Die Neue Leipzig Charta und die besondere Relevanz von Gemeinwesenarbeit für deren Umsetzung
Martin Becker
1. Einleitung
Im vorliegenden Beitrag werden einige Gedanken zur Bedeutung von Gemeinwesenarbeit im Rahmen einer an der Neuen Leipzig Charta orientierten Stadtentwicklungspolitik skizziert und weiter ausformuliert[1]. Die Neue Leipzig Charta wurde am 30. November 2020 von den in Europa für Stadtentwicklung zuständigen Ministerinnen und Minister als Dokument verabschiedet, das die transformative Kraft der Städte für das Gemeinwohl hervorhebt[2]. Das Ziel dieses Beitrages ist es, neue Impulse für eine aktive Auseinandersetzung mit der Neuen Leipzig Charta im Kontext des sozialräumlichen Denkens und Handelns zu geben. Dazu werden Verbindungen und Zusammenhänge zwischen der in der Neuen Leipzig Charta formulierten Ziele und der Aufgabe von Gemeinwesenarbeit im Rahmen sozialer Stadt-(teil-)entwicklung hergestellt.
Zunächst möchte ich dazu das Bild der Europäischen Stadt mit seiner Vision einer offenen Gesellschaft als Ziel der Neuen Leipzig Charta 2020 betrachten. Von dort aus soll der Blick zurück auf einige prominente Stadtutopien und -modelle gerichtet werden, deren Urheber:innen davon ausgingen, man könne die ideale Stadt planen und sich damit eine bestimmte Art Gesellschaft „bauen“. Weil sich die Leipzig Charta von dieser utopischen Vorstellung der planmäßig steuerbaren Gesellschaftskreation distanziert, lohnt es, die im Nachgang zur Leipzig Charta 2007 neu aufgenommene „Gemeinwohlorientierung“ stärker unter die Lupe zu nehmen und zu erkunden, was damit denn gemeint sein könnte und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Mit Rückgriff auf die in der Leipzig Charta benannten „räumlichen Ebenen“ und „Dimensionen Europäischer Städte“ sowie den dort ebenfalls verankerten „fünf Prinzipen guter Stadtentwicklungspolitik“ lässt sich sehr gut ein thematischer Bogen zur Gemeinwesenarbeit spannen. Im Zusammenhang mit der Idee der Gemeinwohlorientierung der Neuen Leipzig Charta lässt sich aufzeigen, welche Bedeutung der Gemeinwesenarbeit zur Aushandlung unterschiedlicher Interessen auf Grund ihrer Expertise in der Initiierung und Gestaltung von Aushandlungsprozessen zur Gemeinwohlproduktion zukommt. Anhand einiger, teilweise von mir entwickelten und erprobten Modellen zur Koordination- und Vernetzung lokaler Akteur:innen auf kommunaler aber auch Stadtteil- bzw. Quartiersebene, möchte ich die aufgezeigte Bedeutung der Gemeinwesenarbeit für die soziale Stadtentwicklungspolitik dann konkretisieren.
Diese skizzierte Vorgehensweise fokussiert absichtlich auf die Europäische Ebene und klammert Gesellschafts- und Stadtentwicklungen in anderen Teilen der Welt aus. Dies scheint gerechtfertigt, denn die Neue Leipzig Charta ist eine Leitbildbeschreibung und Empfehlung von und für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Man könnte das Verhältnis zwischen Leipzig Charta und Gemeinwesenarbeit auch durch die Brille des soziologischen Eigenlogikansatzes von Städten betrachten, wozu Berking und Löw (2008) einige Beiträge geliefert haben. Damit könnte man auch der Frage nachgehen, welche Rahmenbedingungen Städten denn eher eine eigenständige Entwicklung ermöglichen oder eher zu Eintönigkeit führen, die alle Städte gleich aussehen und funktionieren lassen. Die hier favorisierte Schwerpunktsetzung verortet Gemeinwesenarbeit in einem Verständnis Sozialer Arbeit als normativer Handlungswissenschaft (Staub-Bernasconi 2007), deren Ausrichtung gesellschaftsanalytisches Denken mit der Gestaltung professionsethisch orientierter Interventionen verbindet.
2. Stadtvisionen und Stadtbilder
Die Neue Leipzig Charta zeichnet ein Idealbild einer wünschenswerten und anstrebbaren urbanen Stadt. Städte sollen demnach Orte von Vielfalt, Kreativität und Solidarität sein. Damit ist der Charakter urbanen Lebens angesprochen, das mit der Koexistenz von Fremden und Fremdem, Andersartigem, Individuen und Gruppen, diversen Lebensformen und Lebensstilen sowie unterschiedlichen Wohn- und Arbeitsformen auf engem Raum verbunden wird (vgl. hierzu bereits Überlegungen bei Wirth 1938). Zum Europäischen Stadtmodell gehört – laut Neuer Leipzig Charta – ebenso eine ganzheitliche und integrierte Stadtentwicklungspolitik, die im Sinne Häußermanns (2001) selbstbewusst und aktiv die Entwicklung der Stadt und ihrer Teile gestaltet.
Dieses Bild der Europäischen Stadt basiert wiederum auf dem europäischen Gesellschaftsverständnis, Verfahren konkurrenzdemokratischer Entscheidungsfindung, wohlfahrtsstaatlicher Absicherung und den für eine pluralistische Gesellschaft wichtigen individuellen Freiheitsrechten und zivilgesellschaftlichen Mitwirkungsmöglichkeiten (Hradil/Immerfall 1997).
2.1 Gesellschaftsbilder
Eine Gesellschaft kann man jedoch nicht bauen. Man kann Häuser, Straßen und Brücken bauen, kann Parks anlegen und Infrastruktur einrichten. Je nachdem, wie man baut, anlegt und einrichtet, beeinflusst dies die Stadtgesellschaft. Allerdings lässt sich Gesellschaft nicht im technologischen Sinn verlässlich planen, gestalten und bauen. Der Soziologe Norbert Elias erinnert in seiner Studie „Die Gesellschaft der Individuen“ (2001) daran, dass Gesellschaft von vielen Menschen gebildet wird, wenn er sagt: „viele Menschen zusammen bilden, in Indien und China eine andere Art von Gesellschaft als in Amerika oder in England; die Gesellschaft, die viele einzelne Menschen in Europa während des 12. Jahrhunderts bildeten, war verschieden von der des 16. Jahrhunderts oder des 20. Jahrhunderts (Elias 2001, 17).
Eigenarten und Unterschiede von Gesellschaften entstehen durch das mehr oder weniger absichtliche Zusammenwirken vieler Menschen mit unterschiedlichen Interessen, Motive und Handlungen, ohne dass es dafür einen Masterplan gibt. Die Menschen, die vor 3.000 Jahren die Hügelgräber im irischen Newgrange bauten, hatten keine Vorstellung davon, wie die Europäische Stadt 2020 aussehen soll und was sie dazu tun müssten oder wollten. Auch die Frauen und Männer am Hofe Ludwigs XIV., deren höfisches Leben eine Vorstufe der späteren urbanen Lebensweise darstellt, waren weit davon entfernt, einen Plan der nachrevolutionären Gesellschaft Frankreichs zu haben, so Elias (2001).
2.2 Stadtutopien und Stadtmodelle
Dennoch gab und gibt es, früher und heute, Ideen, Entwürfe und Pläne zur (baulichen) Gestaltung von Stadtgesellschaften. Ebenezer Howards Gartenstadtmodell (1902) oder Le Corbusiers „Trabantenstadtteile“ (1957) sind historische Beispiele dafür. Die kreisförmige Anlage des Gartenstadtmodells sollte eine ideale Verbindung schaffen zwischen Zentrumsfunktionen, Privatwohnbereichen, Grünflächen und Ackerland zur nahräumlichen Versorgung, die mit Bahnlinien als öffentlichen Verkehrsmittel untereinander verbunden waren. Nur sehr wenige solch kreisförmige Stadtanlagen wurden komplett verwirklicht. Die typische Reihenhausform mit hausnahem Garten und Gemeinschaftsflächen wurden in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts in etlichen Städten in Deutschland als Genossenschaftsmodelle in Kreissegmenten verwirklicht, so auch in Freiburg (Haslach, Mooswald und Waldsee). Heute sind die noch vorhandenen sogenannten Gartenstadtsiedlungen wegen ihrer hausnahen Garten- und Parkanlagen insbesondere für Familien mit Kindern gefragte Wohnformen.
Für Neubauten ganzer Stadtteile war in der Nachkriegszeit mit der Charta von Athen, geprägt von den Ideen des Künstlers und Architekten Le Corbusier (1957), ein gängiges Modell für Großwohnsiedlungen, die auf der „grünen Wiese“ errichtet wurden entstanden. Auf der Basis einer Nutzungstrennung zwischen Arbeiten, Wohnen, Einkauf, Freizeit und Kultur sollten diese neuen Wohngebiete licht- und luftdurchflutete Wohnungen bieten und als suburbane „Trabantenstädte“ mit dem PKW als Individualverkehrsmittel, später auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln, gut zu erreichen sein. Der ebenfalls von Le Corbusier entwickelte und für die Totalerneuerung des Pariser Marais-Viertels vorgesehene „Plan Voisin“ wurde nie verwirklicht, wodurch die kleinteilige Struktur und das quirlige Leben dieses einstigen jüdischen Zentrums erhalten blieb und heute ein Besuchermagnet von Paris ist.
3. Das Konzept der Gemeinwohlorientierung
Die Neue Leipzig Charta berücksichtigt die Erkenntnis, dass sich Gesellschaften nicht im technologischen Sinn verlässlich planen, gestalten und bauen lassen, sondern dass diese in partizipativen Verfahren gemeinsam gestaltet werden müssen. Das inhaltlich Neue der Leipzig Charta im Vergleich zu deren erster Auflage von 2007 ist die ausdrückliche Betonung und Orientierung am Gemeinwohl. Was ist das Gemeinwohl und wer legt es fest? Mit dem „gemeinen Wohl“ sind grundsätzlich die Gemein- oder Gesamtinteressen einer Gesellschaft gemeint. Das Politlexikon der Bundeszentrale für politische Bildung weist darauf hin, dass in pluralistischen, offenen Gesellschaften die konkrete inhaltliche Bestimmung des Gemeinwohls von den Interessen und Zielen der Mitglieder einer Gesellschaft abhängig ist (Schubert/Klein 2020). In demokratischen Gesellschaften kann das Gemeinwohl also nicht von einer:m oder wenigen Machthabenden bestimmt werden, sondern ergibt sich idealerweise aus gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen von Interessen und unter Berücksichtigung von Bedürfnissen. Für die Verortung von Aushandlungsprozessen zur Gemeinwohlbestimmung sieht die Leipzig Charta zunächst den Einbezug von drei räumlichen Ebenen vor (Neue Leipzig Charta 2020: B1).
Dazu gehört zunächst die interkommunale Ebene der Regionen und funktional zusammenhängender Metropolräume. Dort überschneiden sich die kommunalen Bereiche Wohnen, Gewerbeflächen, Mobilität, Dienstleistungen, grüne und blaue Infrastrukturen, Materialströme, lokale und regionale Ernährungssysteme sowie die Energieversorgung und bedürfen einer Koordination.
Auf der zweiten Ebene befinden sich die für die Stadtentwicklung vor Ort verantwortlichen Kommunen. Deren Verantwortung bezieht sich auf die Sicherstellung der Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen ihrer Bürger:innen.
Auf der dritten Ebene sind die Quartiere angesiedelt, in deren Charakteristika sich die Unterschiede der Stadtgesellschaft spiegeln. Daher ergeben sich aus einer gesamtstädtischen Perspektive Bedarfe für Investitionen in bestimmten Quartieren, die einer Vielzahl an komplexen sozioökonomischen Herausforderungen ausgesetzt sind. Gleichzeitig braucht eine langfristige Stabilisierung den permanenten Blick auf alle Stadtquartiere. Ebenso fordert die Neue Leipzig Charta zielgerichtete Quartiersentwicklungspolitik, die das Engagement vor Ort fördert, damit gesellschaftlicher Zusammenhalt und Integration gelingen können. Quartieren wird von der Neuen Leipzig Charta das Potenzial als Experimentierfelder für innovative Ansätze in allen Bereichen der Stadtentwicklung zugeschrieben und zugetraut.
Die in der Neuen Leipzig Charta beschriebene ganzheitliche integrierte Stadtentwicklungspolitik soll das Europäische Stadtmodell dann innerhalb von drei Dimensionen verwirklichen (Neue Leipzig Charta 2020: B2).
Dies betrifft die Dimension der sozial gerechten Stadt in Bezug auf Teilhabe, Chancengleichheit und Umweltgerechtigkeit. Alle Bewohner:innen sollen gleichberechtigten Zugang zu Dienstleistungen der Daseinsvorsorge (Bildung, Soziales, Gesundheit, Kultur, Wohnraum und Energieversorgung, etc.) haben.
Die ökologische Dimension beschreibt unter dem Label „grüne Stadt“ die Entwicklung eines hochwertigen städtischen Umfelds für alle Einwohner:innen. Dazu zählen konkret der Zugang zu Grün- und Freizeitflächen, klimaneutrale Energieversorgung, die Anpassung an die Folgen des Klimawandels, das Angebot an städtischen Verkehrs- und Mobilitätssystemen sowie das Bild einer „Stadt der kurzen Wege“ durch Nutzungsmischung aus Wohnen, Einzelhandel und Produktion.
Die ökonomische Dimension, genannt „produktive Stadt“, erfordert eine nachhaltige Stadtentwicklung durch eine breit aufgestellte Wirtschaft, auskömmliche Arbeitsplätze und solide finanzielle Grundlagen. Ebenso werden die Vereinbarkeit von Gewerbe und Industrie mit Wohn und Freizeitnutzung sowie der Nahraumversorgung durch Einzelhandel trotz digitalem Onlinehandel besondere Beachtung beigemessen.
Anhand dieser Merkmale wurden die Zielebenen und Dimensionen europäischer Städte der Neuen Leipzig Charta benannt und beschrieben. Wie bereits erwähnt, erfordert die zentrale Orientierung am Gemeinwohl die Gestaltung entsprechender Aushandlungsprozesse. Solche Aushandlungsprozesse sollen laut Neuer Leipzig Charta nach fünf Prinzipien erfolgen (Neue Leipzig Charta 2020: C): eine „gemeinwohlorientierte Stadtentwicklungspolitik“ soll verlässliche öffentliche Dienstleistungen und Daseinsvorsorge gewährleisten; soziale, ökonomische, ökologische und räumliche Ungleichheit verringern bzw. vermeiden; die Kompetenzen und Leistungen aller Akteur:innen stärken und weiterentwickeln; und die Auseinandersetzung um Interessensausgleich zwischen öffentlichen, ökonomischen und privaten Interessen in Einklang bringen.
Mit dem Prinzip des „integrierten Ansatzes“, sollen alle Stadtentwicklungsbereiche in räumlicher, sektoraler und zeitlicher Hinsicht unter gleichzeitiger und gleichberechtigter Berücksichtigung unterschiedlicher Interessen koordiniert werden. Dabei wird ein Interessenausgleich zwischen Staat/Bund, Ländern/Regionen, Städten; Bürger:innen und Wirtschaftsakteur:innen angemahnt. Das Prinzip der „Beteiligung und Koproduktion“ sieht einen integrierten Ansatz unter Einbezug von Öffentlichkeit, Stakeholder:innen, ökonomischer, lokaler und regionaler Akteure vor. Dabei wird ein „Mehrebenen-Ansatz“ favorisiert, der die vertikale Ebene (Stadt, Region, Land, Bund) ebenso wie die horizontale Ebene (alle Akteur:innen auf kommunaler Ebene) gleichermaßen berücksichtigt. Und schließlich gilt es, den „ortsbezogenen Ansatz“ durch sorgfältige ganzheitliche Analyse (z. B. Sozialraumanalysen) und Monitoring der Entwicklung zum Prinzip zu machen.
4. Gemeinwohlorientierung und Gemeinwesenarbeit
Bis hier hin können wir festhalten, dass zur Erreichung der Zielstellung der Neuen Leipzig Charta, eine lebenswerte, gleichberechtigte und solidarische (Stadt-)Gesellschaft zu schaffen, und für deren (neue) Orientierung am Gemeinwohl die Gestaltung von Aushandlungsprozessen unterschiedlicher Interessen bzw. das Austarieren von Partialinteressen benötigt wird. Hier kommt nun die Gemeinwesenarbeit als besonderes Handlungsfeld Sozialer Arbeit ins Spiel, der im Sinne der Moderation von Interessenausgleichen und der Förderung und dem Schutz schwacher Interessen eine besondere Bedeutung zukommt. Gemeinwesenarbeit verfügt hier über eine mehr als 100jährige Erfahrung und Expertise in der Zuständigkeit für die Initiierung und Gestaltung von Aushandlungsprozessen des Gemeinwohls.
Diese Expertise beruht auf spezifischen fachlichen Standards der Gemeinwesenarbeit (vgl. zu den im Folgenden genannten Prinzipien ausführlicher: Becker 2022). Hierzu gehört zunächst die Lebensweltorientierung und die Berücksichtigung der Interessen und des Willens zur Veränderungen der Menschen und jeweiligen Akteur:innen. Mit Blick auf vorhandene Stärken von Individuen, Gruppen und Gemeinwesen sowie deren Erweiterung und Geltungsverleihung sei hier das grundlegende Konzept der „Ressourcenorientierung“ kurz erwähnt. Wesentlicher Standard der Gemeinwesenarbeit ist zudem deren Arbeit an und für breite Partizipation, insbesondere auch der Förderung und Unterstützung bislang beteiligungsungeübter und benachteiligter Menschen („Beteiligungsorientierung“). Mit der Entwicklung und Förderung ressort- und disziplinübergreifender Zusammenarbeit mit allen relevanten Akteur:innen, die Einfluss auf die im jeweiligen Stadtteil/Quartier zu bearbeitenden sozialen Prozesse ausüben, ist die Dimension der „Kooperation und Vernetzung“ beschrieben. „Themen und adressat:innenübergreifende Arbeit“, die potentiell alle Menschen mit ihren diversen Anliegen ernst nimmt und nach Bedarf und Situation aufgreift, ist eine weitere Standarddimension der Gemeinwesenarbeit. Und schließlich darf nicht vergessen werden, dass zur Erfüllung qualitätsvoller Gemeinwesenarbeit auch eine entsprechende „Qualitätsorientierung“ erforderlich ist, die sich auch und gerade an der Sicherung von Fachlichkeit und Finanzierung der Gemeinwesenarbeit als fallübergreifender und fallunspezifischer Sozialer Arbeit zeigt (vgl. hierzu auch Becker 2022).
Eine Parallele zu o. g. räumlichen Ebenen in der Leipzig Charta bieten die in der Gemeinwesenarbeit bekannten Ebenen des Quartiermanagements. Wie folgendem Schaubild zu entnehmen ist (Abbildung 1), lässt sich fachliche Stadtteil- oder Quartierorientierung auf drei kommunalen Ebenen verorten.
Auf der Quartierebene tätige Gemeinwesenarbeiter:innen arbeiten als Fachkräfte der Kommune oder von freien Trägern in Stadtteil-/Quartierbüros an und mit den Interessen lokaler Akteur:innen und Bewohner:innen. Sie versuchen deren Interessen zu wecken, aufzugreifen, zu initiieren, zu begleiten sowie die Bevölkerung an Aushandlungsprozessen beteiligen.
Auf der Verwaltungsebene besteht die Aufgabe sogenannter „Gebietsbeauftragte:r“ darin, zwischen Dezernaten und Ämtern, Aktivitäten gebietsbezogen zu koordinieren, Ressourcen zu bündeln und die Gesamtsteuerung von Projekten (z. B. „Soziale Stadt“) zu übernehmen. Auf dieser Ebene sind auch Aufgaben angesiedelt, wie städtische Planungen vor Ort zu „tragen“ und zu erläutern sowie innerhalb von Kommunalverwaltung und -politik auf Themen und Anliegen aus den Quartieren aufmerksam zu machen. Anstellungsträger dieser Stellen sind i. d. R. die Kommunen selbst. Fachkräfte Sozialer Arbeit mit Managementkompetenzen sind als Gebietsbeauftragte besonders geeignet (Becker 2016).
Abbildung 1: Ebenen von Quartiermanagement (Quelle: Becker 2021, eigene Bearbeitung nach Bertelsmann Stiftung/Hans-Böckler-Stiftung/KGST (Hrsg.) 2002, 9)
Zwischen Quartier- und Verwaltungsebene, auf sogenannter intermediärer Ebene, sind Stadtteil-/Quartier-Moderator:innen angesiedelt, zu deren Aufgaben gebietsbezogene Koordination, Mediation, Moderation und Vernetzung gehören. Sie vermitteln zwischen den Anliegen lokaler Akteur:innen und der Bevölkerung vor Ort, auf der einen sowie den zuständigen Behörden auf der anderen Seite. Idealerweise betreiben die auf der intermediären Ebene tätigen Träger keine eigenen Einrichtungen und Dienstleistungen im Quartier, um ihre Unabhängigkeit zu wahren und nicht Gefahr zu laufen, aufgrund eigener Interessen in Interessenskonflikte zu geraten.
Die oben beschriebene Aufteilung und Zuordnung der drei Ebenen sind derzeit weder flächendeckend noch konsistent vorhanden. Auch die mit den drei Ebenen verbundenen Aufgaben und Kompetenzen sind in der Praxis noch oft verschwommen oder ungeklärt, mit der Folge von Missverständnissen, Misserfolgen und Enttäuschung auf jeder Seite. Auf diese Problematik wird in Becker (2021, Kap. 6.4) im Zusammenhang mit Empfehlungen für eine nachhaltige soziale Stadt- und Quartierentwicklung vertiefter eingegangen. Das Drei-Ebenen-Modell des Quartiermanagements stellt einen relevanten Baustein zur nachhaltigen Steuerung sozialraumorientierter integrierter Stadtentwicklungspolitik dar.
Als weiteren solchen Baustein integrierter Stadtentwicklungspolitik möchte ich an dieser Stelle das „Koordinations- und Vernetzungsmodell auf Gesamtstadtebene“ vorstellen (vgl. Abbildung 2). Die von der Neuen Leipzig Charta geforderte integrierte Stadtentwicklungspolitik bedarf einer kommunalen integrierten Strategie, die traditionelles „Ressortdenken“ überwindet und als ganzheitliche Stadtentwicklung konzipiert, kommuniziert und kooperativ mit allen Beteiligten aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Bürgerschaft gemeinsam gestaltet wird. Zur Gestaltung zielgerichteter Stadtentwicklung empfiehlt es sich, eine verwaltungsinterne „Steuerungsgruppe Stadtentwicklung“ einzurichten, die sich aus dem/r Oberbürgermeister:in und den Beigeordneten bzw. allen Dezernatsleitungen, den Leitungen der Fachbereiche/Ämter sowie für Stadtentwicklung relevanten Stabsstellen zusammensetzt. Deren Aufgaben sind die Entwicklung und Steuerung der strategischen Ziele und Leitbilder der Stadtentwicklung nach Beschlusslage des Gemeinderates. Als Entscheidungs- und Steuerungsgrundlage dient das Monitoring zur Stadtentwicklung.
Für die operative Umsetzung der strategischen Ziele setzt die „Steuerungsgruppe Stadtentwicklung“ idealerweise ein „Team Stadtentwicklung“ ein, das interdisziplinär, aus Fachkräften der für soziale, bauliche, ökonomische und politische Stadtentwicklung zuständigen Fachabteilungen besetzt wird. Aufgaben dieses „Teams Stadtentwicklung“ sind die Erstellung und Aufbereitung des Monitorings der Entwicklung der Gesamtstadt und ihrer Stadtteile/Quartiere, die Vorbereitung von Entscheidungen sowie die Fachaufsicht und Steuerung der „Stadtteilkoordinator:innen“ als Gebietsbeauftragte:n.
Abbildung 2: Koordinations-/Vernetzungsmodell auf Gesamtstadtebene (Quelle: Becker 2021, 170)
Die „Stadtteilkoordinator:innen“ werden als Tandems aus Fachkräften der beteiligten Fachbereiche/Ämter/Abteilungen (Im Beispiel von Abbildung 2: aus den Dezernaten III, FB 9 „Soziales“ und Dezernat II, FB 4 „Bauen“, 5 „Planen“) für jeden Stadtteil, der aus mehreren sozialräumlich konstituierten Quartieren bestehen kann, gebildet. Ihre Aufgabe ist die verwaltungsinterne Koordination zwischen Fachbereichen/Ämtern/Abteilungen der Stadtverwaltung sowie zwischen Stadtverwaltung und allen Akteur:innen auf Stadtteil- bzw. Quartierebene. Die Sicherstellung des Informationsflusses innerhalb der Verwaltung und zwischen Verwaltung und Stadtteil/Quartier bedarf der regelmäßigen Präsenz vor Ort sowie der Beteiligung an den entsprechenden Beteiligungsformaten.
Wie bereits erwähnt, ist für die qualitätsvolle Steuerung von Stadt- und Quartierentwicklung eine leistungsfähige und kompetente Koordination innerhalb der Kommunalverwaltung sowie zwischen Kommune und anderen Behörden ebenso erforderlich, wie eine professionelle Moderation zur Vernetzung und Vermittlung zwischen den Interessen lokaler Akteur:innen. Dadurch werden die interne und externe Kommunikation qualifiziert und Reibungsverluste aufgrund von fehlenden Absprachen, Informationslücken oder Missverständnissen vermindert. Profil, Situation und Problemlagen können sich zwischen städtischen Quartieren stark unterscheiden, weshalb Entwicklungskonzepte gebraucht werden, die auf unterschiedliche Quartiere zugeschnitten sind und sowohl Probleme als auch Potenziale des jeweiligen Quartiers berücksichtigen. Zur Umsetzung einer solchen konsequenten und durchgängigen Quartierorientierung bedarf es einer verwaltungsinternen Koordination durch Personen, die sich in Stadtteil und Quartier gut auskennen und bei der Bevölkerung bekannt sind. Diese Koordination kann durch Installation von „Gebietsbeauftragten“ bzw. „Stadtteilkoordinator:innen“ (vgl. o. g. Beispiel in Abbildung 2) innerhalb der kommunalen Verwaltung institutionalisiert werden.
Ernsthafte Bürger:innenbeteiligung bedeutet, lokale Akteur:innen als Expert:innen für ihre Lebensverhältnisse anzusehen und ihnen Mitsprache-, Entscheidungs- und Gestaltungsgelegenheiten zu gewähren. Menschen, die kontinuierlich und verlässlich beteiligt werden, erhalten Übung darin, ihre Expertise (Wissen, Können, Erfahrungen) bezüglich der Themen und Potentiale des Stadtteiles/Quartiers in das lokale Geschehen kritisch einzubringen. Das bedeutet, dass über Jahre hinweg und kontinuierlich vielfältige Gelegenheiten der Beteiligung am Stadtteilgeschehen zu schaffen, zu erhalten, zu sichern und auszubauen sind. Dabei sollten differenzierte Beteiligungsformen geschaffen werden:
In der folgenden Abbildung 3 wird die Aufteilung der Beteiligungsformate nach deren Mandatierung deutlich. Von Bürger:innen selbst initiierte und möglichst selbstverantwortlich gestaltete Beteiligungsformate, wie das „Bürger:innenforum“ als Plenum zum Austausch unterschiedlicher Meinungen, Ideen, Interessen sowie die „Bürger:innentische“, die auf Anregung von Bürger:innen zu deren eigenen Anliegen selbst geleitet oder von Gemeinwesenarbeiter:innen moderiert werden, sind als „bottom up Formate“ im Schaubild unten rechts und direkt darüber angeordnet (rote Rahmen). Beteiligungsformate, die quasi „top down“ von der Kommunalverwaltung zur Begleitung städtischer Planungen und Vorhaben eingesetzt und geleitet werden, wie „Bürger:innenwerkstatt“ als problem- oder themenorientierte Beteiligungsform der Stadtverwaltung oder „Stadtteilkonferenz“ als Interessenaushandlungsgremium aller Organisationen und Initiativen im Stadtteil/Quartier, in dem unter städtischer Leitung („Stadtteilkoordinator:innen“) alle Organisationen und Initiativen aus dem Stadtteil/Quartier zusammenkommen, um die Belange des Stadtteils/Quartiers zu beraten und Empfehlungen an Verwaltung und Gemeinderat zu geben, sind im Schaubild in der Mitte bzw. ganz oben angeordnet (blaue Rahmen). Ergänzt werden diese „bottom up“ bzw. „top down“ Beteiligungsformate durch Vernetzungsgremien wie „Stadtteilteam“ und „Arbeitskreisen“, die von Organisationen und Fachkräften im Stadtteil besetzt bzw. gebildet werden und im Schaubild links übereinander angeordnet sind (grüne Rahmen).
Abbildung 3: Beteiligungs-/Vernetzungsmodell auf Stadtteil-/Quartierebene (Quelle: Becker 2021, 170)
Anmerkungen/Erläuterungen:
rot = „bottom up Formate“ bürgerlichschaftlicher Selbstorganisation
blau = „top-down“ Formate kommunaler Bürger:innenbeteiligung
grün = Vernetzungs-Formate von Professionellen
Durch klare Begrifflichkeiten, die deutlich machen, ob die Initiative jeweils von der Verwaltung oder Bürger:innen selbst ausgeht (z. B. „Bürger:innenwerkstatt“ sowie „Stadtteilkonferenz“ als Verwaltungsinitiative; bzw. „Bürger:innentische“ und „Bürger:innenforum“ als bürgerschaftliche Initiativen) lässt sich Transparenz über die verschiedenen Beteiligungsformate schaffen. Die jeweiligen Titel der Beteiligungsformate sind weniger wichtig, sollten allerdings über längere Zeit beibehalten werden, damit deren Bedeutung sich in der Bevölkerung festsetzt und die Formate de facto institutionalisiert werden.
6 . Fazit
Es gäbe an dieser Stelle noch vieles Weiteres zu sagen, wie z. B. zur Gemeinwohlorientierung in der Wohnungswirtschaft, oder zu Gemeinwesenarbeit in und von Wohnungsunternehmen sowie zu lokaler Ökonomie als Bestandteil von Gemeinwohlorientierung. In diesem Beitrag liegt der Fokus jedoch auf der Bedeutung der Gemeinwesenarbeit in Bezug auf integrierte Stadt(teil-)entwicklung und Beteiligungsförderung. Mit den drei obigen Beispielen sollte exemplarisch deutlich gemacht werden, dass der Gemeinwesenarbeit im Rahmen ganzheitlicher integrierter Stadtentwicklungspolitik, wie sie die Neue Leipzig Charta fordert, eine besondere Bedeutung zukommt und wie diese fachlich ausgestaltet werden kann.
Die gemeinsame Arbeit an einer lebenswerten, gleichberechtigten und solidarischen Stadtgesellschaft, erfordert die professionelle Gestaltung des Austarierens von (Partial-)Interessen durch die Moderation von Aushandlungsprozessen zum Interessensausgleich sowie einer Förderung schwacher Interessen. Dazu kann Gemeinwesenarbeit ihre Expertise einbringen, wenn sie damit beauftragt wird und es sich, selbstbewusst genug, fachlich auch klar zutraut.
Literatur
Becker, Martin (2016): GWA-Personalbemessung. Orientierungshilfe zur Personalbemessung professioneller Sozialer Arbeit im Handlungsfeld der Stadtteil- und Quartierentwicklung. Konstanz: Hartung-Gorre Verlag.
Becker, Martin (2020): Handbuch Sozialraumorientierung. Stuttgart: Kohlhammer.
Becker, Martin (2021): Soziale Stadtentwicklung und Gemeinwesenarbeit in der Sozialen Arbeit, 2. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer.
Becker, Martin (2022): Qualitätsstandards für Gemeinwesenarbeit. Kritische Diskussion und Empfehlungen. Konstanz: Hartung-Gorre Verlag.
Berking, Helmut/Löw Martina (2008): Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung. Frankfurt/M.: Campus.
Elias, Norbert (2001): Die Gesellschaft der Individuen. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Häußermann, Hartmut (2001): Neues aus der Stadtforschung. Ein altes Modell mit Zukunft? Die europäische Stadt. In: Leviathan 2/2001, 237–255.
Howard, Ebenezer (1902): Garden Cities of Tomorrow. London.
Hradil, Stefan/Immerfall, Stefan (Hrsg) (1997): Die westeuropäischen Gesellschaften im Vergleich. Opladen: Leske + Budrich.
Le Corbusier (1957): An die Studenten. Die ‚Charte D‘Athénes‘. Paris.
Neue Leipzig Charta 2020: Die transformative Kraft der Städte: https://www.nationale-stadtentwicklungspolitik.de/NSPWeb/DE/Initiative/Leipzig-Charta/Neue-Leipzig-Charta-2020/neue-leipzig-charta-2020_node.html (letzter Zugriff: 02.09.2022)
Schubert, Klaus/Klein, Martina (2020): Das Politiklexikon, 7. Auflage. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung (Lizenzausgabe, davor Bonn: Dietz).
Staub-Bernasconi, Silvia (2007): Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft. Bern: Haupt.
Wirth, Louis (1938): Urbanität als Lebensform. In: Herlyn, Ulfert (Hrsg) (1974): Stadt- und Sozialstruktur. München. (Erstausgabe: Wirth, Louis (1938): Urbanism as a way of life, in: American Journal of Sociology, XLIV).
Fußnoten
[1] Bei vorliegendem Text handelt es sich um die Verschriftlichung eines Impuls-Vortrages, den der Autor unter dem Titel „Neue Leipzig Charta – Bedeutung von Gemeinwesenarbeit“ anlässlich der Tagung der „Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Soziale Stadtentwicklung und Gemeinwesenarbeit Baden-Württemberg e.V.“ am 16. September 2022 in der Alten Wache in Ostfildern gehalten hat.
[2] Weitere Hintergrundinformationen zur Neuen Leipzig Charta finde sich unter: https://www.bmwsb.bund.de/Webs/BMWSB/DE/themen/stadt-wohnen/stadtentwicklung/neue-leipzig-charta/neue-leipzig-charta-node.html
Zitiervorschlag
Becker, Martin (2023): Die Neue Leipzig Charta und die besondere Relevanz von Gemeinwesenarbeit für deren Umsetzung. In: sozialraum.de (14) Ausgabe 1/2023. URL: https://www.sozialraum.de/die-neue-leipzig-charta-und-die-besondere-relevanz-von-gemeinwesenarbeit-fuer-deren-umsetzung.php, Datum des Zugriffs: 21.12.2024