Jane Addams und die Machtquellen ihrer Zeit – Eine machttheoretische Rekonstruktion und Neulektüre zum Chicagoer Hull House
Wencke Lüttich
1. Einleitung
Die Arbeit der zunächst nur weiblichen Bewohnerinnen des Settlements Hull House in Chicago wurde vor über 130 Jahren als radikal und grundlegend neu wahrgenommen. Silvia Staub-Bernasconi spricht von einem Meilenstein der Gemeinwesenarbeit, bzw. von der Gründerin Jane Addams als Pionierin, die bis heute inspirierend und beispielgebend sei (vgl. Stövesand et al. 2011, 37). Macht und Machtverhältnisse waren sicher ein zentrales Thema der Aktivitäten im Hull House. Gleichwohl wird diese Dimension bislang nur selten betrachtet. Vor diesem Hintergrund richtet dieser Beitrag seinen Fokus stärker systematisch auf die Frage, wo und in welcher Weise Macht und Machtverhältnisse in den Arbeiten von Jane Addams thematisiert werden. Dazu werden die zentralen Arbeiten von Jane Addams sowie die Dimensionen der Macht nach Staub-Bernasconi als Analyserahmen mit hinzu gezogen.
Im Umgang mit Macht und Empowerment gilt es klar zu unterscheiden zwischen Ermächtigung, Befähigungsstrategie oder „Hilfe zur Selbsthilfe". Silvia Staub-Bernasconi verweist auf eine gelungene Definition der International Federation of Social Workers Europa: „Empowerment als „capacity of social workers to enable people to define their rights and to act in order to have them realised" – und dies auch bei Widerstand und Blockierungen durch die Machtträger, müsste man hinzufügen, wenn man wirklich Macht meint.“ (Staub-Bernasconi 2016, 400)
Als ein gelungenes Beispiel für Empowerment nennt Staub-Bernasconi das Community Organizing (CO) in der Tradition von Saul Alinsky. War Jane Addams zu ihrer Zeit in die Nähe von Radikalen gestellt worden und dafür heftig kritisiert worden, so bezeichnete Saul Alinsky sich in den 1960er Jahren selbst so und nannte sein zentrales Werk „Rules for Radicals – A Practical Primer for Realistic Radicals“ (Alinsky 1971). Der Ansatz CO wird im Rahmen dieses Beitrags nicht ausführlich dargestellt. Der Auftrag für Organizer:innen ist für Saul Alinsky „to help the powerless learn how to use and think about power for themselves.” (Phulwani 2016, 864).Saul Alinsky hat in Chicago versucht, mit Settlements zusammenzuarbeiten, dies scheiterte jedoch überwiegend. Alinksy war „the settlement houses' most important single challenger.“ (Trolander 1982, 348).
2. Theoretischer Hintergrund
In diesem Beitrag wird das theoretische Verständnis von Macht nach der Definition von Silvia Staub-Bernasconi genutzt. Sie versteht Macht als „Oberbegriff für alle kurz- und langfristigen sozialen Ungleichheitsvorstellungen zwischen Menschen (…). Macht ist ein Relationsbegriff; er bezieht sich auf asymmetrische, vertikale Beziehungsverhältnisse zwischen mindestens zwei Menschen, aber auch zwischen Familien, Gruppen, Organisationen, Nationen, Bevölkerungen usw.“ (Staub-Bernasconi 2018, 407). Dabei sind unterschiedliche Machtquellen sowie verschiedene Formen der Macht feststellbar.
2.1 Machtquellen
Machtquellen sind laut Staub-Bernasconi Ressourcen, die von Menschen eingesetzt werden (können), um soziale Beziehungen machtbegrenzend oder machtbehindernd zu gestalten. Sie sind die Voraussetzung für den Aufbau von Gegenmacht. Staub-Bernasconi stellt die Hypothese auf, dass die „Entdeckung und Nutzung von Machtquellen für den Aufbau von Gegenmacht (…) aus einer vermeintlichen Ausweglosigkeit herausführen“ können. (Staub-Bernasconi 2016, 411)
Wird in der Arbeitsbeziehung von Sozialarbeiter:innen und ihren Adressat:innen systematisch daran gearbeitet, bisher nicht genutzte Machtquellen zu aktivieren, zu entwickeln oder aufzubauen sowie den Prozess zu unterstützen, diese zur Durchsetzung von legitimierten Ansprüchen einzusetzen, so spricht Staub-Bernasconi von Empowerment. Sie betont dabei, dass diese Unterstützung auch in Situationen gegen den Willen von Machthabenden erfolgt (Staub-Bernasconi 2018, 217). Als Machtquellen benennt sie:
- „ Physische Präsenz (Körpermacht) – viele Körper im Zusammenhang mit Streiks, Demonstrationen, Sit-Ins, öffentliche Inszenierungen usw., aber auch Entzug von Präsenz durch Absentismus, Krankheit, Flucht, Hungerstreik usw.;
- Sozioökonomische Ressourcen als Machtquelle, d. h. im Besonderen Bildungstitel, Einkommen, Kapital, Produktionsmittel, Großgrundbesitz usw. als Elemente von Ressourcenmacht;
- Artikulationskompetenz als Machtquelle, d. h. die Fähigkeit, sich Gehör zu verschaffen bzw. über Kommunikation (Rhetorik) andere emotional, normativ oder kognitiv zu beeinflussen, wird zur Artikulationsmacht;
- Wissens- bzw. Bedeutungssysteme symbolischer, kognitiver, ethischer, rechtlicher Art werden zur Definitions- oder Modellmacht;
- Handlungskompetenzen führen zur Anerkennung als Autorität und werden im Rahmen von sozialen Systemen zur Positionsmacht;
- Soziale Beziehungen im Sinn informeller und formeller Mitgliedschaften (z. B. Bekannt- und Freundschaften, informelle Netzwerke; ferner Mitgliedschaft in sozialen Bewegungen, Parteien, Gewerkschaften, Berufsverbänden, religiösen Vereinigungen usw.) werden zur (informellen Organisationsmacht.“ (Staub-Bernasconi 2016, 411f.).
2.2 Behinderungs- und Begrenzungsmacht
Die Erschließung von Machtquellen kann sowohl dem Empowerment dienen, als auch dazu genutzt werden, um Behinderungs- oder Begrenzungsmacht aufzubauen (vgl. Staub-Bernasconi 2016, 412).
Staub-Bernasconi unterscheidet hier in zwei Machtformen, die „Behinderungsmacht“, welche bedürfnisbehindernd und menschenverachtend ist sowie die „Begrenzungsmacht“, die bedürfnis- und menschengerecht ist. Neben einer Machtdimension „Gewalt“, die sich auf ungleich verteilte Körperkräfte bezieht, nennt sie vier weitere Dimensionen. Eine ungleiche Verteilung von Ressourcen führt zu sozialer Schichtung, die von Befehlschancen zu sozialen Hierarchien. Bei der ungleichen Verteilung regulativer, allgemeinster Ideen kommt es zu symbolischen Ordnungen, bzw. Kulturmustern als Legitimationsfiguren von Machtstrukturen und die ungleiche Verteilung von Sanktionsmitteln ermöglicht einen Kontrollapparat. Eine Stabilisation ist durch soziale Verhaltens-, interaktions- und Zugangsregeln möglich. Diese Ungleichheitsordnungen können für Lebensumstände von Individuen sowohl menschengerechte als auch menschenfeindliche Wirkungen haben. Nur selten kommt Behinderungs- oder Begrenzungsmacht in Reinform vor, es sind eher Mischungen mit unterschiedlichen Anteilen der jeweiligen Macht. Im Rahmen von Machtanalysen muss also genau hingeschaut werden, welche Anteile in welchen der Machtdimensionen ausgeprägt sind. Die Extremformen sind im Bereich Behinderungsmacht eine totalitäre Diktatur bzw. Terrorherrschaft und für die Begrenzungsmacht eine Demokratie mit sozialer Gerechtigkeit – dazwischen kann es diverse mögliche Ausprägungen geben. Aber nicht nur im Hinblick auf z. B. Regierungsformen ist dieses Modell anwendbar, vielmehr ist es nutzbar für jedes soziale System (vgl. Staub-Bernasconi 2007, 10f.)
3. Macht bei Jane Addams – Eine rekonstruktive Analyse zentraler Textarbeiten rund um das Hull House in Chicago
Jane Addams hat zu Lebzeiten zehn Bücher und Hunderte von Texten publiziert. Im Folgenden liegt der Fokus auf dem Text „Twenty Years at Hull House“ von 1910 (Addams 2017). Um zeitgeschichtliche Bedeutungen von Begrifflichkeiten besser einschätzen zu können, wird die deutsche Übersetzung von Else Münsterberg „Zwanzig Jahre sozialer Frauenarbeit in Chicago“ aus dem Jahr 1913 hinzugezogen. Dieser Übersetzung fehlen Teile des Originaltextes, da diese für die deutschsprachige Leser:innenschaft als nicht interessant eingeschätzt wurden (vgl. Addams 1913, 7). Der Text „Twenty Years at Hull House“ wurde von Jane Addams im Alter von 46 Jahren als Rückblick und erster Teil ihrer Autobiographie geschrieben. Hierbei konnte sie Stellung nehmen zu ihrem Bild in der Öffentlichkeit, zu zwei Biographien, die ihr nicht gefielen (vgl. Addams 1913, 6), sowie möglicherweise einige Geschichten in ihrem Sinne darstellen oder bewusst zuspitzen (vgl. Elshtain 1997, 106).
3.1 Jane Addams (1860-1935) und das Hull House
Jane Addams war Sozialarbeiterin, Soziologin, Philosophin und Feministin. Hätte man sie selbst gefragt, hätte sie sich je nach Lebensphase vermutlich am ehesten als Soziologin (vgl. Deegan 1988, 8) und Friedensaktivistin verstanden.
Ihr großes Vorbild war ihr Vater, John Addams, ein vermögender Mühlen- und Landbesitzer, Bankdirektor und einflussreicher republikanischer Regionalpolitiker. Als er 1881 starb, hinterließ er ein großes Vermögen von 350.000 $ von dem, wie der Neffe von Jane Addams betont, jeder Dollar ehrlich verdient war. John Addams war nicht bestechlich oder korrupt, das Geld war nicht schmutzig („tainted“) (vgl. Linn 1935, 1). Beim Tod ihres Vater erbte Jane Addams 50.000 $ und hätte damit ein sorgenfreies Leben führen können. Doch bereits als sechsjährige hatte Jane, nachdem sie das erste Mal bewusst Armut wahrgenommen hatte, beschlossen, dass „when she grew up she would have a big house like the one she herself lived in, but it would not be built among other big houses, but right in the midst of horrid little houses like these.” (Linn 1935, 27). Ganz so war es sicherlich nicht. Nach einem Collegeabschluss und einem angestrebten Medizinstudium, welches sie aus gesundheitlichen Gründen nicht umsetzen konnte, unternahm sie eine, in ihren Kreisen für höhere Töchter übliche, Bildungsreise nach Europa bei der sie in London Toynbee Hall und die „Settlementbewegung“ kennenlernte.
Im Jahr 1889 wurde das Hull House eröffnet. Die Gründerinnen sind Ellen Gates Starr, Jane Addams, Julia Lathrop und Florence Kelley (Linn 1935, 27). Benannt ist es nach dem ursprünglichen Besitzer des Hauses. Die Gründungsmotivation für dieses Settlement fasst James Weber Linn so zusammen:
„(…) so might American college women live happily and usefully in the Chicago slums. Young women who had been ‘smothered and sickened with advantages,’ without responsibilities or expectation of being able to use what they knew or respond fully to the demands their own instinctive womanly sympathies made on them—it was to such that she wanted to give an opportunity.” (Linn 1935, 89).
Jane Addams selbst zitiert als Aufgabe des Settlements die Gründungsstatuten: „To provide a center for higher civic and social life; to institute and maintain educational and philanthropic enterprises, and to investigate and improve the conditions in the industrial districts of Chicago." (Addams 2017: 38). Später im Text ergänzt sie um den Aspekt der Demokratisierung: „The educational activities of a Settlement, as well its philanthropic, civic, and social undertakings, are but differing manifestations of the attempt to socialize democracy, as is the very existence of the Settlement itself.” (Addams 2017, 139).
In ihrer Machttheorie bezieht Silvia Staub-Bernasconi sich „auf die von Menschen gemachten und artikulierten Unrechtserfahrungen.“ (Staub-Bernasconi 2016, 403). Auch die Bewohnerinnen des Hull House haben genau dort mit ihrer Arbeit angesetzt. Die Probleme, mit denen sich die Nachbar:innen des 19. Bezirks in Chicago konfrontiert sahen, werden die Themen der Bewohnerinnen („residents“) des Hull House. Dazu gehören u. a. Korruption, Spekulation, Ausbeutung, lebensgefährliche Arbeitsbedingungen, Diskriminierung, gewalttätiger Rassismus, große Wohnungsnot, Nahrungsmittelmangel und steigende Kriminalität. Jane Addams und ihre Mitstreiterinnen positionierten sich zu Machtthemen, Meinungsfreiheit und Demokratie. Zudem war es ihnen wichtig, auch unabhängig zu sein:
„The defense of free speech was a sensitive point with me, and I quickly replied that while I did not intend to be subsidized by millionaires, neither did I propose to be bullied by workingmen, and that I should state my honest opinion without consulting either of them. To my surprise, the audience of radicals broke into applause, and the discussion turned upon the need of resisting tyranny wherever found, if democratic institutions were to endure.” (Addams 2017, 61).
Die Bewohner:innen des Hull House waren kein Wohltätigkeitsverein der christlichen Nächstenliebe. Sie wollten als arbeitende Frauen wahrgenommen werden und einen gesellschaftlichen Unterschied machen. Hierbei war auch ein Machtaspekt enthalten, konkret ein „Bestreben, führende gesellschaftliche Positionen einzunehmen.“ (Braches-Chyrek/Suenker 2017, 232f.). Jane Addams ist die Macht des Settlements bewusst und sie schreibt dazu, dass ein solches in der Nachbarschaft die gleiche Funktion hat, wie der große Bruder auf einem Spielplatz (Addams 2017, 55).
3.2 Analysekriterien
Auch wenn Jane Addams und ihre Mitstreiterinnen die Machttheorie von Staub-Bernasconi (vgl. u. a. Staub-Bernasconi 2016; 2018) nicht kennen konnten und das Konzept von Machtquellen ebenfalls nicht explizit benannt wird, so lassen sich doch aus der Analyse der Aktivitäten des Hull House aus den ersten zwanzig Jahren Beispiele zu allen Machtquellen finden, bzw. Bezüge zu Begrenzungs- und Behinderungsmacht herstellen. Ich habe dafür ihren autobiographischen Text durchgearbeitet und die Aktivitäten nach Machtquellen systematisiert. Es finden sich mehr als einhundert Beispiele für Machtquellen im Sinne von Staub-Bernasconi, hierbei war auch die Verteilung interessant, denn Silvia Staub-Bernasconi attestiere den Machtlosen in erster Linie Körpermacht. „Dazu kommt Artikulations-, Definitions- und Organisationsmacht.“ (Staub-Bernasconi 2016, 422). Ressourcen sind dabei für Machtlose nicht genannt. Das Settlement hat in diesem Bereich grundlegende Verbesserungen ermöglicht. Einige Textstellen lassen sich mehr als einem Bereich zuordnen, bzw. Ressourcen können der Ausgangspunkt für weitere Ermächtigungen sein. Machtquellen zugänglich zu machen, kann laut Staub-Bernasconi „durch problemorientierte Arbeitsweisen wie Ressourcenerschließung, Bewusstseinsbildung, Vernetzung und Empowerment-Strategien erreicht werden.“ (Sagebiel/Pankofer 2015, 115). Diese vier Arbeitsweisen durchziehen die Aktivitäten der Arbeit des Hull House, so dass man alternativ die Textstellen auch in die vier oben genannten Bereiche sortieren könnte.
Die Bewohnerinnen des Hull House lebten und arbeiteten im 19. Bezirk von Chicago, einem der Slums der damaligen Zeit. Die Nachbarschaft bestand aus vielen Einwanderer:innen, zunächst aus Deutschland, Russland und Irland, später aus Italien, Griechenland und vielen weiteren Ländern. Die Lebens- Wohn- und Arbeitsbedingungen waren oft menschenunwürdig. Die Bewohnerinnen des Hull House hatten ausreichend finanzielle Mittel, um für sich selbst zu sorgen und nahmen oftmals auch Erwerbsarbeit außerhalb ihrer Tätigkeit im Hull House war. Ihnen war bewusst, dass sie immer eine Art Sicherheitsnetz hatten, im Falle von Krankheit oder im Alter (vgl. Addams 2017, 45). Aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung und Bildung konnten sie sowohl Ressourcen in die Nachbarschaft bringen, wie z. B. die Nutzung des Hull House und die Ausweitung auf viele weitere Gebäude in den folgenden Jahren. Über Untersuchungen und Gesetzesinitiativen konnten sie Probleme sichtbar machen und so für (verbesserte) Regelungen sorgen.
3.3 Darstellung machtbezogener und machtrelevanter Aspekte der Aktivitäten des Hull House
Im Folgenden werden exemplarisch Aktivitäten ausgewählt und analysiert, die sowohl Arbeitsweise und Haltung der Bewohnerinnen des Settlements als auch den Umgang mit Macht verdeutlichen. Zu jeder der über einhundert Textstellen lassen sich umfangreiche Betrachtungen anstellen, der Schwerpunkt wird hier auf unbekanntere Bespiele gelegt.
3.3.1 Wer spricht wo über wen?
Jane Addams erinnert sich an eine junge Frau aus der Nachbarschaft, die etwa einen Monat bei ihnen lebte. Dies war in der Anfangszeit des Settlements und es gab viele Besucher:innen, die viele neugierige Fragen hatten und die junge Frau über diese Leute in der Nachbarschaft ausfragten ohne zu ahnen, dass sie mit einer von denen sprachen. Nachdem Jane Addams davon erfuhr, beschloss sie, niemals vor einem Publikum in Chicago über Belange des Settlements zu sprechen ohne Nachbar:innen mitzunehmen, die mit profunden Kenntnissen darüber wachen würden, dass sie keine Verallgemeinerungen berichtete (vgl. Addams 2017, 34).
3.3.2 Das erste öffentliche Badehaus
Die Wohnungen im 19. Bezirk von Chicago hatten kein eigenes Badezimmer. Wasser zur Körperpflege wurde, wenn überhaupt, auf dem Küchenherd erhitzt. Durch beengte Verhältnisse, überbelegte Wohnungen und sehr schlechte Leitungen kam es immer wieder zu Krankheitsausbrüchen mit hohen Todeszahlen (z. B. Fieber-Epidemien, Typhus und Tuberkulose). Zunächst wurden im Keller des Hull House drei Badewannen installiert, die die Nachbarschaft nutzen konnte (vgl. Addams 2017, 100). Dies war eine Ressource, die gebraucht und auch angenommen wurde. Es war klar, dass drei Kellerbäder den Bedarf nicht decken würden, aber Jane Addams betont in ihren Aufzeichnungen, dass es darum geht, Dinge auszuprobieren und daraus ggf. für die ganze Stadt zu lernen (vgl. Addams 2017, 43). Aufbauend auf den positiven Erfahrungen, war anschließend die Forderung nach einem öffentlichen Badehauses für den Stadtteil. Hierbei galt es nun die städtischen Entscheidungsträger:innen zu überzeugen, dass diese auch benutzt würden. Es gab Gerüchte von Wohnungen mit Badewannen, die angeblich für die Lagerung von Kohle zweckentfremdet wurden. Diesen Vorurteilen konnte nun mit unwiderlegbaren Argumenten begegnet werden, da die drei Badewannen im Hull House die einzigen in einem Radius von mehreren Meilen waren und sehr viel genutzt wurden. Neben den Argumenten der Erfahrung, welche sie als kompetent im Thema auswiesen (Positionsmacht) konnten sie die Beschwerden der Nachbarschaft über ein fehlendes Badehaus anführen (Artikulationsmacht) und weitere Ressourcen einbringen, um ein solches Badehaus zu ermöglichen. Die Stadt erhielt von einer dem Hull House nahestehenden Person ein Grundstück mietfrei zur Verfügung gestellt, so dass lediglich Baukosten entstanden. In der Folge gab es ein sehr gut besuchtes Badehaus, welches nun die Körpermacht vieler Nachbar:innen stärken konnte, da es die körperliche Gesundheit durch Hygiene förderte. Die betroffenen badezimmerlosen Nachbar:innen haben sich ggf. unabhängig vom Hull House über ihre Lage beschwert. Das kann nicht rekonstruiert werden, aber die Vorurteile der zuständigen Stellen legen nahe, dass das Anliegen nicht ernstgenommen wurde. Die Bewohnerinnen des Hull House haben auch nicht normativ beschlossen, dass es ein öffentliches Badehaus geben muss, da sie selbst über Zugang zu einem Bad verfügten und top-down sofort bei der Stadt für ein solches nachgefragt. Sie haben vielmehr einen Bedarf wahrgenommen und ausprobiert, ob dieser Eindruck mit der Realität übereintraf. Als dieser sich bestätigte, haben sie anwaltschaftlich gehandelt und dem Anliegen mittels ihrer Stellung Nachdruck verliehen. Sie haben für die Nachbarschaft gehandelt und weniger mit ihnen direkt. Jane Addams reflektiert in ihrem Text jedoch, dass Ausprobieren zwar wichtig ist, es aber kritisch zu hinterfragen sei, ob das, was man tut auch das Hilfreiche und Akzeptierte in der Nachbarschaft ist (vgl. Addams 2017, 45).
3.3.3 Die Zeitungsjungen und die gemeinsame Untersuchung
Die Bewohnerinnen des Hull House waren maßgeblich an der Gesetzgebung zur Verhinderung der Kinderarbeit beteiligt (vgl. Addams 2017, 66), die ein Arbeitsalter ab vierzehn einführte. Später wurde deutlich, dass die Zeitungsjungen nicht unter das Gesetz fielen, da sie nicht als Angestellte, sondern als selbstständige Einzelhändler zählten. Hier vernetzten sich zehn Settlements in Chicago und führten eine gemeinsame vierundzwanzigstündige Untersuchung durch, bei der sie alle Zeitungsjungen, die sie auf der Straße antrafen, interviewten. Hierbei war es einfach, hinterher zuständige Schulen und zugehörige Haushalte zu identifizieren, da ein Großteil der Jungen in der Nachbarschaft eines der beteiligten Settlements lebte (vgl. Addams 2017, 96f.). Organisationsmacht führte hier zu etwa eintausend Interviews, die ein einzelner Standort nie so schnell zu Stande gebracht hätte. An diesem Bespiel wird deutlich, dass die Bewohnerinnen nicht in einem Elfenbeinturm ohne Bezug zu ihrer Nachbarschaft lebten sondern, dass sie mitten unter ihnen lebten und die Lebensverhältnisse gut kannten.
3.3.4 Die erste erfolgreiche weibliche Genossenschaft: Der Jane Club
Der Jane Club, welchen Jane Addams zu Beginn ebenfalls ein Experiment nennt (vgl. Addams 2017, 45f.), war ein genossenschaftliches Wohnprojekt für junge Frauen (vgl. Schultz 2007, 157f.). Es entstand spontan, als streikende Arbeiterinnen sich im Hull House trafen und sich über ihre Wohnbedingungen austauschten. Es wurde deutlich, dass ein Streik und damit Lohnverzicht oft ein zu großes Risiko war, wenn die Frauen Kosten für Unterkunft und Verpflegung zu zahlen hatten und bei Rückständen fürchteten, das Dach über dem Kopf zu verlieren. Im Verlauf der Diskussion kam der Gedanke auf, dass es einfacher wäre, wenn man sich bei einem Wohnverhältnis, wie auch bei einem Streik, auf ein solidarisches Miteinander verlassen könnte. Die Bewohnerinnen des Hull House unterstützten die Idee der Arbeiter:innen vielfältig. Zunächst lernten sie gemeinsam, wie man eine solche Genossenschaft am besten angeht, indem sie das Fachbuch „Genossenschaften“ von Beatrice Potter Webb zu Rate zogen. Das Settlement organisierte als Startressourcen die Möblierung von zwei Wohnungen und sicherte die Miete für den ersten Monat, alles darüber hinaus übernahmen die Frauen des Jane Clubs selbstverwaltet. Dieses Projekt war von Anfang an erfolgreich und nach drei Jahren hatte der Club alle sechs Wohnungen des Gebäudes angemietet. Der Jane Club bestand zu dem Zeitpunkt aus fünfzig Frauen. Während eines Besuchs des US-amerikanischen Arbeitsministers zeigte dieser sich beeindruckt, da schon viele Genossenschaften untersucht wurden, aber keine, die von Frauen gegründet und unterhalten worden, erfolgreich gewesen sei (vgl. Addams 2017, 45f.). An diesem Beispiel wird deutlich, dass die Bewohnerinnen des Hull House eine Ressourcenerschließung unterstützten, die es den Arbeiterinnen ermöglichte, ihre Idee umzusetzen und dann eigenständig auszuweiten. Der Hinweis auf ein gemeinsames Lernen macht deutlich, dass auf Augenhöhe zusammengearbeitet wurde.
Ein Mitglied des Jane Club beschreibt die Regeln des Zusammenlebens im American Journal of Nursing und versucht, Vorurteile abzubauen (Whitcombe 1901, 86). Dies ist ein weiteres Beispiel für die Bewusstseinsbildung und Artikulationsmacht. Die studierten Bewohnerinnen des Hull House publizierten regelmäßig in ganz unterschiedlichen Bereichen, so ist es nur konsequent, dass eine Krankenschwester über die Erfahrungen des genossenschaftlichen Wohnens berichtet, auch wenn dies für ihre Zeitgenossinnen keine Selbstverständlichkeit war.
Die Erweiterung des Jane Club, bzw. der Bau eines geeigneteren neuen Gebäudes führte zu einer neuen Erfahrung mit Ressourcenmacht. Ein Vorstandsmitglied des Hull House bat einen möglichen Spender um Geld für einen Neubau und dieser sagte 20.000 $ zu. Als das Vorstandsmitglied den Bewohnerinnen des Hull House diese vermeintlich gute Nachricht überbrachte, enthüllte es auch den Namen des potenziellen Spenders, der dafür bekannt war, Frauen auszubeuten und anderes mehr. Jane Addams und ihren Mitstreiter:innen war klar, dass sie auf keinen Fall von diesem Mann Geld dafür annehmen konnten. Gleichzeitig brachte es das Vorstandsmitglied des Hull House in Bedrängnis, da dieses um Geld gebeten hatte und nun die Spende als unpassend ablehnen musste. In der Folge gab es lange Diskussionen darüber, dass man zu dieser potenziellen Spende Stellung nehmen müsste und über die öffentliche Kommunikation evtl. auch Einfluss auf solches Gebaren nehmen könnte – man entschied sich jedoch dagegen, da um die Spende ursprünglich vom Hull House gebeten wurde (vgl. Addams 2017, 46f.).
3.3.5 Arbeitsvermittlung
Arbeitslosigkeit war für das Settlement zu jeder Zeit ein großes Thema. Viele der neuen Einwanderer:innen wurden schamlos ausgenutzt, indem sie zunächst nur ungelernte Hilfsarbeiterstellen bekamen, bzw. für die Vermittlung von dubiosen Privatleuten oder Vermittlern über das Ohr gehauen wurden (vgl. Addams 2017, 72). Hull House stellte zu diesen Machenschaften eine Untersuchung in der Nachbarschaft an und die Ergebnisse bestätigten alle Befürchtungen. Dies wurde in der Folge zum Anlass genommen, unabhängige Arbeitsagenturen unter staatlicher Kontrolle zu fordern und 1899 wurde dazu ein entsprechendes Gesetz erlassen, ganz im Sinne von Begrenzungsmacht. Gesetze bedeuten jedoch nicht, dass ein Unrecht abgestellt ist, wie weitere Untersuchungen des Hull House zehn Jahre später bestätigten. Trotz verbesserter rechtlicher Situation wurden Einwanderer:innen immer noch ausgenutzt (vgl. Addams 2017, 72).
3.3.6 Das Museum der Arbeit bzw. des traditionellen Handwerks
Jane Addams fand das Wort Museum zunächst zu groß für ein weiteres Experiment (vgl. Addams 1912, 410), welches ihr als Idee kam, als sie eine alte Frau mit einer Handspindel beobachtete. Sie sah die Gelegenheit, das alte Handwerk und die industrielle Tätigkeit und damit Alt und Jung wieder mehr in den Kontakt zu bringen, bzw. wie John Dewey sagte: „a continuing reconstruction of experience." (Addams 2017, 77). Die Grundlage für die Arbeit in einer Spinnerei und die komplizierten Maschinen dort lag schließlich in der langen Tradition des Spinnens von Hand. Innerhalb eines Monats war ein Raum ausgestattet mit unterschiedlichsten Werkzeugen aus den Bereichen Spinnen und Weben. Sie sammelten hierfür noch genutzte Werkzeuge der Frauen aus der Nachbarschaft und sortierten die Methoden zeitgeschichtlich ein. Am Ende fanden sich Frauen aus Syrien, Griechenland, Italien, Russland und Irland, die die Techniken noch beherrschten, zusammen. Es wurde laut Addams deutlich, „that there is no break in orderly evolution if we look at history from the industrial standpoint; that industry develops similarly and peacefully year by year among the workers of each nation, heedless of differences in language, religion, and political experiences.” (Addams 2017, 77f.).
Das Museum und Kurse in Schulen zeigten die Bedeutung des Handwerks, welches von Frauen ausgeführt wurde. Gleichzeitig bekamen die alten Frauen eine Aufgabe und Sichtbarkeit. Kinder und Enkelkinder, die das Gefühl hatten, dass die Verwandten oftmals noch nicht im Amerika der Neuzeit angekommen waren, konnten diese nun in einer Rolle der Wissensvermittlerinnen sehen und gleichzeitig eigene Wurzeln entdecken. Zusätzlich waren diese Frauen ggf. vereinzelt und fühlten sich fremd. Spinnen und Weben konnte hier im Austausch mit Frauen aus anderen Ländern eine Sprache und ein Anknüpfungspunkt für Bekanntschaften und ein erstes eigenes soziales Netzwerk werden (vgl. Addams 1912, 410). Dieses Experiment ermöglichte auf vielen Ebenen Kommunikation und stärkte Familien untereinander, ebenso wie die Nachbarschaft als Ganzes. Und es holte Einwanderer:innen aus einer unselbstständigen, vermeintlich ungebildeten Rolle und gab ihnen eine Stimme. Die Hull House Bewohnerinnen stellten die Ressource Raum und recherchierten und sammelten in der Nachbarschaft das, was da war. Sie gaben einen neuen Kontext und dolmetschten, indem sie die Bedeutung der Textilarbeit von der Handarbeit bis in die industriellen Fabriken herausstellten. Sie boten den Frauen eine Bühne, auf der sie ihre Fähigkeiten präsentieren konnten, die sie die ganze Zeit besaßen.
3.3.7 Typhus und ein Gerichtsprozess
1902 gab es eine Typhus-Epidemie im 19. Bezirk, in dem 1/36 der Bevölkerung von Chicago wohnte, jedoch 1/6 der Todesfälle der Stadt registriert wurden. Dies führte zu einer gegenüberstellenden Untersuchung der Abwasseranlagen (wenn es welche gab) und Orten der Fieberausbrüche. Zudem vertrat eine Bewohnerin, Dr. Alice Hamilton, die These, dass eine Infektion über Fliegen übertragen worden sein könnte (vgl. Addams 2017, 95). Im Rahmen eines Artikels verwendete sie zur Darstellung ihrer Ergebnisse die gleichen Kartierungen, die auch bereits in „Hull House Maps and Papers“ Verwendung fanden (vgl. Hamilton 1903, 578).
Wie Jane Addams beschreibt, hatte diese Untersuchung jedoch auch ganz praktische Ergebnisse. Viele Sanitäranlagen waren in einem so erbärmlichen Zustand, dass dies die Infektionsverbreitung erklärte, es wurde aber auch deutlich, dass diese Zustände nur herrschen konnten, weil die zuständigen Inspektoren entweder kriminell fahrlässig gehandelt hatten oder aber sich von Vermietern hatten „überzeugen“ lassen, nichts zu tun. In der Folge kam es zu einem langen Gerichtsprozess, bei dem die Hälfte der Mitarbeiter:innen des Gesundheitsamtes angeklagt und schließlich elf von vierungszwanzig verurteilt wurden. Die Untersuchung vor Gericht machte zudem viele finanzielle Verstrickungen der Verwaltung sichtbar und dies sorgte für Unruhe. Als Konsequenz verlor das Hull House einige regelmäßige finanzielle Zuwendungen und bekam zudem Ärger mit der Klempnergewerkschaft, da das ganze Verfahren nur möglich war, weil ein mutiger Klempner ausgesagt hatte (vgl. Addams 2017, 95).
Dieses Beispiel zeigt eindrucksvoll, welche grundlegenden Probleme durch die Bewohnerinnen nicht nur untersucht wurden, sondern in der Folge auch zuständige Stellen zur rechtlichen Verantwortung gezogen wurden. Dies geschah ohne Rücksicht auf die eigene Arbeit, das Ansehen oder mögliche finanzielle Risiken. Jane Addams und ihre Mitstreiterinnen glaubten an die Macht von Gesetzen und dass alle vor dem Gesetz gleich sind. Gleichzeitig waren sich nicht so naiv, zu glauben, dass bestehende Gesetze immer eingehalten wurden. Gerade in diesen Fällen waren kritische Untersuchungen oder Analysen, wie wir heute vielleicht sagen würden oftmals eine Grundlage für weitere Aktionen.
4. Identifikation handlungspraktischer Hinweise für die heutige Soziale Arbeit
Im Folgenden nehme ich die Beispiele des Hull House als Grundlage, um darauf aufbauend Forderungen für eine machtkritische Praxis zu entwickeln.
4.1 Repräsentation
Jane Addams hat vor über 130 Jahren herrschaftskritischer gedacht als Sozialarbeiter:innen es z. T. heute tun. Ihre Entscheidung, zum Thema Settlement nur in Begleitung von Nachbar:innen zu sprechen und damit transparent zu machen, das und was sie zu berichten hat, ist für die damalige Zeit bemerkenswert. Doch auch in der aktuellen Debatte wird kritisch darauf hingewiesen, dass Adressat:innen oft nicht wissen, dass Sozialarbeiter:innen vermeintlich ihre Interessen vertreten. Eine Legitimation scheint bereits gegeben, wenn man Kontakt zu Adressat:innen hat, wie man sie jedoch repräsentiert, wird mit ihnen nicht besprochen (vgl. Cress 2019, 48). Sicherlich gibt es einige „übliche Verdächtige“ die im Rahmen von Beteiligungsverfahren dabei sind, aber ohne eine aktive Gemeinwesenarbeit (GWA) sind schon die Voraussetzungen für eine wirkliche Einmischung „von unten“ kaum gegeben. Und selbst wo es GWA gibt, heißt dies nicht automatisch, dass Interessenvertretung entsprechend reflektiert wird. Ein mögliches positives Vorbild wäre hierbei in Niedersachsen das Praxisnetzwerk für Soziale Stadtentwicklung[1], welches standardmäßig bei ihren landesweiten Veranstaltungen und Tagungen Menschen aus ganz unterschiedlichen Nachbarschaften sicht- und hörbar werden lässt und bei politisch relevanten Themen nicht nur Lobbyarbeit für, sondern mit den Quartieren machen. Es müsste selbstverständlich werden, dass z. B. Ratssitzungen und Ausschüsse in unterschiedlichen Stadtteilen vor Ort stattfinden, dass Nachbar:innen dieser Quartiere in diesen Sitzungen spontanes Rederecht erhalten, um sich in Themen einbringen zu können, die sie direkt betreffen. Um eine solche Artikulationsmacht zu entwickeln müssen Formate entwickelt werden, die Beteiligung auch für Ungeübte möglich machen und in letzter Konsequenz stellt sich die Frage, ob zumindest das Kommunalwahlrecht nicht endlich für alle Menschen geöffnet werden sollte, die in der Kommune leben – unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft.
4.2 Kooperation und Vernetzung
In Zeiten knapper Kassen und zunehmenden europaweiten Ausschreibungen wird die Kooperationsbereitschaft in der Träger:innenlandschaft in meiner Wahrnehmung eher geringer und die Konkurrenz größer. Dabei werden die Belange der Adressat:innen aus den Augen verloren bzw. der Mehrwert, den es geben kann, wenn Akteur:innen vieler Städte und Kommunen sich zusammenschließen, um auf problematische Entwicklungen aufmerksam zu machen und mittels Aktionen Druck aufzubauen, um substanzielle Veränderungen anzugehen. Der Armutsbericht des Paritätischen[2] z. B. macht den Versuch, das Thema Armut und unzureichende Sozialhilfesätze regelmäßig in die Medien und in das Bewusstsein der Bürger:innen zu bringen. Dies ist ein Anfang, aber wo sind andere Wohlfahrtsverbände? Was würde passieren, wenn diese Not im Rahmen einer konzertierten Aktion von Betroffenen und Träger:innen so in den Mittelpunkt gestellt würde, dass es nur schwerlich ignoriert werden kann? Schaut man in einzelne Handlungsfelder ist eine Vernetzung und Kooperationsbereitschaft sehr unterschiedlich ausgeprägt, bzw. die Förderung derselben ist völlig uneinheitlich. So haben von sechszehn Bundesländern nur Hessen und Niedersachsen eine Landesarbeitsgemeinschaft für Gemeinwesenarbeit. Diese LAGs führten durch ihre Bündnisse dazu, dass diese beiden Bundesländer inzwischen ein Förderprogramm für den Aufbau von GWA-Standorten sowie Projektförderung haben. Bei den anderen Bundesländern gibt es also noch viel Spielraum. Blickt man in die Schweiz, die ein kantonsübergreifenden Netzwerk[3] etabliert haben, ergeben sich noch mehr Möglichkeiten u. a. politischen Druck aufzubauen, ohne sich z. B. in Trägerinteressen zu verfangen.
Schaut man sich die prekäre Situation von Arbeitsmigrant:innen aus den EU-Ländern an, sind Textpassagen von Jane Addams u. a. in Bezug auf dubiose Arbeitsvermittlungen und vermeintlich gutmeinende Landsleute tagesaktuell. Auch hier muss Soziale Arbeit politischer und lauter werden und die Missstände immer wieder thematisieren. Im Rahmen der Corona-Pandemie gab es einen kurzen Moment, in dem fast mit Überraschung auf die seit Jahren skandalöse Situation für EU-Leiharbeiter:innen in deutschen Schlachthöfen geblickt wurde. Das daraufhin veränderte Gesetz zur Leiharbeit reicht für substanzielle Verbesserungen im Leben der Betroffene jedoch nicht aus.
4.3 Experimente und Entrepreneurship
In Projekten der GWA gibt es oft zumindest Erfahrung mit der Gründung von Stadtteilvereinen, darüber hinaus wird es schwierig, Beispiele zu finden, in denen eine Genossenschaft, eine gemeinnützige GmbH o. ä. gegründet wurde (Ausnahmen bei Elsen 2007). Dabei wäre dies im Sinne des Empowerments sicherlich in einigen Fällen eine sehr gute Lösung. Hier ließe sich vom Jane Club lernen, der quasi „seed money“ gegeben hat und im Hintergrund zur Seite stand, wenn es mit den Mieteinnahmen hakte, oder größere Kosten unvermittelt anstanden. Aus meiner Praxis kenne ich allein drei Beispiele, in denen es in Stadtteilen absehbar keinen Nahversorger mehr für Lebensmittel gab. In keinem der Fälle wurde darüber nachgedacht, selbst einen Laden zu eröffnen oder Nachbar:innen bei einer Genossenschaftsgründung zu begleiten. Die Gründe dafür können vielfältig sein, ein erstes Gegenargument bei vielen experimentellen Projekten ist immer „Wer haftet, wenn es nicht klappt?“. Dazu ist das Wissen um eine Vereinsgründung in den seltensten Fällen Bestandteil des Sozialarbeitsstudiums und weiterführende betriebswirtschaftliche Kenntnisse sind dann eher ein Glücksfall. Hier bräuchte es wie bei der Einübung von Praxisforschung im Feld schon in der Ausbildung Kooperationen zwischen z. B. GWA-Standorten und Studiengängen, die gründungsaffin sind. Aufgrund des zunehmenden Bewusstseins für Nachhaltigkeit und begrenzte Ressourcen sickern in die Sozialen Arbeit jedoch zunehmend Beispiele für die Bereitstellung von Ressourcen (Lastenräder[4], Rikschaprojekte[5] oder Umsonstläden). Sozialkaufhäuser sind bei Wohlfahrtverbänden eine häufige Einnahmequelle, diese wird jedoch eher zur Querfinanzierung und als Arbeitsgelegenheit genutzt und weniger, um Nachbar:innen unabhängiger werden zu lassen.
4.4 Publizieren
Wenn man eines von Jane Addams noch heute lernen kann, dann, dass über die eigene Arbeit viel mehr berichtet werden sollte, um Zusammenhänge sichtbar zu machen. Und dies nicht nur in Form eines Jahresberichtes, der als sachlicher Verwendungsnachweis obligatorisch ist oder einer Pressemitteilung, sondern eher forschend in der Tradition der „Hull House Maps and Papers“ (Schultz 2007). Die Erarbeitung geschieht im besten Fall gemeinsam mit den Nachbar:innen, um so Deutungshoheit über Entwicklungen zu erlangen und Wirklichkeit abzubilden. Ein Beispiel ist Forschungsbericht des jaz e. V. (vgl. Jane Addams Zentrum e. V. 2021), welcher über die eigene Arbeit berichtet, deren Bestandteil u. a. regelmäßig durchgeführte aktivierende Befragungen sind. Bereits 2017 veröffentlichte die Träger:in ein Buch über die Siedlung (Jane Addams Zentrum e. V. 2017), für das ebenfalls viele Nachbar:innen interviewt, aber auch städtische Fachleute einbezogen wurden. Für die Gemeinwesenarbeit, aber auch andere Felder der Sozialen Arbeit, wäre es zur Professionalisierung wichtig, dass noch viel mehr Praktiker:innen in wissenschaftlichen Zeitschriften und Sammelwerken ihre Praxis abbilden und sichtbar machen.
4.5 Unabhängiges Geld?
Wenn es um Geld geht, sehe ich Herausforderungen auf unterschiedlichen Ebenen. Wie Jane Addams plädiere ich dafür, zu schauen, von wem Geld kommt und ob es sinnvoll ist, dieses anzunehmen. Wer in einem Gebiet mit Hedgefonds und Mietheuschrecken arbeitet wird, möglicherweise in Situationen kommen, bei denen die Mieter:innen in untragbaren Wohnverhältnissen leben, die es gilt, anzuprangern und dagegen vorzugehen. Gleichzeitig kann es aber diese Wohnungsbaugesellschaft sein, die für eine Aktion im Quartier Geld spendet. Hier sollten klare Haltungen im Team und mit Träger:innen entwickeln und überlegt werden, welche Kommunikation ehrlich und transparent ist.
Ein anderes finanzielles Dilemma ist die oft nicht auskömmliche Finanzierung von Teilen der Sozialen Arbeit, u. a. von freiwilligen Leistungen wie der Gemeinwesenarbeit. Damit gibt es bereits die Schere im Kopf von Träger:innen und Mitarbeiter:innen, bloß nicht zu unbequem zu sein. Eine Skandalisierung von Missständen in Ämtern oder Teilen der Stadtverwaltung, wie von Jane Addams beschrieben, kann mit Mitteleinbußen einhergehen. Wohl dem, der dann eine große Spender:innenbasis oder alternative Finanztöpfe anzapfen kann. Es muss z. B. zum guten Ton von GWA-Projekten gehören, dass es von Beginn an Konfliktklauseln gibt, die deutlich machen, dass es unterschiedliche Interessen und Ziele gibt, dass Aushandlungsprozesse Bestandteil einer qualitativ hochwertigen Arbeit sind und dass diese Konflikte produktiv für die Gemeinschaft sind, wenn sie angegangen werden.
5. Fazit und Ausblick
Silvia Staub-Bernasconi fordert kämpferisch: „Kläre Deine Ressourcen inklusive Kompetenzen und Sanktionsmittel, die Du für den Aufbau von Macht benötigst! Organisiere Dich im Hinblick auf einen zu erreichenden Zweck unter Berücksichtigung gegen- oder einseitiger Abhängigkeiten für Prozesse der Bedürfnisbefriedigung und Interessendurchsetzung!“ (Staub-Bernasconi 2016, 406). Dieser Forderung würde sich Jane Addams vermutlich, Saul Alinsky in jedem Fall anschließen können. Um sie einzulösen braucht es jedoch ein umfassendes Wissen in Bezug auf Systeme, Zusammenhänge und Strategien, die im Hinblick auf eine machtkritische Arbeit auch die eigenen Machtanteile reflektiert. Die Vermittlung dieser Kenntnisse und Fähigkeiten ist in den Studiengängen der Sozialen Arbeit in jedem Fall noch ausbaufähig (vgl. Gil 2006, 21). Hierbei wäre es interessant zu untersuchen, wie das Thema Macht und herrschaftskritisches Denken und Handeln in Studiengängen, die arbeitgebergefördert sind, behandelt wird.
Ein interessantes Beispiel aus dem englischsprachigen Raum ist ein Arbeitsbuch, welches mittels Input und dazu passenden Übungen Handwerkszeug explizit zum Thema Macht und soziale Veränderungen vermittelt (Lane/Pritzker 2018). In einem Kapitel gilt es, eine Kampagne zu planen, aus Sicht von Jane Addams gegen Mary Richmond. Es wird dezidiert der Blick auf vier Dimensionen geworfen, nicht unähnlich einer SWOT Analyse[6]: Unser Blick auf uns, unser Blick auf die Anderen, deren Blick auf uns sowie deren Blick auf sich selbst. Daraus wird dann eine Übung abgeleitet (vgl. ebd., 278ff.). Ein solches Buch ist mir im Kontext der Sozialen Arbeit im deutschsprachigen Raum unbekannt, würde jedoch sowohl für Studium und Praxis einen Bedarf sehen.
Die Arbeit des Hull House ist aus meiner Sicht angesichts der oben reflektierten Aspekte auch heute noch relevant für die Praxis der GWA. Basierend auf den vielen hier nicht näher ausgeführten Beispielen, wie der Einmischung in Wahlen, dem Aufbau einer Jugendbewährungshilfe uvm. ergäben sich noch sicherlich weitere Erkenntnisse.
Ein Aspekt, der mich seit langem umtreibt, ist, ob es nicht doch sinnvoll wäre, dass Sozialarbeiter:innen, wenn schon nicht in dem Stadtteil, so doch zumindest in der gleichen Stadt wohnen sollten, in der sie arbeiten. Saul Alinsky kritisierte in den 1970er Jahren die Mitarbeiter:innen der Settlements heftig dafür, dass sie keine Ahnung von den Problemen der Leute in der Nachbarschaft hatten – zu diesem Zeitpunkt gab es nur noch in vier Settlements Bewohner:innen vor Ort, in den anderen arbeiteten professionelle Sozialarbeiter:innen die im Settlement ihren Job machten und nach Feierabend das Gebiet verließen (vgl. Trolander 1982, 349). Dies ist auch in der GWA heute eher die Regel als die Ausnahme und ich erinnere gut, dass ein Stadtteil am Abend oder am Wochenende oft ein anderer ist, als zwischen neun und siebzehn Uhr. Es macht einen Unterschied wenn Entscheidungsträger:innen in einer Stadt wohnen und ihre Arbeit und ihre Entscheidungen Auswirkungen auch auf ihren eigenen Alltag haben, ebenso werden Probleme und Herausforderungen ganz anders wahr- bzw. ernstgenommen.
Dass die Texte von Jane Addams noch heute relevant sind, zeigt auch die erstmalige deutsche Übersetzung ihres Textes „Demokratie und Ethik“ (vgl. Addams 2023). Es wäre wünschenswert wenn auch andere, noch heute relevante Texte, folgen, so z. B. „Twenty Years at Hull House“, welches komplett bis heute nicht ins Deutsche übersetzt wurde.
Literatur
Addams, Jane (1912): The Hull-House Labor Museum. In: The Child in the City; A Series of Papers. Chicago, 410–414.
Addams, Jane (1913): Zwanzig Jahre sozialer Frauenarbeit in Chicago, München: Beck.
Addams, Jane (2017): Twenty Years at Hull-House with autobiographical notes, ?CreateSpace Independent Publishing Platform.
Addams, Jane (2023): Demokratie und Soziale Ethik. Deutsche Erstausgabe mit Kommentar. Weinheim: Beltz Juventa.
Alinsky, Saul David (1971): Rules for Radicals. A Practical Primer for Realistic Radicals, New York: Random House.
Braches-Chyrek, Rita/Suenker, Heinz (Hrsg.) (2017): Soziale Arbeit in gesellschaftlichen Konflikten und Kämpfen, Wiesbaden: Springer VS.
Cress, Anne (2019): Advokatorisches Handeln Sozialer Arbeit – selbstverständlich ‚gut‘? Interessen- und repräsentationstheoretische Perspektiven im Vergleich. In: Toens, Katrin/Benz, Benjamin (Hrsg.): Schwache Interessen?Politische Beteiligung in der Sozialen Arbeit. Weinheim, Basel: Beltz Juventa, 36–54.
Deegan, Mary Jo (1988): Jane Addams and the Men of the Chicago School, 1892 - 1918, New Brunswick, NJ: Transaction Books.
Elsen, Susanne (2007): Die Ökonomie des Gemeinwesens: Sozialpolitik und Soziale Arbeit im Kontext von gesellschaftlicher Wertschöpfung und -verteilung. Weinheim: Beltz Juventa.
Elshtain, Jean (1997): A Return to Hull House: Reflections on Jane Addams. In: Feminist Issues, 15. Jg., H. 1-2, 105–113.
Gil, David G. (2006): Gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Konzepte und Strategien für Sozialarbeiter, Bielefeld: Kleine.
Hamilton, Alice (1903): The Fly as a Carrier of Typhoid. In: Journal of the American Medical Association, XL. Jg., H. 9, 576–583.
Jane Addams Zentrum e.V./Butterfield, Hester/Pereira, Bettina (Hg.) (2017): Neue alte Heimat. Porträt einer sozialen Siedlung, Norderstedt: Books on Demand.
Jane Addams Zentrum e.V. (2021): Forschungsbericht 2020/2021 Community Organizing -Jane Addams Zentrum e.V. URL: https://www.jane-addams-zentrum.de/alte-heimat/forschungsbericht-2020-2021-community-organizing/ (Zugriff am 18.08.2022).
Lane, Shannon R./Pritzker, Suzanne (2018): Political Social Work. Using Power to Create Social Change, Cham: Springer.
Linn, James Weber (1935): Jane Addams. A Biography, New York u.a.: Appleton-Century Co.
Phulwani, Vijay (2016): The Poor Man's Machiavelli: Saul Alinsky and the Morality of Power. In: The American Political Science Review, Vol. 110. Jg., H. No. 4, 863–875.
Sagebiel, Juliane/Pankofer, Sabine (2015): Soziale Arbeit und Machttheorien. Reflexionen und Handlungsansätze, Freiburg: Lambertus-Verlag.
Schultz, Rima Lunin (2007): Hull-House Maps and Papers. A Presentation of Nationalities and Wages in a Congested District of Chicago, Together with Comments and Essays on Problems Growing out of the Social Conditions, Urbana, Ill.: University of Illinois Press.
Staub-Bernasconi, Silvia (2007): Macht in der Sozialen Arbeit. Vortrag im Rahmen einer Ringvorlesung an der Universität Fribourg/CH, Departement Sozialarbeit und Sozialpolitik.
Staub-Bernasconi, Silvia (2016): Macht und (kritische) Soziale Arbeit. In: Kraus, Björn/Krieger, Wolfgang (Hrsg.): Macht in der Sozialen Arbeit. Interaktionsverhältnisse zwischen Kontrolle, Partizipation und Freisetzung. 4. Auflage, Lage: Jacobs-Verlag, 395–424.
Staub-Bernasconi, Silvia (2018): Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft. Auf dem Weg zu kritischer Professionalität. 2. Ausgabe, Opladen, Toronto: Verlag Barbara Budrich.
Stövesand, Sabine/Stoik, Christoph/Troxler, Ueli (2011) (Hrsg.): Handbuch Gemeinwesenarbeit. Traditionen und Positionen, Konzepte und Methoden, Opladen: Verlag Barbara Budrich.
Trolander, Judith (1982): Social Change: Settlement Houses and Saul Alinsky, 1939-1965. In: Social Service Review, Vol. 56. Jg., H. 3, 346–365.
Whitcombe, Eliza (1901): The Jane Club of Hull House. In: The American Journal of Nursing, 2. Jg., 86–88.
Fußnoten
[1] https://www.lag-nds.de/blog/bit-ministerin-behrens-trifft-expertinnen-des-zusammenlebens-im-quartier-bericht-vom-11-maerz, Zugriff am 12.05.2023
[2] https://www.der-paritaetische.de/themen/sozialpolitik-arbeit-und-europa/armut-und-grundsicherung/armutsbericht-2022/, Zugriff am 12.05.2023
[3] https://www.gwanetz.ch/ueber-uns/,Zugriff am 12.05.2023
[4] Lastenrad Muli im Saarland: https://www.66mags.de/projekte, Zugriff am 12.05.2023
[5] Rikscha für Senioren in Aachen: https://www.caritas-ac.de/unser-verband/neues-aus-der-verbandlichen-caritas/caritas-aachen-entwickelt-stadtteilnahes, Zugriff am 12.05.2023
[6] Die SWOT Analyse ist ein Instrument aus der strategischen Planung, SWOT steht für strengths, weaknesses, opportunities und targets
Zitiervorschlag
Lüttich, Wencke (2023): Jane Addams und die Machtquellen ihrer Zeit – Eine machttheoretische Rekonstruktion und Neulektüre zum Chicagoer Hull House. In: sozialraum.de (14) Ausgabe 1/2023. URL: https://www.sozialraum.de/jane-addams-und-die-machtquellen-ihrer-zeit.php, Datum des Zugriffs: 21.11.2024