stets auf das äußere Gemeinwesen [...] gerichtet ist“ (Oelschlägel 1983: 111) in seinen territorialen, funktionalen und kategorialen Dimensionen, „um das innere Gemeinwesen zum Ausdruck zu bringen“ (ebd.) und „damit Formen »autonomer Vergesellschaftung« auf aktuellem historischen Niveau zu ermöglichen“ (Boulet/Krauss/Oelschlägel 1980: 192). Im Hintergrund steht dabei ein sehr viel weiter als der übliche Sprachgebrauch greifender Begriff von Gemeinwesen, wie er von Marx (1978: 408) als das „menschliche Wesen“ (ebd.) selbst gefasst wurde: „das physische und geistige Leben, die menschliche Sittlichkeit, die menschliche Tätigkeit, der menschliche Genuß [...]. Wie die heillose Isolierung von diesem Wesen unverhältnismäßig allseitiger, unerträglicher, fürchterlicher, widerspruchsvoller ist als die Isolierung vom politischen Gemeinwesen, so ist auch die Aufhebung dieser Isolierung und selbst eine partielle Reaktion, ein Aufstand gegen dieselbe um so viel unendlicher, wie der Mensch unendlicher ist als der Staatsbürger, und das menschliche Leben als das politische Leben“ (ebd.).
Dies ist dann auch die Begründung für die Bedeutung, die Oelschlägel in seiner zweiten Lebenshälfte der soziokulturellen Arbeit beigemessen hat. Seine emanzipatorischen Zielsetzungen hat er damit in keinster Weise relativiert, ist für ihn doch vor diesem Hintergrund das „Ziel, das ›innere‹ Gemeinwesen zum Ausdruck zu bringen“ (Oelschlägel 1983: 111) identisch „mit dem Ziel der Emanzipation“ (ebd.). Das innere Gemeinwesen zum Ausdruck zu bringen, bedeutet so auch weit mehr als eine platte „Ressourcenorientierung“, wie sie heutzutage im Kontext von Sozialraumorientierung gerne propagiert wird (vgl. z.B. Früchtel/Budde/Cyprian 2013: 178). Letztere steht im Kontext der neoliberalen Programmatik des „Forderns und Förderns“ stets in Gefahr, als „aktivierungspädagogische[r] Transformationsriemen neo-sozialer Anforderungen“ (Kessl 2005: 216) missbraucht zu werden.
Oelschlägels Programmatik, „das ›innere‹ Gemeinwesen zum Ausdruck zu bringen“ (1983: 111) gründet hingegen auf der Marxschen Erkenntnis, dass jenseits der mit jenem Fordern verbundenen Zumutungen, allein schon dadurch dass im Hinblick auf kapitalistische Verwertungsinteressen „ein Detailgeschick treibhausmäßig [ge]fördert“ (1988: 381) wird, dies unweigerlich mit der „Unterdrückung einer Welt von produktiven Trieben und Anlagen“ (ebd.) einhergeht. Genau diese produktiven Triebe und Anlagen des inneren Gemeinwesens durch ein spezifisches auf das äußere Gemeinwesen gerichtetes und damit sozial geweitetes sozialpädagogisches Ortshandeln in entsprechenden soziokulturellen Praxen zur Verwirklichung zu bringen, darin liegt der Kern des uneingelösten Erbes von Dieter Oelschlägel.
Link zu einem Interview mit Dieter Oelschlägel aus dem Jahr 2003: https://www.youtube.com/watch?v=SHH6HFHVlzA
Literatur
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Zitiervorschlag
May, Michael und Lothar Stock (2019): Das uneingelöste Erbe der gemeinwesenarbeiterischen Arbeitsprinzipien Dieter Oelschlägels. In: sozialraum.de (11) Ausgabe 1/2019. URL: https://www.sozialraum.de/das-uneingeloeste-erbe-der-gemeinwesenarbeiterischen-arbeitsprinzipien-dieter-oelschlaegels.php, Datum des Zugriffs: 21.11.2024