Gibt es „Asozialräume“? – eine Suche nach einem alternativen Begriffskonstrukt

Christian Reutlinger, Christina Vellacott

„Auch in einer globalisierten Welt müssen Menschen Heimat finden.“

[1]

Dieser übergeordnete Leitspruch des kommunalen Programms „Aktive Nachbarschaft“ der Stadt Frankfurt am Main bringt auf den Punkt, was viele Menschen aktuell beschäftigt: „Die Globalisierung“ wird von ihnen als bedrohlich wahrgenommen. Sie verbinden mit dem Begriff nicht mehr beeinflussbare und vielfach negative Entwicklungen, wie wachsende Ungleichheit, Verarmungstendenzen und soziale Ausschließung, Fremdheit und Orientierungslosigkeit. Hervorgerufen werden diese Gefühle, da die Intensivierung weltweiter sozialer Beziehungen dazu führt, dass „entfernte Orte in solcher Weise miteinander verbunden werden, dass Ereignisse am einen Ort durch Vorgänge geprägt werden, die sich an einem viele Kilometer entfernten Ort abspielen, und umgekehrt“ (Giddens 1995, S. 85). Mit dieser raumtheoretischen Erklärung wird deutlich, dass Globalisierung aufgeschlossen werden kann als „neuer Modus des alltäglichen Geographie-Machens, bei dem sich sowohl veränderte gesellschaftliche, aber vor allem neue räumliche Bedingungen des Handelns äußern“ (Werlen 2000, S. 434). Der Ruf nach „Heimat“ kann in diesem Kontext als Wunsch nach neuerlicher Orientierung und Überschaubarkeit interpretiert werden – sozialräumliche Prozesse, welche in der Globalisierungsdebatte schon in den 1990er Jahren mit den Konzepten von Einbettung, Entankerung bzw. Neu- oder Wiederverankerung bzw. Rückbettung beschrieben wurden [2]. Diesem Wunsch versuchen vielerorts verschiedene Programme und politische Initiativen mittels einer Stärkung überschaubarer, Orientierung gebender Größen, wie „dem Nahraum“ oder „dem Nationalstaat“ zu entsprechen.

Was die Orientierung am Nationalstaat betrifft, griffen beispielsweise Vordenker der Neuen Rechten das Bedürfnis der Menschen auf, indem sie in Blogs und einschlägigen Publikationen postulierten, starke Nationalstaaten und intakte Völker seien „natürliche Schutzräume und Solidarverbände, die den Globalkapitalisten im Weg stehen“ (Gansel 2007, S. 20) oder eine „Landnahme fremder Völker“ (Dörre 2016, o. S.) beklagten. Als Gegenbewegung zur Globalisierung sind aktuell europaweit Bestrebungen zur Restitution der Nationalstaaten im Gange (vgl. Küpper/Häusler/Zick 2016, S. 145) und Parteien und Bewegungen, welche diese stärken wollen, befinden sich auf dem Vormarsch. Auch der derzeitige europäische Kurs klammert sich am Nationalstaat fest. „Kaum eine Diskussion zur EU und ihrer Krise vergeht, in der die – vermeintlich souveränen – Nationen im Gefüge der EU nicht als unabänderlich gesetzt werden und ihre Veränderung oder gar Auflösung als unmöglich und utopisch erscheint.“ [3]

Parallel zur neuen Vormacht von nationalistisch und populistisch argumentierenden Parteien und ihren Programmen wird in den vergangenen Jahren durch die Orientierung am Nahräumlichen in sogenannten Sozialräumen, die nach alltagsweltlichem Verständnis Quartiere mit definierten räumlichen Grenzen bezeichnen, auf lokaler Ebene versucht, Menschen zu integrieren. So beispielsweise mit der Strategie 2015 der Städteinitiative Sozialpolitik des Schweizerischen Städteverbandes: „Soziale Integration hat viel zu tun mit der Möglichkeit, Räume und Freiräume zu nutzen. Mit der Möglichkeit, im Wohnumfeld den Nachbarn zu begegnen. Hier – im Sozialraum – greifen Maßnahmen für Integration.“ [4] Solche Vorhaben sprechen jedoch auch politische Akteure und Akteurinnen an, die benachteiligten und von sozialstaatlichen Leistungen abhängigen Personen weniger staatliche Leistungen zugestehen wollen. Sie intendieren, durch die Orientierung am Sozialraum die Verantwortung auf die einzelnen Individuen abzuwälzen, damit diese selber mehr leisten müssen. „Das individualisierte Individuum wird paradoxerweise stilisiert zu der Kompensationsinstanz für alles, was in der Gesellschaft nicht mehr funktioniert“ (Beck 2010, S. 28). Diese Vermengung führt zu einer Individualisierung von Risiken und Lebenszusammenhängen (vgl. a.a.O., S. 27), persönliche Schuldzuschreibungen der Betroffenen werden begünstigt und strukturelle Zusammenhänge verdunkelt (vgl. Butterwegge 2005, S. 34). Infolgedessen verstärkt sich ihr Gefühl, zu den Verlierern zu gehören und sie fühlen sich immer noch heimatlos. Sind die so entstandenen Räume also mangels Integrationskraft nicht als „soziale Räume“, sondern vielmehr als „Asozialräume“ zu bezeichnen? Dieser Frage wird im vorliegenden Artikel nachgegangen, indem zunächst die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs „asozial“ aufgezeigt und diese dann in Zusammenhang mit raumtheoretischen Überlegungen gebracht werden.

Was bedeutet „asozial“? – ein Begriff in seinen verschiedenen Bedeutungsdimensionen

Von „Asozialräumen“ zu sprechen wäre auf einer alltäglichen Ebene naheliegend, denn die Alltagssprache ist voll von Raumbegriffen, wie Mutter-Kind-Räume, Jungen- oder Mädchenräume, Gemeinschaftsräume, Warte-, Speise- oder Schlafräume. Während bei diesen alltäglichen Beispielen die jeweilige Gruppe, die „in einem Raum“ handelt, also bspw. Mütter mit ihren Kindern, männliche oder weibliche Kinder und Jugendliche bzw. die Tätigkeit, d.h. sich treffen, warten, essen oder schlafen, einem „Raum“ seinen Namen verleiht, wäre es im Beispiel „Asozialraum“ asoziales Verhalten bzw. eine als asozial betrachtete Gruppe. Ein gruppenspezifisches oder individuelles Verhalten also, welches als Gegenbegriff zu sozial als un-sozial in Bezug auf die menschliche Gemeinschaft und in der Zuspitzung als anti-sozial beschrieben werden kann. Was auf den ersten Blick zu einer klaren Unterscheidung von innen-außen, zugehörig-ausgrenzt etc. führt, ist bei genauerer Betrachtung äußerst herausforderungsreich. „Sozial“ und „asozial“ sind keine absoluten Begrifflichkeiten, sondern erhalten erst durch die Transparent-Machung der dahinterliegenden Vorstellungen von Gesellschaft bzw. der Betrachtungsperspektive ihre relationale, d.h. auf einander bezogenen Bedeutungen.

In einer ersten Bedeutungsdimension meint „asozial“ laut Duden „unfähig zum Leben in der Gemeinschaft, sich nicht in die Gemeinschaft einfügend; am Rand der Gesellschaft lebend“ [5]. Klassischerweise fallen Personen oder Gruppen von Personen und ihre Verhaltensweisen unter diese Definition, welche sich nicht in eine (vorhandene) Gemeinschaft einfügen wollen oder können. Unklar bleibt, ob dieses Wollen oder Können daher kommt, dass die Betroffenen Personen aus den unterschiedlichen Gründen nicht fähig sind, oder ob es die Gemeinschaft ist, welche mit ihren Werten und Normalitätsvorstellungen bestimmte Individuen zu einem Leben am Rand zwingt. Weichen Gruppen von den geforderten gesellschaftlichen Normen ab – bewusst oder unbewusst –, werden sie als asozial bezeichnet, womit ihr gesamtes Dasein stigmatisiert wird. Eine essentialistische Vorstellung von Gesellschaft unterstellt nun die Existenz einer Mehrheitsgesellschaft ebenso wie das Vorhandensein eines (homogenen) Gemeinschaftsgefühls. Durch ihr Verhalten zeigen bestimmte Personen(-gruppen), dass sie nicht dazugehören. Deshalb werden sie als „Andere“ oder „Abweichende“ konstruiert und dadurch wird ihre systematische Ausgrenzung legitimiert, wie dies zu Zeiten des Nationalsozialismus der Fall war. Als asozial galt, „wer durch gemeinschaftswidriges, wenn auch nicht verbrecherisches Verhalten zeigt, dass er sich nicht in die Gemeinschaft einfügen will“ (Willing 2003, S. 173). Der Ausdruck „Asoziale“ wurde politisch und moralisch als Sammelbezeichnung genutzt und damit die Ausgrenzung und Vernichtung von als minderwertig eingeschätzten Menschen legitimiert. Entsprechend wurden gesellschaftliche Randexistenzen als „asozial“ bezeichnet, wie sogenannte Bettler, Landstreicher, Dirnen, Trunksüchtige, gesundheitlich kranke Menschen, aber auch Personen, die aus dem Normalerwerbsleben ausgegrenzt waren, wie Obdachlose oder sogenannte Arbeitsverweigerer bzw. Arbeitsunwillige. Dieses Beispiel zeigt auf, wozu die Vorstellung einer Mehrheitsgesellschaft, welche bestimmt, was sozial erwünscht ist und was als abweichend bezeichnet wird, führen kann und verdeutlicht, dass eine solche Sichtweise kritisch zu hinterfragen ist. Denn eine homogene Gemeinschaftsvorstellung mit geltenden Normalitätsvorstellungen ist reine Konstruktion.

Die zweite, noch deutlicher abwertend gemeinte Bedeutung des Begriffs lautet gemäß Duden „die Gemeinschaft, Gesellschaft schädigend“ [6]. Und auch in der dritten, umgangssprachlichen Bedeutung schwingt eine deutliche Abwertung mit, indem asozial „ein niedriges geistiges, kulturelles Niveau aufweisend; ungebildet und ungehobelt“ [7] meint. Die erste und die zweite Betrachtungsweise bzw. Wortbedeutung von „Asozialität“ unterscheiden sich hinsichtlich der sozialräumlichen Dimensionierung von Ausschließungsprozessen und -mechanismen. Den Stadtteilprogrammen folgend, bildet sich auf einem nahräumlichen Territorium (Flächenraum) ein Sozialraum der Mehrheitsgesellschaft oder ein antisozialer Raum bzw. „Asozialraum“ abweichender oder asozialer Individuen oder Gruppen und entsprechend homogene Parallel- oder Gegenräume heraus. Letztere scheinen die Mehrheitsgesellschaft zu bedrohen. Besonders deutlich wird diese Denkweise im Rahmen der Diskussion um sogenannte Parallelgesellschaften (siehe Reutlinger 2017). Auf demselben Territorium kann es aus Sicht der Sozialraumorientierungsverfechter jedoch nur einen Sozialraum geben – daher werden abweichende Positionen bzw. abweichendes Verhalten ausgegrenzt. Wie schnell sich eine solche als sozial legitim empfundene homogene Zone in eine menschenfeindliche Zone entwickeln kann – wiederum gemessen an der Vorstellung eines pluralistischen Gesellschaftsverständnisses – lässt sich anhand einer Diskussion der späten 1990er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland illustrieren, in der von Angstzonen resp. von „national befreiten Zonen“ die Rede war. „Unter ‚Angstzonen’ sind Territorien zu verstehen, in denen – wenigstens zu bestimmten Zeiten – rechte/rechtsextreme Gruppen durch ihren Habitus, ihr Auftreten und ihre konkreten Verhaltensweisen versuchen, für andere Gruppen eine Zugangs- und Aufenthaltskontrolle zu praktizieren und eine exklusive Nutzung für die eigene Gruppe durchzusetzen. Durch die Demonstration von tatsächlicher oder vermeintlicher Ordnungskompetenz ‚auf der Straße’ wird der öffentliche Raum zeitweise oder dauerhaft in Zonen der Exklusion verwandelt. Nicht allen Personen ist es gestattet, sich ungefährdet an solchen Orten zu bewegen. Der Begriff ‚Angstzone’ übernimmt die Perspektive derjenigen, die mit unterschiedlichen, oftmals gewalttätigen Zugangsverweigerungspraktiken konfrontiert sind. Soweit sich das demonstrative Revierverhalten auf die Ausschluss- und Kontrollfunktion unter dem exklusiven Aspekt des Gebietsgewinns beschränkt, wird von ‚Angstzonen’ gesprochen: Davon unterschieden werden ‚national befreite Zonen’, die als Gebiete innerhalb eines Staates verstanden werden, in denen das staatliche Gewaltmonopol außer Kraft gesetzt ist und in denen das öffentliche Leben weitgehend durch autonome Strukturen bestimmt ist.“ (Döring 2008, S. 39)

In diesem Beispiel werden anhand der beiden Konzepte „Angstzone“ sowie „national befreite Zone“ die Ausschluss- und Zugangsregelungen bestimmter Menschen zu bestimmten Territorien zwar angesprochen. Gleichzeitig werden die radikalen Auswirkungen und Konsequenzen auf den Alltag betroffener Menschen nur schemenhaft skizziert, indem beschrieben wird, dass es diesen nicht gestattet ist, „sich frei zu bewegen“ oder sie mit „oftmals gewalttätigen Zugangsverweigerungspraktiken konfrontiert sind“ (ebd.). Das bedeutet für bestimmte Personen und Personengruppen, dass der Aufenthalt in solchen Zonen im besten Fall nur mit einem ständigen Gefühl der Angst – deshalb der Ausdruck „Angstzone“ – möglich ist. Im extremeren Fall bedeutet die (falsche) Hautfarbe, Sprache, Kleidung, Essverhalten oder das als fehlerhaft definierte Verhalten die konkrete Bedrohung von Leib, Leben und Besitz. Ausgehend von der Raumvorstellung zweier aufeinander exklusiv passender Räume – einen physischen Raum, der auf einen sozialen Raum „passt“ resp. ein homogener sozialer Raum, welcher auf einem Territorium liegt – ließe sich beschreiben, wie sich solche hinsichtlich sozialer Aspekte immer homogener werdenden Zonen herausbilden, eben als sozial homogen und materiell einheitlich verschränkte Räume. Andersartige dürfen sich nicht mehr dort aufhalten, der Zugang wird ihnen erschwert oder verunmöglicht: Entmischungs- und Aussonderungsprozesse sollen zur weiteren Homogenisierung beitragen. Doch was geschieht auf der alltäglichen Ebene zwischen den Menschen und an den unterschiedlichen Orten des Alltags: in der Familie, Nachbarschaft, im Beruf, auf der Straße? Wie werden die entsprechenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse (re-)produziert, welche Ausschlussmechanismen wirken und welches sind die damit verbundenen raumbildenden Praktiken? Schnell wird ersichtlich, dass man auf der Alltagsebene ganz andere analytische Zugänge benötigt als die einfache Trennung von physischen Räumen und sozialen Räumen, welche unterschiedlichen Seins-Bereichen untergeordnet (dem „Physisch-materiellen“ vs. dem „Sozialen“) und exklusiv ineinander verschachtelt sind. In einer ersten entsprechenden Erweiterung macht es Sinn, den raumsoziologischen Überlegungen zu folgen, wie sie bspw. Martina Löw dargelegt hat: „Ich gehe [...] von einem Raum, der verschiedene Komponenten aufweist, aus. Das heißt, ich wende mich gegen die in der Soziologie übliche Trennung in einen sozialen und einen materiellen Raum, welche unterstellt, es könne ein Raum jenseits der materiellen Welt entstehen (sozialer Raum), oder aber es könne ein Raum von Menschen betrachtet werden, ohne dass diese Betrachtung gesellschaftlich vorkonstruiert wäre (materieller Raum). Analytisch gehe ich daher von einem sozialen Raum aus, der gekennzeichnet ist durch materielle und symbolische Komponenten.“ (Löw 2001, S. 15)

Mit diesem die unterschiedlichen Komponenten verwebenden Verständnis kann nun die Entstehung von Zonen mit einem feineren Zugang betrachtet werden, indem es darum geht, die Ausgrenzungsmechanismen zu verstehen, welche in den sozialen Praktiken bei Raumbildungsprozessen wirken resp. sich (re-)produzieren. Konzeptionell können solche raumkonstituierenden Ausgrenzungsprozesse beispielsweise mit dem sozialgeographischen Konzept der „Territorialisierungen“ beschrieben werden. Dieses Konzept wird in der sogenannten handlungszentrierten Sozialgeographie als spezifische Normbindung des Raumbezugs diskutiert: sowohl physisch wie auch sozial festgelegte Grenzen bestimmen den „Zugang und Ausschluss zu beziehungsweise von räumlichen Kontexten des Handelns“ (Werlen 2009, S. 112). In einem Nationalstaat gelten beispielsweise normative Regelungen oder Gesetze im Sinne von „Hier darfst Du dieses tun, dort aber nicht“, welche „die soziale Art des Handelns innerhalb dieser Kontexte“ festlegen (ebd.). „Bei Missachtung ist im allgemeinen mit Sanktionen zu rechnen“ (Werlen 1997, S. 261). Asylsuchende sind bspw. angehalten, das Gemeindegebiet ihrer Asylunterkunft nicht zu verlassen. Wenn ein Asylsuchender diese Weisung nicht befolgt, indem er seine Verwandten besucht in einem anderen Kanton oder Bundesland, verstößt er gegen die Auflagen und muss ins Gefängnis. Menschen, die über keine Staatsangehörigkeit verfügen, müssen je nach Art des Deliktes oder im Wiederholungsfall dieses Land verlassen.

Zentral ist für solche Territorialisierungen, dass sie durch die Kontrolle von Personen und mit Mitteln der Gewaltanwendung durchgesetzt werden. „Bei beiden Formen der Kontrolle bildet der menschliche Körper den Fokus des Interessens“ (ebd.). Norm, Körper und Raum müssten jedoch zusammen gedacht werden resp. müsste verstanden werden, wie diese Dimensionen in den alltäglichen Praktiken miteinander verwoben sind. Das damit verbundene Raumverständnis ist kein Dinghaftes, sondern ein „dynamisches Gebilde“ (Löw 2001, S. 13), welches durch die sozialen Praktiken ständig (re-)produziert wird. „Räume sind keine fixierten Einheiten, die sozialen Prozessen vorgängig sind, [...], sondern ständig (re)produzierte Gewebe sozialer Praktiken“ (Kessl/Reutlinger 2010, 21 und 27). Hintergrund eines solchen Fokus auf die sozialen Praktiken ist die Vorstellung, dass die physisch-materielle Welt immer schon sozial hergestellt ist, da sie von den Menschen wahrgenommen (verstanden) und interpretiert wird. Entsprechend der Raumvorstellung ist die Konstitution von Raum letztlich immer eine sozial hergestellte Leistung. Für Professionelle der Sozialen Arbeit bedeutet dies, durch reflexiv-räumliche Sozialraumarbeit bei den Menschen und ihren Bedürfnissen anzusetzen. Gleichzeitig besteht die Aufgabe von Sozialraumforschung (vgl. Kessl/Reutlinger 2010) darin, die dahinterliegenden Mechanismen zu erkennen und mit geeigneten raumtheoretischen Begriffen und Modellen zu beschreiben. Ebenso zentral ist es, sich klar zu positionieren.

Ist der Begriff „Asozialräume“ weiter verwendbar?

Da ein Raum also, wie aufgezeigt, nicht ohne seine Konstrukteure gedacht werden kann und Sozialraum auf die Tatsache verweist, dass Raum immer das Ergebnis menschlichen Handelns darstellt, kann es einen Raum ohne Menschen oder eben einen A-Sozialraum eigentlich nicht geben. Ein „Asozialraum“ könnte lediglich von „Nicht-Menschen“ oder Wesen, die nicht sozial sind, konstituiert werden. Menschen hingegen schaffen als soziale Wesen immer Sozialräume. Aus dieser raumtheoretischen Perspektive bedeutet die Begriffskonstruktion „Asozialräume“ einen nicht auflösbaren Widerspruch. Argumentativ könnte man den Begriff „Asozialräume“ aber strategisch nutzen und besetzen im neuen „Kampf um Begriffe“ (Diefenbacher 2012, S. 41). Ausgrenzung durch Zuschreibungen ist normalerweise eine Strategie, welche auf schwächere und randständige Personen angewandt wird. Mit der Konstruktion von „Asozialräumen“ könnte man diesen Mechanismus umdrehen. Im Fokus lägen bspw. Diskurse und Praktiken der Neuen Rechten, die vermeintlich im Namen des Volkes legitimiert werden. Bei genauerer Betrachtung sind diese Diskurse und Praktiken jedoch schädigend für eine plurale und integrative Gemeinschaft, bzw. Gesellschaft. Dies gälte es aufzuzeigen und anzuprangern. Gleichzeitig bleibt man mit einer reflexiven und strategischen Nutzung dieses Begriffes nicht davon verschont, sich kritisch mit der negativen historischen Belegung des Begriffs auseinanderzusetzen, was dazu führen kann, dass ethische Bedenken überwiegen. Damit wird ein Grunddilemma sichtbar. Wissenschaftlich fundierte und aufgeklärte Positionen müssen sich auch mit den vielschichtigen Bedeutungen von Begriffen und Konzepten auseinandersetzen. Populistische Bewegungen wie die Neue Rechte müssen dies hingegen nicht. Damit bewegen sie sich am Rande des Möglichen und definieren von da aus in einer machtvollen Position, was das Mach- und Sagbare ist.

Angesichts des nicht auflösbaren Widerspruchs der Begriffskonstruktion sowie der historisch problematischen Aufladung des Begriffs „asozial“ stellt sich das Konstrukt „Asozialräume“ abschließend als kaum weiter verwendbar dar, soll aber dennoch zum kritischen Nachdenken und Hinterfragen von (Neu-)Ordnungen des Räumlichen, die angeblich Heimat und Orientierung vermitteln sollen, anregen.

Literaturverzeichnis

Beck, Ulrich (2010): Risikogesellschaft und die Transnationalisierung sozialer Ungleichheiten. In: Beck, Ulrich/Poferl, Angelika (Hrsg.): Große Armut, großer Reichtum. Zur Transnationalisierung sozialer Ungleichheit. Berlin: Suhrkamp. S. 25–52.

Butterwegge, Christoph (2005): Globalisierung, Wohlfahrtsstaat und Soziale Arbeit. In: Thole, Werner/Cloos, Peter/Ortmann, Friedrich/Strutwolf, Volkhardt/Otto, Hans-Uwe (Hrsg.): Soziale Arbeit im öffentlichen Raum. Soziale Gerechtigkeit in der Gestaltung des Sozialen; Hans-Uwe Otto zum 65. Geburtstag. Wiesbaden: VS Verlag. S. 27–35.

Diefenbacher, Hans (2012): Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Zum Verhältnis von Ethik und Ökonomie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Döring, Uta (2008): Angstzonen. Rechtsdominierte Orte aus medialer und lokaler Perspektive. Wiesbaden: Springer VS.

Dörre, Klaus. „Die national-soziale Gefahr. Pegida, Neue Rechte und der Verteilungskonflikt – sechs Thesen“. http://www.theoriekritik.ch/?p=2833.

Gansel, Jürgen (2007): Die Arbeitsnomaden von Kosmopolis. In: Deutsche Stimme 32, H. 2.

Giddens, Anthony (1995): Konsequenzen der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Günzel, Stephan (Hrsg.) (2010): Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart, Weimar: Verlag J.B. Metzler.

Kessl, Fabian/Reutlinger, Christian (Hrsg.) (2010): Sozialraum. Eine Einführung. 2. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag.

Küpper, Beate/Häusler, Alexander/Zick, Andreas (2016): Die Neue Rechte und die Verbreitung neurechter Einstellungen in der Bevölkerung. In: Zick, Andreas/Küpper, Beate/Krause, Daniela (Hrsg.): Gespaltene Mitte. Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2016. Bonn: Dietz. S. 143–166.

Löw, Martina (2001): Raumsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Reutlinger, Christian (2017): Machen wir uns die Welt, wie sie uns gefällt? Ein sozialgeographisches Lesebuch. Zürich: Seismo.

Werlen, Benno (1997): Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen. Schriftenreihe für Forschung und Praxis. Stuttgart: Steiner.

Werlen, Benno (2000): Globalisierung in Alltag, Wissenschaft und Unterricht. In: Blotevogel, Hans H./Ossenbrügge, Jürgen/Wood, Gerald (Hrsg.): Lokal verankert – weltweit vernetzt. Tagungsbericht und wissenschaftliche Abhandlungen. Stuttgart: Franz Steiner Verlag. S. 433–438.

Werlen, Benno (2001): Entankerung. In: Martin, Christiane (Hrsg.): Lexikon der Geographie. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag.

Werlen, Benno (2009): Zur Räumlichkeit des Gesellschaftlichen: Alltägliche Regionalisierungen. In: Hey, Marissa/Engert, Kornelia (Hrsg.): Komplexe Regionen – Regionenkomplexe: multiperspektivische Ansätze zur Beschreibung regionaler und urbaner Dynamiken. Wiesbaden: VS Verag. S. 99–118.

Willing, Matthias (2003): Das Bewahrungsgesetz (1918-1967). Eine rechtshistorische Studie zur Geschichte der deutschen Fürsorge. Tübingen: Mohr Siebeck.


Fussnoten

[1] http://www.frankfurt.de/sixcms/media.php/738/Pr%C3%A4sentation%20Fachtag%20November%202010.pdf, S. 3, zugegriffen am 11.07.2018

[2] Anthony Giddens beschrieb Mitte der 1990er Jahre mit dem Begriff der „Entbettung“ (1995, S. 30) die Umstrukturierungsprozesse von Räumlichkeit, indem durch die sogenannte Entkoppelung von Raum und Ort „lokale Prozesse weniger oder nicht nur durch lokale Faktoren, sondern durch fern und gleichzeitig anwesende Kontexte gesteuert werden“ (Günzel 2010, S. 213). „Im Gegensatz zu den räumlich und zeitlich verankerten (Verankerung) prämodernen Gesellschaften, werden spätmoderne Gesellschaften (Spät-Moderne) als räumlich und zeitlich entankert charakterisiert. Als die zentralen Entankerungsmechanismen in räumlicher Hinsicht werden Schrift, Geld und technische Artefakte betrachtet, durch deren Wirksamkeit die räumlichen Kammerungen gesellschaftlicher Zusammenhänge in vielerlei Hinsicht aufgehoben werden.“ (Werlen 2001, o. S.) Die Rückbettung wird schliesslich von Anthony Giddens als Antwort auf Entbettungs- oder Entankerungsmechanismen betrachtet, indem jeder Entbettungs- durch einen Rückbettungsvorgang beantwortet wird (Giddens 1995, 176f.).

[3] http://www.taz.de/!5443015/, zugegriffen am 18.07.2018

[4] https://staedteinitiative.ch/cmsfiles/Strategie_lang_d_web_1.pdf, zugegriffen am 18.07.2018

[5] https://www.duden.de/rechtschreibung/asozial, zugegriffen am 19.07.2018

[6] https://www.duden.de/rechtschreibung/asozial, zugegriffen am 19.07.2018

[7] ebd.


Zitiervorschlag

Reutlinger, Christian und Christina Vellacott (2018): Gibt es „Asozialräume“? – eine Suche nach einem alternativen Begriffskonstrukt. In: sozialraum.de (10) Ausgabe 1/2018. URL: https://www.sozialraum.de/gibt-es-asozialraeume.php, Datum des Zugriffs: 19.04.2024