Das Handlungskonzept der Sozialraumorientierung im Kontext der Covid-19-Pandemie
Aktuelle Betrachtungen zu Auswirkungen und Bewältigungsmöglichkeiten
Martin Becker
1. Einleitung
Der folgende Beitrag befasst sich mit der Fragestellung, inwiefern die Covid-19-Pandemie Auswirkungen auf die Sozialraumorientierung als Handlungskonzept Sozialer Arbeit hat und hatte und wie mit den möglichen Einflüssen und Veränderungen fachlich gestaltend umgegangen werden könnte. Dazu blicke ich einleitend auf die leitenden Definitionen zum Fachkonzept der Sozialraumorientierung. Nachdem dort die begrifflichen und inhaltlichen Grundlagen dieses Konzeptes geklärt und deren Hauptmerkmale aufgezeigt sind, wird im zweiten Teil des Beitrags das Phänomen der Covid-19-Pandemie betrachtet. Auch hierzu gilt es zunächst einige Begriffe zu klären und die wesentlichen Merkmale und Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie sowie deren mögliche Konsequenzen aufzuzeigen. Weiterführendes Ziel dieser Betrachtung ist dann die Identifikation möglicher (Aus)Wirkungen der Pandemie auf Soziale Arbeit nach dem Handlungskonzept Sozialraumorientierung. Es geht dabei nicht um mögliche betriebs- und volkswirtschaftliche Folgen, im Laufe der Pandemieentwicklung getroffener Entscheidungen und Maßnahmen. Auch denkbare Auswirkungen der Pandemiebewältigungspolitik auf zukünftige politische Prozesse und Entscheidungen, können bestenfalls kurz skizziert werden. Die Identifikation möglicher Folgen aus pandemiebedingten Maßnahmen erfolgt statt dessen zunächst und vorwiegend durch hypothesenartige Formulierungen logischer Schlüsse auf der Basis fachlicher Erkenntnisse und wird ergänzt um einige bereits vorhandene empirische Befunde. Im abschließenden Fazit werden wesentliche Aspekte der angesprochenen Überlegungen und Erkenntnisse nochmals kurz aufgegriffen und im Hinblick auf weitere zu untersuchende Fragestellungen erweitert.
Um darauf hinzuweisen, dass mit und durch Sprache und Schrift im folgenden Beitrag grundsätzlich alle Menschen, unabhängig von Geschlecht und anderen Merkmalen, be- und geachtet werden, wird die symbolische Darstellung der Genderschreibweise mit einem Doppelpunkt verwendet. Es sei dabei erwähnt, dass dieser Symbolverwendung weder eine bestimmte Ideologie zu Grunde liegt, noch aus dieser Schreibweise ein Fetisch gemacht werden sollte, wie Erich Fromm schon 1974 schrieb (2005: 14).
2. Sozialraumorientierung
Als Handlungswissenschaft verbindet Soziale Arbeit ihre auf Erklärungs- und Wertewissen basierenden normativen Ziele mit theoretisch fundiertem und durch empirische Forschung gewonnenem Veränderungswissen zu professionellen Interventionen, mittels fachgerechten Kombinationen geeigneter Methoden und Techniken. Die Schwerpunkte der Konzepte und Methoden Sozialer Arbeit haben sich im Laufe der Zeit, entsprechend dem gesellschaftlichen Wandel, immer wieder verändert und werden auch in Zukunft immer wieder weiterentwickelt werden (müssen). So hat sich beispielweise der Begriff Sozialraumorientierung in den letzten Jahrzehnten in der Sozialen Arbeit und darüber hinaus verbreitet (Becker 2006).
2.1 Was verstehen wir unter Sozialraumorientierung?
Die Antwort auf diese Frage kann in diesem Beitrag nicht in aller für wissenschaftliche Abhandlungen erforderlichen Ausführlichkeit expliziert werden, weshalb auf die Lektüre des Handbuch Sozialraumorientierung verwiesen sei (Becker 2020), in dem die folgenden zusammenfassenden Aussagen hergeleitet und begründet werden. Zunächst gilt es für diesen Zweck den Begriff Sozialraum zu definieren.
Sozialraum wird hier als sozial und räumlich strukturierter Kontext verstanden, der von Menschen und ihren Vergesellschaftungen unterschiedlich konstruiert, produziert und interpretiert wird, und zu dem Menschen in unterschiedlichen Relationen (Aufenthalt, Begegnung, Interaktion, Zugehörigkeit, etc.) stehen (Becker 2020: 15ff.).
Mit dem Begriffspaar Sozialraum-Orientierung wird deutlich gemacht, dass das hier zu beschreibende Handlungskonzept Sozialraumorientierung eine bestimmte inhaltliche Ausrichtung hat und die Perspektive auf den programmatischen Aspekt Sozialraum, in oben beschriebener Bedeutung, richtet. Diese spezifische Sichtweise bietet Orientierung im Sinne einer konzeptionellen Ausrichtung des Handelns (s. u. zu Handlungskonzept) auf Zusammenhänge sozialer und räumlicher Kontexte.
Grundlage dieser Orientierung ist die Beschäftigung mit der sozialen Konstitution und Konstruktion von Räumen sowie deren unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen und gesellschaftlichen Bedingtheiten. Dabei genügt es nicht, um die soziale Bedingtheit der Konstitution und Konstruktion von Raum, entsprechend der noch zu erwähnenden Raumtheorien, zu wissen. Vielmehr bedarf es zur Orientierung ebenfalls der Kenntnis und des Verstehens unterschiedlicher Raumdefinitionen gesellschaftlicher Akteur:innen (Institutionen und Bevölkerung) und deren zu Grunde liegenden Interessen. Ganz gleich, ob es sich um ein territoriales Raumverständnis, wie z. B. für behördliche Planungsräume üblich, oder um milieubedingt unterschiedliche Aktionsräume von Bevölkerungsteilen handelt, lassen sich die jeweiligen Prozesse des „Raum schaffens“ (Schroer 2006) bzw. der „(An)Ordnung von sozialen Gütern und Lebewesen“ (Löw 2001) sowie der sozialen „Syntheseleistungen“ nach charakteristischen Merkmalen untersuchen.
Folgerichtig sind dezentrale räumlich-territoriale Orientierungen an lokalen Steuerungseinheiten (Stadt, Gemeinde, Quartier) und sozialpolitische Orientierungen an selbstverantwortlichen Individuen und leistungsfähigen Gemeinschaften (Nachbarschaft, Bürgerengagement, Kommunitarismus nach Etzioni 1998) kritisch zu hinterfragen und mit den Verursachungsgründen und Bewältigungsbedingungen sozialer Probleme zu konfrontieren (Kessl/Reutlinger 2010).
Soziale Arbeit beschränkt sich als normative Handlungswissenschaft (Staub-Bernasconi 2007) nicht auf die Analyse sozialer Probleme als ihrem disziplinärem Gegenstand, sondern setzt sich, auf der Basis ihrer normativen Orientierung an den allgemeinen Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit, professionsspezifische Ziele und gestaltet daran ausgerichtete professionelle Interventionen. So lässt sich zusammenfassend folgende Definition formulieren:
Sozialraumorientierung meint ein Handlungskonzept ganzheitlichen, nicht individuenzentrierten, Denkens und Handelns, das auf sozial und räumlich strukturierte Kontexte bezogen wird und die Entwicklung menschenwürdiger und sozial gerechter Lebensverhältnisse zum Ziel hat (Becker 2020: 26).
Sozialraumorientierung (SRO) [wird] als Handlungskonzept Sozialer Arbeit beschrieben, wohin gegen Gemeinwesenarbeit (GWA) als Handlungsfeld Sozialer Arbeit in und mit Gemeinwesen verstanden wird (Becker 2020: 28).
Handlungskonzepte fassen, entsprechend der Methodologie Sozialer Arbeit (Geißler/Hege 2007; Galuske 2007), grundlegende Ansatzpunkte einer Disziplin (hier Soziale Arbeit) theoriegeleitet zusammen und beinhalten, mit der Betonung eines bestimmten programmatischen Aspektes, eine spezifische Sichtweise der Erklärung sozialer Prozesse (Becker 2020: 13f).
Weil Handlungskonzepte, nach oben genanntem Verständnis, Modellierungen darstellen, in welchen Ziele, Inhalte, Methoden und Verfahren in einen sinnhaften Zusammenhang gebracht werden, bedarf das Handlungskonzept Sozialraumorientierung einer Zielbestimmung. Diese ergibt sich, wie bereits erwähnt, aus der disziplinären Zuordnung zur Sozialen Arbeit. Mit Ernst Engelke et al. (2016: 229) können wir Gegenstandsbereich und Anliegen Sozialer Arbeit in der Verhinderung und Bewältigung sozialer Probleme sehen und dies als permanente Aufgabe in Gesellschaften begreifen, die Menschenwürde und soziale Gerechtigkeit zum ethischen Leitbild zu erheben. Die Frage nach dem Sozialen kann aus soziologischer Perspektive dahingehend beantwortet werden, wonach das Soziale „…der zentrale Grundbegriff [ist], mit dem jede geordnete Form von Aufeinanderbezogenheit, Interdependenzen, Wechselwirkungen, Kommunikationen und Bindung zwischen Handlungen oder Systemen bezeichnet wird“ (Groenemeyer 2012: 21).
Auf der Basis der o. g. Grundlagen sozialraumorientierter Sozialer Arbeit, lassen sich deren wesentliche Aspekte und spezifische Aufgaben zu Dimensionen des Handlungskonzeptes Sozialraumorientierung zusammenfassen, die das Spektrum der in das Handlungskonzept Sozialraumorientierung einzubeziehenden Aufgaben strukturieren und auf alle Handlungsfelder Sozialer Arbeit übertragbar machen [1].
Dimension I. Lebensbedingungen und Lebenswelt:
Analyse und Monitoring der sozialräumlichen Lebensbedingungen und deren Bedeutungszuschreibungen seitens der Adressat:innen sowie Orientierung an deren Interessen und Willen zum Handeln.
Dimension II. Ressourcen und Potenziale:
Erschließung, Förderung und Ausbau persönlicher (individueller) und sozialräumlicher (institutioneller) Ressourcen und Potenziale.
Dimension III. Partizipation und Engagement:
Ermöglichung und Förderung gesellschaftlicher Teilhabe sowie von bürgerschaftlichem Engagement und Selbstorganisation.
Dimension IV. Kooperation und Vernetzung:
Entwicklung und Förderung ressort- und disziplinübergreifender Zusammenarbeit mit allen relevanten Akteur:innen, die Einfluss auf die im jeweiligen Handlungsfeld zu bearbeitenden sozialen Prozesse ausüben.
Dimension V. Themen- und Projektarbeit:
Zielgruppenübergreifendes Bearbeiten von Themen mit Relevanz für und im Interesse der Adressat:innen bzw. der Bevölkerung.
Dimension VI. Qualitätsentwicklung und Finanzierung:
Entwicklung und Sicherung qualitätsvoller Arbeit nach Standards sozialraumorientierter Arbeit sowie der Finanzierung fallübergreifender und fallunspezifischer Arbeit.
2.2 Was macht nun eine gute Sozialraumorientierung aus?
Zu allererst ein klares und konsistentes Begriffsverständnis, das auf die Interdependenzen sozialer und räumlicher Kontexte fokussiert und nicht den Fehler begeht, am Containermodell verhaftet zu bleiben und „Sozialraum“ als territorialen Ersatzbegriff für Stadtteil, Quartier, Aktionsraum oder soziales Netzwerk zu verwenden. Weitere „Gütekriterien“ sind neben raumtheoretischer Fundierung, die Integration der Konzepte Ressourcen- und Lebensweltorientierung sowie der Netzwerktheorie und partizipativer Organisationskonzepte. Daraus ergibt sich eine auf dem humanistischen Menschenbild gründende professionelle Haltung, die auf nachteilsausgleichende Unterstützung, partizipative Kooperation und emanzipative Selbstorganisation setzt.
2.3 Warum spielt Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit eine so große Rolle?
Für die seit Jahren feststellbare starke Verbreitung des Begriffes Sozialraumorientierung gibt es sehr unterschiedliche Gründe. Die Anliegen, insbesondere aus dem Bereich der gesetzlichen Jugendhilfe, galten ursprünglich der Weiterentwicklung zuvor einzelfallorientierter Hilfen, durch Ergänzung um soziale und räumliche Komponenten, hin zu einer ganzheitlichen Bearbeitung, bekannt unter dem Motto der Fall im Feld (Fehren/Hinte 2013). Diese Entwicklung wurde begleitet und teilweise konterkariert von sozialpolitischen und -manageriellen Interessen der Effizienzsteigerung durch Kostenminimierung. Beide o. g. Entwicklungsprozesse trugen zu verstärktem Nachdenken über und zur Beschäftigung mit konzeptionellen Verknüpfungen sozialer und räumlicher Kontexte bei.
2.4 Was sollten Sozialarbeiter:innen beachten, die sozialraumorientiert arbeiten wollen?
Sozialraumorientiert zu arbeiten impliziert, sich vom oft noch dominanten Denken, Lebensräume von Menschen ließen sich als behälterartige Räume beschreiben und erklären, loszulösen. Die Verflechtungen sozialer und räumlicher Kontexte sind sehr komplex und daher konzeptionell entsprechend zu berücksichtigen. Menschen leben sowohl in und mit sozialen Beziehungsnetzen und subjektiv empfundenen Quartieren als auch in physisch nahen Nachbarschaften und administrativ abgrenzbaren Stadtteilen. Sie bewegen sich in mobilitäts- und Interessen abhängigen Aktionsräumen und werden beeinflusst von sozioökonomischen und soziokulturellen Prozessen.
Nachdem wir – in aller gebotenen Kürze – die begrifflichen und inhaltlichen Grundlagen des Konzeptes Sozialraumorientierung geklärt und deren Merkmale aufgezeigt haben, können wir uns dem zweiten Gegenstand dieses Beitrages annehmen, der Covid-19-Pandemie.
3. Die Covid-19-Pandemie
Weil es sich bei diesem Beitrag nicht um eine medizinische Abhandlung handelt, werden zunächst zwar einige Begriffe erklärt, ohne jedoch abschließende Aussagen über Ursachen und Verläufe der zwischenzeitlich weltweit verbreiteten Covid-19-Pandemie treffen zu können. Stattdessen werden, neben wesentlichen Merkmalen des Virus, Maßnahmen gegen dessen Verbreitung benannt sowie deren mögliche Konsequenzen aufgezeigt. Die Identifikation möglicher Folgen aus pandemiebedingten Maßnahmen erfolgt zunächst und vorwiegend durch hypothesenartige Formulierungen logischer Schlüsse auf der Basis fachlicher Erkenntnisse und wird ergänzt um einige bereits vorhandene empirische Befunde.
Eine Pandemie ist laut dem Robert Koch-Institut eine „neu, aber zeitlich begrenzt in Erscheinung tretende, weltweite starke Ausbreitung einer Infektionskrankheit mit hohen Erkrankungszahlen und i. d. R. auch mit schweren Krankheitsverläufen“ (RKI 2015).
Den Namen Corona trägt die seit Ende 2019 aufgetretene Infektionskrankheit COVID-19 wegen des Namens ihres Erregers, dem Coronavirus SARS-CoV-2. Im Folgenden werden einige Merkmale der Infektionskrankheit und die gängigsten vorbeugenden Maßnahmen zur Reduktion deren Verbreitung aufgegriffen und benannt.
3.1 Merkmale des Coronavirus
Bei SARS-CoV-2 handelt es sich um ein neuartiges und hoch ansteckendes Virus, das eine neue, teils schwer verlaufende Krankheit (COVID-19) verursachen kann. Weil sowohl das Virus als auch die daraus folgende Erkrankung neu und noch nicht umfassend untersucht sind und es auch noch keinen verbreiteten Impfschutz dagegen gibt, besteht bislang noch keine oder nur begrenzte Immunität in der Bevölkerung. Daher kann sich das Virus schnell und stark unter der Bevölkerung verbreiten. Infolge der Erkrankung können Atemwegserkrankungen mit schweren Verläufen bis hin zu Todesfällen, insbesondere für Risikogruppen, wie z. B. alte Menschen und Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen, auftreten. Bei starker Verbreitung der Erkrankungen können die Gesundheitsdienste an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen oder überlastet werden, mit der Folge dass nicht mehr alle möglichen Hilfen für alle Hilfebedürftigen durchführbar sind und Menschen mehr und länger leiden oder früher sterben müssen (RKI 29.11.2020).
3.2 Maßnahmen gegen die Verbreitung des Coronavirus
Um die o. g. unerwünschten Entwicklungen zu vermeiden und die Zahl von Neuinfektionen zu senken bzw. die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen, gibt es nach den bestehenden Pandemieplänen vorgesehene Maßnahmen, die von den zuständigen Behörden erlassen werden können. Zu den gängigen Maßnahmen gegen die Verbreitung des Virus zählen u. a.:
- Vorgaben zur Einhaltung von Hygieneregeln (Haut- und Flächendesinfektion)
- Vorgaben zur Einhaltung von Abstandregeln im Alltag (privat, beruflich, öffentlich, …)
- Vorgaben zum Tragen von Mund-Nasen-Schutzmasken
- Gebote zum stärkeren und häufigeren Lüften geschlossener Räume (Aerosolverbreitung)
- Gebote zur Vermeidung von Begegnungen mit Menschen (außerhalb des eigenen Haushalts)
- Gebote zur Vermeidung von Reisen und Reiseverbote (nicht nur in Risikogebiete)
- Quarantänepflicht bei Einreise aus Risikogebieten und bei Kontakten mit Menschen mit Infektionen und Erkrankungen
- Ausgangsbeschränkungen zu bestimmten Tages-/Nachzeiten
- Nutzungsbeschränkungen des öffentlichen Raumes (Aufenthalt und Veranstaltungen)
- Verbote von öffentlichen und privaten Veranstaltungen vieler Menschen
- Nutzungsbeschränkungen oder Schließung von Geschäften, Gastronomie- und Beherbergungsbetrieben
- Nutzungsbeschränkungen oder Schließung bestimmter Dienstleistungsangebote und -einrichtungen
- Nutzungsbeschränkungen oder Schließung von Kitas und Schulen
- Beschränkungen oder Verbote von Präsenzunterricht an Schulen und Präsenzlehre an Hochschulen
- Gebote zur Berufstätigkeit von zuhause aus (Home Office)
Die o. g. Maßnahmen stellen eine Beispielsaufzählung dar, womit kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird. Der Reihenfolge der aufgezählten Maßnahmen liegt zudem keine Bewertung, Gewichtung oder Rangfolge zu Grunde.
3.3 Konsequenzen der Maßnahmen gegen die Verbreitung des Coronavirus
Die o. g. Maßnahmen können bei entsprechender Einhaltung und fehlenden Alternativen unter fachlich-qualitativer Betrachtung zu diversen Konsequenzen führen, die im Folgenden zu vier Kategorien psychosozialer Folgen zusammenfasst werden:
Reduktion emotionaler Beziehungsgestaltung (Physical and emotional distancing)
- Vermeidung physischer Kontakte und taktiler Berührung (Abstands-/Hygieneregeln)
- Vermeidung taktiler und haptischer Kommunikation (Abstands-/Hygieneregeln)
- Verringerung nonverbaler Kommunikation (Mund-Nasenschutz-Maske)
- Vermeidung spontaner Treffen zu face-to-face Gesprächen (Café-/Barschließungen)
- Vermeidung sozialer Betätigungen (Pflege von Leidenschaften, wie Musik, Sport, etc.)
Die Reduktion emotionaler Beziehungsgestaltung kann im Zuge der fehlenden Möglichkeiten nonverbaler Kommunikation zu Kommunikationsstörungen, Unverständnis oder Missverständnissen und damit zu Beziehungsbelastungen führen (vgl. Watzlawik 2013; Schultz von Thun 2017).
Reduktion des Netzwerks sozialer Beziehungen (Rückzug in Privatsphäre und Privaträume)
- Vermeidung von Kontakten zu Menschen außerhalb des eigenen Haushaltes (Ausgangsbeschränkungen, Nutzungsbeschränkungen des öffentlichen Raums)
- Vermeidung aktionsräumlicher Mobilität (Arbeitsorte, Freizeitorte, Orte von Interessengruppen, Wohnorte von Freunden, Aktionsorte von Peers/Szenen, etc.)
- Vermeidung physischer Begegnungs- und Betätigungsgelegenheiten (Kultur-, Sport- und Musikveranstaltungen, Freizeitvereine, Religionsgruppen, freiwilliges/bürgerschaftliches Engagement, etc.)
- Angewiesenheit auf bzw. Fehlen digitaler Kommunikationsmöglichkeiten (als Kompensationsmöglichkeit für wegfallende analoge Kommunikationsformen)
Die Reduktion des Netzwerks sozialer Beziehungen in Verbindung mit dem Rückzug in die Privatsphäre und Privaträume kann bei Menschen, die ohnehin ein soziales Netz mit vergleichsweise wenigen Kontakten und wenig intensiven Beziehungen haben, dazu führen, dass sie mit ihren Gedanken, Gefühlen und Problemen alleine bleiben, sich ihre subjektive Lebensqualität verringert und psychische Gesundheit verschlechtert (vgl. Granovetter 1973;Keupp/Röhrle 1987; Bauer/Otto 2005).
Reduzierung tagesstrukturierender Aktivitäten
- Reduktion / Wegfall alltäglicher Außerhaustermine (Arbeit, Kita, Schule, Studium, …)
- Vermeidung von Einkäufen (Geschäftsschließungen, Kontakteinschränkungen, …)
- Reduktion / Wegfall regelmäßiger geselliger Aktivitäten (Musik, Teamsport, Kultur, …)
- Vermeidung spontaner Aktivitäten (Einladungen, Dates, Restaurant-/Kneipenbesuche, ...)
Tagesstrukturierende Aktivitäten sind besonders für alleinstehende Menschen und Personen, die unter psychischen Problemen leiden oder davon gefährdet sind, von besonderer Bedeutung. Auch für, aus körperlichen oder finanziellen Gründen, mobilitätseingeschränkte Menschen können sich Einschränkungen ihres sozialen Netzwerkes sowie tagesstrukturierender Aktivitätsgelegenheiten belastend auswirken und deren Lebensqualität verringern (vgl. Bauer/Otto 2005).
Verschärfung sozioökonomischer Problemlagen
- Reduktion der Vereinbarkeit von Familie/Kindererziehung mit Arbeit/Studium (wegen Schließung bzw. Reduktion von Betreuungszeiten von Kitas und Präsenzunterricht an Schulen)
- Einkommenseinbußen (wegen Geschäftsschließungen, Kurzarbeit und/oder Arbeitsplatzverlust)
- Reduzierter Zugang zu Dienstleistungsangeboten auf Grund fehlender technischer Ausstattung digitaler Kommunikationsmittel (Verfügbarkeit, Know-how und Bezahlbarkeit von Anschlüssen und Geräten)
- Reduzierter Kompetenzerwerb, Qualitätseinbußen oder Verlängerung der Studienzeit für Studierende an Hochschulen (in Folge geringerer Präsenzlehre und fehlender Zugänge zu öffentlichen Bibliotheken und Arbeitsräumen).
Die Verschärfung sozioökonomischer Problemlagen können gerade bei Dauerbelastung die Work-Life-Balance der in Kinderhaushalten lebenden Menschen beeinträchtigen und u. U. zu starken Belastungen insbesondere für die Kinder als schwächste Glieder führen (Hradil 1999).
Die aufgeführten psychosozialen Folgen der zur Eindämmung der Pandemie getroffenen o.g. Maßnahmen, dürften sich auch im Bereich der Hochschullehre bemerkbar machen, worauf der Vorstand der Kommission Sozialpädagogik der Deutsche[n] Gesellschaft für Erziehungswissenschaften in einer Stellungnahme (DGfE 2020) ausdrücklich hinweist. Demnach sind auch Studierende von den o. g. Folgen der Verschärfung sozioökonomischer Problemlagen betroffen und müssen zudem wegen der Einschränkungen zur Nutzung öffentlicher Bibliotheken und Arbeitsräumen im Verbund mit fehlender Präsenzlehre [2] zur Vermeidung von Einbußen ihres Kompetenzerwerbs, mit der Verlängerung ihrer Studienzeit rechnen.
Von den o.g. psychosozialen Folgen sind insbesondere sozial vulnerable Bevölkerungsteile betroffen, die ohnehin bereits über geringere soziale (Beziehungsnetz) und ökonomische Ressourcen (Einkommen, Vermögen) verfügen. Gerade diese Menschen (z. B. Kinder aus ärmeren Haushalten, ältere Menschen, Geflohene und Obdachlose) tragen laut Frank Eckardt (2020) zudem auch ein höheres Infektionsrisiko. Damit kann konstatiert werden, dass neben der direkten Betroffenheit gesundheitlich vulnerabler Bevölkerung auch die indirekten Folgen von Pandemiemaßnahmen, insbesondere für sozial vulnerable Bevölkerung in den Blick zu nehmen sind.
4. Einflüsse der Covid-19-Pandemie auf Sozialraumorientierung
Nach der Betrachtung der Merkmale der Covid-19-Pandemie und der Maßnahmen zu deren Eindämmung gilt es nun den Fokus auf spezifische Einflüsse auf das Handlungskonzept Sozialraumorientierung zu richten. Hierzu werden die in den oben benannten Dimensionen des Handlungskonzeptes Sozialraumorientierung enthaltenen Ziele und Aufgaben mit den identifizierten o. g. Kategorien psychosozialer Pandemiefolgen abgeglichen.
Dimension I. Lebensbedingungen und Lebenswelt
Die Erfassung und das Verständnis sozialräumlicher Lebensbedingungen und deren Bedeutungszuschreibungen seitens der Adressat:innen Sozialer Arbeit sowie die Orientierung an deren Interessen und Willen zum Handeln werden insofern eingeschränkt, als durch die Vermeidung physischer Kontakte der Zugang zu niedrigschwelligen Angeboten erschwert wird. Die Ausrichtung an der Lebenswelt bleibt mangels narrativen Zugängen von Seiten der professionellen „Helfer:innen“ verschlossen und damit kommt auch die Selbstdeutung der Lebenswelt durch die Betroffenen bei den Fachkräften nicht mehr oder deutlich weniger an.
Dimension II. Ressourcen und Potentiale
Die Erschließung, Förderung und der Ausbau persönlicher (individueller) und sozialräumlicher (institutioneller) Ressourcen und Potentiale werden durch die Reduktion des Netzwerks sozialer Beziehungen und den Rückzug in Privatsphäre und Privaträume erschwert. Verringerung oder gar Wegfall der Nutzungsmöglichkeiten des öffentlichen Raums sowie physischer Begegnungs- und Betätigungsgelegenheiten führen im Verbund mit der Vermeidung aktionsräumlicher Mobilität zur Reduktion von Gelegenheiten und Einsatzmöglichkeiten von Ressourcen und Potentialen. Wo keine physische Begegnung stattfindet und diese nicht durch andere (z. B. digitale) Formen ersetzt werden kann, lassen sich Bedarfe und Ressourcen schwer erkennen und in Passung bringen.
Dimension III. Partizipation und Engagement
Art und Umfang gesellschaftlicher Teilhabe und Engagement variieren bisher schon stark nach sozioökonomischen und soziokulturellen Voraussetzungen der Menschen. Die pandemiebedingte Verschärfung sozioökonomischer Problemlagen erschwert die Ermöglichung und Förderung gesellschaftlicher Teilhabe sowie von bürgerschaftlichem Engagement und Selbstorganisation zusätzlich. Schlechter Zugang und fehlende technische Ausstattung mit digitalen Kommunikationsmitteln kommen noch verschärfend hinzu und erhöhen die bereits bestehende Benachteiligung bisher bereits unterprivilegierter und im Engagement ungeübter gegenüber privilegierter und im Engagement geübter Menschen.
Dimension IV. Kooperation und Vernetzung
Die Kooperation und Vernetzung mit Behörden und etablierten Institutionen der Zivilgesellschaft, wie Kirchen und Wohlfahrtsverbänden, bleibt auch unter Pandemiemaßnahmen eine wichtige Aufgabe und dürfte trotz deren möglicher zusätzlicher Arbeitsbelastung auch weiterhin möglich sein. Die Entwicklung und Förderung ressort- und disziplinübergreifender Zusammenarbeit mit anderen relevanten Akteur:innen, wie z. B. kleinen freien Träger, freiberuflich Tätigen aus Kunst und Kultur sowie der Gastronomie, die gewöhnlich ebenfalls Einfluss auf die im jeweiligen Handlungsfeld zu bearbeitenden sozialen Prozesse ausüben, dürfte sich im Zuge der pandemiebedingten Betätigungseinschränkungen durchaus schwieriger gestalten.
Dimension V. Themen- und Projektarbeit
Bisher bereits dominierende Themen, wie Wohnungsversorgung, Armut im Alter, Vereinbarung von Familie und Beruf/Studium, Teilhabe im Alltag, Sucht oder psychische Belastungen dürften durch die o. g. psychosozialen Folgen der Pandemieentwicklung, wie der Reduktion emotionaler Beziehungsgestaltung, Schwächung sozialer Netzwerkbeziehungen, Rückzug in Privatsphäre und Privaträume, Reduzierung tagesstrukturierender Aktivitäten und die Verschärfung sozioökonomischer Problemlagen nochdringlicher und wichtiger werden.
Dimension VI. Qualitätsentwicklung und Finanzierung
Der Entwicklung und Sicherung von Standards qualitätsvoller professioneller sozialraumorientierter Sozialer Arbeit kommt angesichts der Herausforderungen der Pandemieentwicklung besondere Bedeutung zu, denn die o. g. psychosozialen Folgen erfordern die Weiterentwicklung bisheriger Methoden und Techniken sozialraumorientierter Arbeit. Dazu zählen Entwicklung und Aufbau von Alternativen zur physischen Komm- und Geh-Struktur, durch Know-how und Ausstattung digitaler Kommunikationsmittel sowie der Reflexion und Weiterentwicklung von „Niedrigschwelligkeit“ in Bezug auf analoge und digitale Kommunikation.
Sozialraumorientiertes fachliches Handeln ist wegen der oft (noch) fallbezogenen Finanzierungsformen Sozialer Arbeit derzeit immer noch prekär finanziert. Wenn sich aus den Pandemieerfahrungen die Erkenntnis ergeben sollte, dass Sozialraumorientierung ein geeignetes Handlungskonzept zur Verminderung, Vermeidung und Bewältigung gesellschaftlich unerwünschter Folgen der Pandemie darstellt, sollten die bisherigen Hürden zu deren Finanzierung überwunden werden können.
Die oben erwähnten Einflüsse der Covid-19-Pandemie und deren Gegenmaßnahmen auf das Handlungskonzept Sozialraumorientierung wurden im Vergleich konzeptioneller Aspekte mit den zuvor explizierten Auswirkungen auf der Basis grundsätzlicher fachlicher Grundlagen vorgenommen. Im Folgenden sollten diese fachlich-konzeptionellen Aspekte durch empirische Erkenntnisse, soweit bereits vorhanden, ergänzt werden.
5. Empirische Befunde und Beispiele zu Bewältigungsstrategien und -möglichkeiten
Neben konzeptionellen Betrachtungen zu den Auswirkungen (vgl. etwa die Beiträge im Blog https://sozpaed-corona.de/) liegen nun auch erste Studien zu den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die Soziale Arbeit vor. In einer im Frühjahr und Sommer 2020 in Deutschland durchgeführten Studie zu nutzer:innenbezogenen Entwicklungen in verschiedenen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit im Zuge der Covid-19-Pandemie wurden, abhängig von den jeweiligen Kontextbedingungen, Handlungsstrukturen nach drei unterschiedlichen Reaktionsmodi identifiziert (van Rießen et al. 2020). Während der Handlungsmodus des Abwartens vom Aussetzen der bisherigen Aufgaben und methodischen Handeln, mit den Folgen von Qualitätseinbußen bis zum Wegfall der Hilfeleistungen zu Lasten der Klientel einhergeht, werden beim zweiten Modus der Anpassung des Handelns an die Pandemiebedingungen, die Aufgaben trotz Einschränkungen erbracht, weil sie in ihrer Ausführung modifiziert werden, indem z. B. mehr aufsuchende oder sozialraumorientierte Arbeit geleistet wird. Der dritte identifizierte Handlungsmodus geht dagegen mit Erweiterungen der Aufgaben und des methodischen Handelns (z. B. mehr Niedrigschwelligkeit und mehr Lobbyarbeit) einher. Die Studie kommt dennoch zum abschließenden Fazit, dass Betroffene und Nutzer:innen keinen bis kaum Einfluss auf die Ausgestaltung der Bewältigungsstrategie der Pandemiefolgen haben und sich – unabhängig vom Handlungsmodus – eher als Objekte des Handelns erleben.
Eine Evaluation gemeindediakonischer Projekte zur Frage nachhaltiger Verstetigung und Herausforderungen durch die Covid-19-Pandemie von Dietz/Wegner (2020) deutet auf Potenziale zur Förderung gesellschaftlicher Teilhabe durch ständige Improvisationen und soziale Innovationen in Folge der Beschäftigung mit der Pandemie und deren Einschränkungen hin. Durch die intensive Auseinandersetzung mit neuen Hindernissen gesellschaftlicher Teilhabe erschlössen sich alternative Möglichkeiten der Beteiligungsförderung und durch die Improvisationserfordernisse auch eine erhöhte Flexibilität und Innovationsfreudigkeit.
Cornelia Harrers (2020) konzeptionelle Überlegungen zu Lehren aus den Pandemieerfahrungen kommen u. a. zur Empfehlung „elastische Räume“ zu schaffen, indem die während der Pandemie hervorgebrachten und im halböffentlichen Raum beobachtbaren Aktivitäten (wie Plakate, Regenbogenbilder, Steinschlangen, Balkonkonzerte, Tanz im Hinterhof, etc.) wertzuschätzen seien. Fenster und Balkone könnten als Öffnungen in den öffentlichen Raum verstanden werden, Übergänge zwischen privaten und öffentlichen Räumen schaffen und damit insbesondere, aber nicht nur, wertvoll für mobilitätseingeschränkte Menschen werden, worauf bereits die Schriften von Jane Jacobs (1963) und Andreas Feldkeller (1994) verwiesen. Geeignete „gute Orte“ ließen sich sowohl drinnen wie draußen schaffen, so Harrer, denn Angebote der Quartierarbeit (wie Stadtteilkonferenz, Netzwerktreffen, Stadtteilfrühstück, Stadtteilchor, Mütter-/Frauencafé) seien oft (noch) innenraumgebunden. Demgegenüber könnten mehr Aktivitäten und Treffen im Freien (Spielplatz, Park, Bücherschrank, Draußen-Schach, Kaffee-to-go, Sport im Freien, Pflanzaktionen) stattfinden und Infos in öffentlich zugänglichen Schaufenstern (Plakate und/oder Bildschirme mit Infos, Videos, etc.) platziert werden. Die durch pandemiebedingte Einschränkungen frei gewordene Zeit, könne von Hauptamtlichen zu erneuten Erkundungen vor Ort, z. B. für Stadtteilbegehungen im öffentlichen Raum genutzt werden, oder um Kontakte zu Kooperationspartner:innen zu erneuern. Interessante Perspektiven bieten Harrers Vermutungen zu unbeabsichtigten Wirkungen von Homeofficearbeit der Fachkräfte Sozialer Arbeit durch die Einblicke in ihre Privatbereiche, die durch Videokommunikation entstehen, womit die Profis für die Klientel sichtbarer und greifbarer und durch die Erfahrung, dass auch die Fachkräfte technische Schwächen offenbaren, würden diese menschlicher erscheinen als bei deren sonstigen gewohnt perfekten Beratungen oder Moderationen von Veranstaltungen. Neben solchen selbstreflexiven Anschauungen professioneller Sozialer Arbeit, fordert Harrer (2020) auch Sensibilität für die Empfindungen sogenannter Risikogruppen, die sozialen Druck, durch ihre vermeintliche Verantwortung für die Pandemie bedingten Einschränkungen ausgesetzt seien bzw. spürten.
Dass Gemeinwesenarbeit auch mit Abstand möglich ist, zeigt die BAG Soziale Stadtentwicklung und Gemeinwesenarbeit (BAG 2020) durch Beispiele von Räumen für Online-Gruppen wie das digitale Netzwerk „humbhub“ (https://www.humbhub.com/de) oder des regionalen Netzwerks in Freiburg: https://freiburghaeltzusammen.de/start.
6. Fazit
In diesem Beitrag wurde versucht, Antworten auf die Frage nach Folgen der Covid-19-Pandemie und deren Eindämmungsmaßnahmen auf Soziale Arbeit und das Handlungskonzept der Sozialraumorientierung zu geben. Selbstverständlich sind die dabei identifizierten Folgen und potenziellen Wirkungen, trotz der aufgeführten Studien, längst nicht alle ausreichend empirisch abgesichert, geben jedoch erste Hinweise und Anregungen auf mögliche Problembereiche und Bewältigungsmöglichkeiten. So hat die Auseinandersetzung mit dem Thema gezeigt, dass die psychosozialen Folgen der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie tendenziell zu Lasten sozial benachteiligter bzw. vulnerabler Menschen gehen. Insbesondere die unter physical distancing zu verstehende Vermeidung physischer Kontakte und analoger Kommunikation trifft einen Teil der Bevölkerung besonders hart. Physische (face-to-face) Kontakte sind für Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen (Technik, Finanzen, Interessen, etc.) keinen oder wenig Zugang zu digitalen Medien haben, zentrale Grundlagen sozialer Beziehungsgestaltung. Von Armut betroffene Menschen, Wohnungslose und multiproblembelastete Menschen profitieren bislang von „niedrigschwelligen“ Angeboten, wie z. B. Stadtteilzentren, Pflasterstuben, Fixer:innenstuben, Drogencafés, Anlaufstellen für straffällig gewordenen Menschen, die im Alltag der betreffenden Menschen, bei physischer Barrierefreiheit, gut und ohne großen Aufwand und Voraussetzungen (Anmeldung, Terminvereinbarung und Öffnungszeiten) erreichbar sind. Wenn aus gesundheitshygienischen Gründen körperliche Kontakte eingeschränkt oder unmöglich werden, finden Menschen mit o. g. Merkmalen und Betroffenheiten kaum oder gar keine niedrigschwelligen Möglichkeiten mehr, verzichten deshalb gezwungenermaßen auf Kontakte und nehmen in Folge dieses Verzichtes schwierige Situationen, wie Obdachlosigkeit, fehlende Teilhabe, Einsamkeit, Entzug oder Mittellosigkeit in Kauf. Diese Situation widerspricht dem Lebensweltansatz und lässt professionelles Handeln nach diesem Konzept kaum mehr zu, weil die Ausrichtung an der Lebenswelt von Seiten der „professionellen Helfer“ mangels sozialphänomenologischen und narrativen Zugängen verschlossen bleibt und damit auch die Selbstdeutung der Lebenswelt durch die Betroffenen bei den Fachkräften nicht (mehr) ankommt.
Für die am Handlungskonzept Sozialraumorientierung ausgerichtete Soziale Arbeit stellen die angesprochenen pandemiebedingten Einschränkungen in Bezug auf physische Kontakt- und Begegnungsgelegenheiten und räumliche Mobilität große Herausforderungen dar. Fachliche Analyse, Zugang, Verknüpfung und Bearbeitung sozialer und räumlicher Kontexte (Nachbarschaften, Szenen, Aktionsräume, Netzwerke persönlicher, privater, öffentlicher und professioneller Beziehungen) werden in dem Maße erschwert, wie die physischen Kontakte eingeschränkt und nicht durch mediale Kontakte ersetzbar sind. Die angeführten Bewältigungsbeispiele zeigen durchaus die Kreativität und Anpassungsfähigkeit bestehender sozialer Dienste und deren Fachkräfte. Dass die Digitalisierung – wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen, etwa dem Bildungssystem, dem Ämter- und Behördenwesen oder dem Einzelhandel – auch in der Sozialen Arbeit weiterentwickelt werden kann und wird, scheint offensichtlich. Allerdings ist dabei zu beachten, dass die Erreichbarkeit bzw. Teilhabe aller Bevölkerungsteile mittels digitaler Kommunikation nur gelingen kann, wenn die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür geschaffen werden, damit bisher schon benachteiligte Bevölkerungskreise mangels Internetzugängen, Equipment und finanzieller Leistungsfähigkeit durch verstärkte Nutzung digitaler Kommunikationsformen zukünftig nicht noch stärker exkludiert werden.
Die dem Konzept der Sozialraumorientierung immanente politische Orientierung im Sinne der Berücksichtigung und Mitgestaltung gesellschaftspolitischer Prozesse macht dieses Konzept anschlussfähig an gesellschaftliche Entwicklungen wie der derzeitigen Covid-19-Pandemie. Wenn sich Tendenzen des Rückzuges in die Privatsphäre und der Verschärfung sozioökonomischer Problemlagen verstärken, ist Soziale Arbeit als systemrelevante (intermediäre) Instanz (Fehren 2008) gefragt, um ihren Beitrag zum Erhalt des sozialen Zusammenhaltes der Gesellschaft und stabiler sozialer Beziehungen zu leisten. Das Konzept Sozialraumorientierung kann insbesondere in seinen Anwendungsfeldern, der sozialräumlichen Öffnung sozialer Dienste, der Gemeinwesenarbeit und dem Quartiermanagement, zu Selbstwirksamkeitserfahrungen, Solidarisierungsprozessen und zur Demokratieförderung beitragen, wie die Bundesarbeitsgemeinschaft Soziale Stadtentwicklung und Gemeinwesenarbeit in ihrer Stellungnahme „Gemeinwesenarbeit ist systemrelevant“ schreibt (BAG 2020).
Ziel dieser Betrachtung war die Identifikation möglicher (Aus)Wirkungen der Pandemie auf Soziale Arbeit nach dem Handlungskonzept Sozialraumorientierung. Mögliche betriebs- und volkswirtschaftliche Folgen im Laufe der Pandemieentwicklung getroffener Entscheidungen und Maßnahmen standen nicht im Fokus dieses Beitrages. Interessant wäre es durchaus auch, Maßnahmen zur Unterstützung gemeinnütziger und privatwirtschaftlicher Betätigungen zu betrachten und daraus Analogien zur Förderung sozial vulnerabler Bevölkerung zu ziehen. Ob aus den dargelegten vergleichsweise restriktiven Maßnahmen der Einschränkungen individueller Freiheiten zum Schutz gesundheitlich vulnerabler Menschen und zu Gunsten des Allgemeinwohls ein Politikwechsel vom liberalen und gewährleistenden „schwachen Staat“ zum fördernden und aktiven „starken Staat“ abgeleitet werden kann und sich entwickeln wird, bleibt eine vorläufig noch ungeklärte Frage, die der weiteren Untersuchung bedarf. In diesem Zusammenhang dürfte es spannend zu beobachten sein, ob und wie zukünftig gesundheitliche und soziale Vulnerabilität gesellschaftspolitisch gewichtet werden.
Literatur
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Fußnoten
[1] Beispiele zur Sozialraumorientierung in Handlungsfeldern Soziale Arbeit finden sich im Handbuch Sozialraumorientierung (Becker 2020).
[2] Laut Stellungnahme der Kommission Sozialpädagogik der DGfE ist Präsenzlehre unabdingbar, weil nicht alle Studieninhalte, insbesondere praxisintegrierte/-bezogene Inhalte, online vermittelbar seien (DGfE 2020:
Zitiervorschlag
Becker, Martin (2021): Das Handlungskonzept der Sozialraumorientierung im Kontext der Covid-19-Pandemie. In: sozialraum.de (13) Ausgabe 2/2021. URL: https://www.sozialraum.de/das-handlungskonzept-der-sozialraumorientierung-im-kontext-der-covid-19-pandemie.php, Datum des Zugriffs: 21.12.2024