Nachhaltige Entwicklung sozialräumlich denken
Eine Perspektive zur Erweiterung von Handlungsoptio-nen für kleine und mittelgroße Städte
Elias Brandenberg, Martial Jossi, Anke Kaschlik
1. Vom Dorf zur Stadt – Herausforderungen für die Entwicklung kleiner und mittelgroßer Städte und Gemeinden
Die Herausforderungen durch aktuelle Entwicklungs- und Wandlungsprozesse in Städten und Gemeinden sind vielfältig. In der Schweiz ist die Bevölkerung zwischen 1990 und 2022 um knapp 30% gewachsen, überwiegend durch Zuzug (Bundesamt für Statistik 2023). Dabei sind Agglomerationsgemeinden mindestens so stark gewachsen wie Großstädte. Neben dem teilweise erheblichen Wachstum der Bevölkerung in Städten und Gemeinden prägen gesellschaftliche Veränderungen allgemein sowie insbesondere die Urbanisierung und Pluralisierung von Lebensentwürfen die lokalen Entwicklungsbedingungen (Löw 2010). Das zusätzlich zu verzeichnende starke Wachstum der Zahl an Haushalten führt zu einem immer noch steigenden Wohnflächenverbrauch pro Person. Durch die Forderung der Innenentwicklung im Raumplanungsgesetz und energiesparende Bauweisen hat dies nicht nur große Neubauareale auf ehemaligen gewerblichen Flächen zur Folge, sondern auch starke anhaltende Veränderungen innerhalb bebauter Gebiete (durch Abriss und verdichteten Neubau). Insbesondere in kleinen und mittelgroßen Städten wird deutlich höher und dichter gebaut als der bisherige Bestand (Kraft et al. 2021, 51f.). Damit verändern und vereinheitlichen sich Städte und Gemeinden nicht nur an der Peripherie, sondern auch in Wohngebieten und im Zentrum. Zusätzlich verstärkt wird diese Entwicklung durch Filialisierung und Standortaufgaben von Geschäften. Die Individualität der gebauten Städte sowie lokale Besonderheiten gehen verloren, Möglichkeiten der Identifikation für die Bevölkerung fehlen (Lynch 2013). Ein spezifisches Profil, um als Wohn- oder Geschäftsort und insbesondere als Lebensmittelpunkt attraktiv zu sein und damit bspw. auch das Zusammengehörigkeitsgefühl vor Ort zu unterstützen, geht damit verloren.
In Kombination mit der hohen Mobilität als Pendelbewegungen im Alltag sowie Umzügen zwischen Städten und Gemeinden führen diese Entwicklungen zu einer Veränderung in der Art und Weise wie Gemeinschaften oder Communities entstehen bzw. welche Art von Communities für die Menschen vor Ort wirksam werden (vgl. Bezboruah 2020, 1–3; Bhattacharyya 2004, 7–12). Die Relevanz und Intensität territorial-räumlicher Communities nehmen für verschiedene Bevölkerungsgruppen ab. Lokale Gemeinschaften, die durch regelmäßige soziale Begegnungen in Vereinen, örtlichen Läden, Einkaufspassagen, Freiräumen oder Gastrobetrieben gebildet und gepflegt wurden, werden seltener. Stattdessen entstehen gemeinschaftliche Beziehungen häufiger entlang von anderen Zugehörigkeiten, beispielsweise anhand gemeinsamer politischer, betrieblicher, sexueller, geschlechts-, herkunfts- oder bildungsbedingter Identitäten oder anhand gemeinsamer Anliegen, Lebensweisen oder Weltanschauungen. Diese Formen posttraditionalen Vergemeinschaftung (Hitzler 1998) organisieren sich vermehrt überlokal und beeinträchtigen damit die Identifikation sowie das Zusammengehörigkeitsgefühl vor Ort.
Die angesprochene, jedoch keinesfalls abschließende, Vielfalt der Themen unterstreicht die Notwendigkeit lokal angepasster Lösungen. Daneben prägen jedoch einige grundlegende Aspekte die Problemwahrnehmung bzw. das Verständnis der eigenen Handlungsoptionen und -ressourcen vor Ort. Dem schnellen Wachstum der Bevölkerung und der sich daraus ergebenden umfangreicheren und neuen Aufgaben hinkt der Ausbau der lokalen Verwaltungen hinterher, personell und hinsichtlich der Qualifikationen und Ressourcen. Daneben agiert eine nicht professionelle Teilzeitpolitik: Lokalpolitiker:innen sind selten Fachleute für ihre Aufgaben und zudem überwiegend in Teilzeitpensen angestellt oder erhalten gar nur eine Aufwandsentschädigung für Sitzungen (Ladner 2008, 23); hinzu kommen Rekrutierungsprobleme für diese Positionen (Ladner/Haus 2021, 114). Aushandlungsprozesse mit professionellen Investor:innen zeichnen sich deshalb durch unausgeglichene Machverhältnisse aus. Die an Konkordanz orientierte demokratische Entscheidungsfindung erleichtert die Sachorientierung (Koch 2018, 52) erschwert aber eine Profilierung weiter. Anders, als beispielsweise in Deutschland, sind in den städtischen Regierungen alle Parteien vertreten und entscheiden gemeinsam. Zusätzlich ist die lokale Politik in kleinen und mittelgroßen Städten, anders als in Großstädten, vielfach liberal ausgerichtet.[1] Damit sind die allgemeinen Lebensbedingungen nicht Gegenstand von Politik oder städtischem Handeln. Soziale Probleme werden im Rahmen des Notwendigen zu lösen versucht. Im Übrigen wird auf politische Aktivitäten verzichtet, um die individuelle Lebensgestaltung und die wirtschaftliche Entwicklung nicht zu beeinflussen.
So fehlen in den kleinen und mittelgroßen Städten und Gemeinden vor allem gute Erfahrungen mit der Einbindung der Bevölkerung in Planungs- und Entwicklungsprozesse. Die (empfundene) Forderung nach mehr Partizipation wird überwiegend durch unterschiedliche Formen der Abfrage von Wünschen der Bevölkerung nachgekommen; die Entscheidungsfindung über mögliche Umsetzungen ist kaum geregelt und bleibt damit weitgehend intransparent. Insgesamt ist, oft aus Furcht vor Widerspruch, eine Entpolitisierung von Planungsverfahren und Entwicklungsprozessen zu erkennen, die zu Kompromisslösungen und damit oftmals zu wenig qualitätvollen Gestaltungen führen. Lokale Entwicklung geschieht unter diesen Bedingungen vielfach zufällig und das Bewusstsein die Gestaltungsmöglichkeit erscheint eingeschränkt. Die Potenziale der Menschen und des (gebauten) Raums werden nicht genutzt.
Ziel des Artikels ist es deshalb, nach Möglichkeiten für die Erweiterung lokaler Handlungsspielräume unter diesen unübersichtlichen Ausgangsbedingungen zu suchen und damit Anstöße für die aktive Gestaltung der Lebensqualität vor Ort zu geben und damit die Möglichkeiten der eigentlich größeren Autonomie der Städte und Gemeinden umfangreicher zu nutzen. Welche Ansatzpunkte können/sollten kleine und mittelgroße Städte und Gemeinden für eine sozial nachhaltige Stadt- und Gemeindeentwicklung nutzen? Wie können die lokalen Gegebenheiten im Rahmen der genannten gesellschaftlichen Veränderungen für die Lebensqualität der Bewohner:innen weiterhin gerecht werden?
Hauptsächliche Grundlage dafür stellen unsere Erfahrungen und Erkenntnissen aus dem von Innosuisse finanzierten Forschungs- und Entwicklungsprojekt „Neue Ideen für Zentren in der Agglomeration“ (NIZA) dar. Das Projekt wurde 2020 bis 2024 am Departement Soziale Arbeit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in enger Zusammenarbeit mit vier Städten der Agglomeration Zürich durchgeführt. Als Materialien wurden städtische Konzepte und Berichte, eigene Stakeholder-Analysen, Befragungen der Bevölkerung und von Gewebetreibenden in den Stadtzentren, ca. 40 Interviews mit Expert:innen der lokalen Entwicklung, die Protokolle der Zusammenarbeit mit den Stadtverwaltungen und unsere Forschungstagebücher dafür inhaltsanalytisch ausgewertet (Kuckartz 2016). Aber auch Erkenntnisse aus anderen Forschungs- und Entwicklungsprojekten fließen mit ein. So fokussiert der folgende Abschnitt auf ein erweitertes Verständnis des Sozialen oder Gemeinschaftlichen vor Ort. Anschließend steht die sozialräumliche Betrachtung nachhaltiger Entwicklung im Zentrum, um abschließend Ansatzpunkte für erweiterte lokale Handlungsspielräume zu benennen.
2. Nicht nur Individuen und Problemgruppen – Ein erweitertes und prozessuales Verständnis des „Sozialen“ in der Stadt oder Gemeinde
In den im NIZA-Projekt begleiteten Zürcher Agglomerationsgemeinden, sowie auch in darüber hinausgehenden Erfahrungen aus anderen Projekten (vgl. etwa auch Reutlinger 2023), wurde immer wieder deutlich, dass der Begriff „sozial“ in der Stadt- und Gemeindeentwicklung oftmals mit der Versorgung und Integration von Personen assoziiert wird, die sich in unterschiedlichen nicht ohne Unterstützung zu überwindenden sozialen Problemlagen befinden (bspw. in der sprachlichen oder beruflichen Integration, der Frühförderung oder der Vereinbarkeit von Beruf und Familie). Dies bildet sich auch in der organisationalen Ausgestaltung der Verwaltung ab. Im Ressort „Soziales“ oder „Gesellschaft“ wird die wirtschaftliche Sozialhilfe, die Asylpolitik, die außerfamiliäre Kinderbetreuung oder die Offene Kinder- und Jugendarbeit verortet.
Gerade in kleinen und mittelgroßen Städten und Gemeinden findet vielfach kaum eine darüber hinausgehende Auseinandersetzung mit dem Thema „Soziales“ statt. Die Bearbeitung und Prävention individueller und gruppenbezogener Problemlagen stehen, in Kombination mit Kontroll- und Sanktionsmaßnahmen, im Zentrum lokaler Sozialpolitik. Die Erfahrungen zeigen weiter, dass Begriffe wie „Soziokultur“ (oder auch „Gemeinschaftszentrum“) oft als Mittel linker großstädtischer Politik angesehen werden, für die in den lokalen Gegebenheiten keine Notwendigkeit bestehe. Die Zuständigkeit für Soziales und Alltagskultur wird als Teil der in der privaten Sphäre verortet und soziokulturelle Aspekte werden der Bevölkerung und zivilgesellschaftlichen Akteur:innen, wie Vereinen oder Stiftungen (in manchen Fällen mit städtischer Förderung) überlassen.
Zurückzuführen ist diese Haltung, neben vorherrschend liberalen Dogma der lokalen Politik, möglicherweise auf das eingangs beschriebene Fehlen positiver Erfahrungen mit partizipativen Prozessen zum Einbezug der Bevölkerung und zentraler örtlicher Akteur:innen. Wenn Partizipation allerdings so verstanden wird, dass sie über eine schlichte Mitsprache oder Teilnahmegewährung hinausgeht und stattdessen eine aktive Teilhabe an der Gesellschaft gewährleistet (vgl. Lüttringhaus 2000, 22f.; Schnurr 2018, 1126–1128), dann müssen auch soziokulturelle Aspekte als grundlegende Bausteine einer lokalen Demokratie und damit Bestandteil einer sozialen Stadt- und Gemeindeentwicklung verstanden werden (vgl. Schnur et al. 2019). Gelingende Partizipation von Bevölkerung und lokalen Akteur:innen auf unterschiedlichen Ebenen fördert nicht nur das Engagement, sondern auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt sowie die Identifikation mit der Stadt oder Gemeinde.
Um den eingangs formulierten Schwierigkeiten schnellen Wachstums, gesellschaftlicher Veränderungen mit gleichzeitig abnehmendem oder wenig verankertem zivilgesellschaftlichem Engagement nachhaltig gerecht zu werden, braucht es also ein erweitertes Verständnis sozialer Stadt- und Gemeindeentwicklung. Statt einer individualisierten und gruppenbezogenen Defizitorientierung wäre vielmehr eine auf die gesellschaftliche Teilhabe breiterer Bevölkerungsgruppen ausgerichtete Entwicklungsorientierung zielführend. Alle Personen und Gruppen, die sich an einem physischen Ort aufhalten, diesen erleben und aktiv oder passiv nutzen, prägen die Kultur des Zusammenlebens schließlich mit. Soziokultur ist also nicht einfach jeder Person selbst überlassen, sondern betrifft die lokale Gesellschaft und lokale Gemeinschaften. Es geht darum, Potenziale eines sozialen und gemeinschaftlichen Zusammenlebens aller Bewohner:innen einer Stadt oder Gemeinde zu nutzen und zu fördern.
Vereine und andere zivilgesellschaftliche Organisationen können die Aufgabe, lokalen Zusammenhalt und Teilhabe zu stärken, allerdings nicht mehr in derselben Weise übernehmen. Freiwilliges Engagement hat sich weg von langjährigen und lebenslangem Engagement in Vereinen hin zu projekt- oder themenspezifischen kurzfristigen Engagements passend zur jeweiligen Lebenslage verändert und braucht deshalb mehr Koordinationsaufwand (Lehmann 2016, 410; Simonson et al. 2017). Es geschieht deshalb, gerade im Zuge gesellschaftlichen Wandels sowie des Wachstums und der Urbanisierung veränderten Bevölkerungsstruktur, nicht (mehr) von selbst. Eine lokale Identifikation, und damit verbunden ein Gefühl der Zugehörigkeit zu lokalen Gemeinschaften oder Communities, ist eine wichtige Grundvoraussetzung dafür. Freiwilliges Engagement muss stetig aufgebaut und gefördert werden, um weiterhin seinen Beitrag zur Entwicklung von Lebensqualität vor Ort erfüllen zu können. Entsprechend können soziokulturelle Bedarfe auch nicht gänzlich von privaten und zivilgesellschaftliche Akteur:innen übernommen werden. Es wäre vielmehr Aufgabe der Stadt oder Gemeinde selbst, diese zu ermöglichen, zu fördern und nicht zuletzt im Sinne der eigenen Vision zu steuern. Das Soziale ist also nicht nur Problembehandlung, sondern auch Gemeinwohlorientierung und Gemeinschaftsaufbau (oder Community Building) und gehört im Sinne der Erhaltung und des Ausbaus der Lebensqualität und der umfassenden Nutzung der lokalen Potenziale zu den zentralen Aufgaben einer Stadt oder Gemeinde in einer individualisierten Gesellschaft (vgl. Beck 1986). Es gibt sonst schlicht niemanden, der diese übergreifende, ermöglichende und vor allem stetig andauernde Aufgabe langfristig und gemeinwohlorientiert wahrnehmen könnte.
Wenn eine Stadt oder Gemeinde also eine sozial nachhaltige Stadt- und Gemeindeentwicklung ernst meint, dann muss sie – partizipativ und in enger Zusammenarbeit mit der Vielzahl an lokalen Akteur:innen – Möglichkeiten schaffen, um den Bedarf an sozialen Begegnungen und an Gemeinschaftsbildung gerecht zu werden. Doch wie kann eine kleine oder mittelgroße Stadt oder Gemeinde diesen Anforderungen gerecht werden? Neben finanziellen und personellen Ressourcen sowie einem gestärkten Verantwortungsgefühl von Seiten der Gemeindevertreter:innen für das „Soziale“ in der Stadt oder Gemeinde, ist dafür v.a. eine ganzheitliche im Sinne einer sozialräumlichen Betrachtung der lokalen Gegebenheiten notwendig.
3. Sozial nachhaltige als sozialräumlich nachhaltige Stadt- und Gemeindeentwicklung
Sozial nachhaltige Stadt- und Gemeindeentwicklung muss also sozialräumlich gedacht und praktiziert werden, um der Dualität und Wechselwirkung von Räumen aus Handeln und Struktur (Löw 2001; 2010) Rechnung zu tragen. Die hier eingenommene Perspektive verweist auf ein Denkmodell, welches den handelnden Menschen und dessen Erleben, die Gesellschaft und deren Geschichte als Repräsentation und den gebauten Raum im Sinne des Ortes zusammen denkt und somit zum gemeinsamen (gestaltbaren) Gegenstand macht. Diese Auffassung von Raum lässt sich als „trialektisches Gefüge“ skizzieren, welches dynamisch, relational und relativistisch zu verstehen und mit Bezug auf Handlungsvollzüge operationalisierbar ist (Rolshoven 2012, 164). Erlebter Raum wird im Alltagshandeln verwirklicht und konkretisiert sich in Rolshovens Terminologie als „bottom up“ Aneignung. Repräsentationsraum ist das „top down“ Moment, als „raumtheoretische(n) Fassung gesellschaftlicher Konventionen, Systeme und Strukturen“. Gebauter Raum ist physisch (architektonisch) gestaltete, vermessbare und örtlich manifestierte Sozialität, „verfestigte Spuren von Alltagshandeln» oder «materialisierte Ideologie“ (a.a.O., 165).
Räume in Städten und Gemeinden werden also sozial erzeugt und sind demnach ein Produkt sozialer Praxis (Kessl/Reutlinger 2010; Löw, 2001; 2010; Rolshoven 2012). Insofern sind Sozialräume „als ein heterogen-zellulärer Verbund, als Gewebe zu beschreiben, da in ihnen heterogene historische Entwicklungen, kulturelle Prägungen, politische Entscheidungen und damit bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse eingeschrieben sind. Dieses Gewebe wirkt wiederum auf die Handlungen zurück“ (Kessl/Reutlinger 2010, 253). Bezogen auf Stadt- und Gemeindeentwicklung verweist der Machtaspekt in dieser Konzeption von Raum im Wesentlichen darauf, dass die Raumkonstruktion als soziale Praxis die Meinungsbildung und Entscheidungsfindung mitbestimmt. Dies betrifft, wer beteiligt ist, wer die jeweiligen Prozesse steuert und nicht zuletzt welche Ansprüche, Bedarfe und Bedürfnisse in Entwicklungsprozessen berücksichtigt werden oder sich in der alltäglichen Praxis durchsetzen.
Der Konzeption der Produktion und Reproduktion von Raum folgend wird sichtbar, dass sozial nachhaltige Stadt- und Gemeindeentwicklung nur unter Berücksichtigung der Wechselwirkungen der oben beschriebenen Dimensionen gelingen kann. Die physische Gestalt von Orten ist demnach Ausdruck von kulturellen, politischen, sozialen bis hin zu gesellschaftlichen Aushandlungs- und Konstruktionsprozessen, an denen sowohl implizit als auch explizit unterschiedlichste Individuen und Gruppen beteiligt bzw. nicht beteiligt sind und somit ihre Ressourcen einbringen können oder nicht. Wenn Stadt- und Gemeindeentwicklung also aus einer sozialräumlichen Perspektive betrachtet und umgesetzt wird, ist sie per Definition partizipativ. Individuelles und kollektives Erleben und Handeln gerahmt durch gesellschaftliche Zuschreibungen, Normen und Werte bzw. Politiken in physisch gebauter Örtlichkeit verweist immer auf die (soziale) Konstruktionsleistungen und somit auf Raumkonstruktion als gemeinschaftlichen Prozess, als Gemeinschaftsaufgabe (Selle 2012) und nutzt gleichzeitig die gebaute Umwelt als Potenzial für die (individuelle und gemeinschaftliche) Lebensgestaltung. Partizipation verstanden als Teilhabe und Teilnahme verweist dabei auf zwei Momente: Zum einen geht es um den Einbezug und die angemessene Beteiligung von Akteur:innen an Planungs- und Entwicklungsprozessen – Partizipation als Instrument sozialer Praxis – zum anderen geht es um strukturelle Zugangsmöglichkeiten, den Abbau von Beschränkungen, die Herstellung von Gleichheit in der Praxis (Thiersch 2020) – Partizipation also als Ziel sozialer Praxis.
Eine so verstandene sozialräumliche Perspektive lässt folgende Schlussfolgerungen zu:
- Räume sind das Ergebnis sozialer Prozesse und werden gelebt, gebaut und haben bzw. sind Geschichte. Dies verweist darauf, dass sozialräumlich nachhaltige Stadt- und Gemeindeentwicklung als andauernder Prozess zu betrachten ist.
- Sozialräumlich nachhaltige Stadt- und Gemeindeentwicklung bedarf einer konkreten Vision und Strategie für das Soziale im Sinne von Gemeinwohlorientierung und Gemeinschaftsaufbau (siehe Kapitel 2), welche soziale, ökonomische, ökologische und politische Entwicklungen flankierend in den Blick nimmt und an den formulierten Zielvorstellungen ausrichtet.
- Da Räume stets sozial konstruiert sind, ist es zentral, dass alle Akteur:innen an der Konstitution bzw. Entwicklung von Räumen, Zentren, Städten etc. mit ihren jeweiligen Wissensformen bedarfs- und möglichkeitsgerecht beteiligt sind.
- Die gebaute Stadt ist Produkt und Ort des Raumvollzugs. Bauliche Gegebenheiten strukturieren Begegnung, Zusammenleben und Gemeinschaft und beinhalten dementsprechend großes Potenzial zur Manifestation von Lebensqualität für die lokale Gesellschaft und somit zur nachhaltigen Entwicklung des Sozialraums. Die Entwicklung neuer Konzepte und Ideen zur sozial nachhaltigen Entwicklung muss also auch die Akteur:innen des „Sozialen“ für die Qualitäten des Gebauten und dessen Gestaltungsmöglichkeiten sensibilisieren.
4. Drei Thesen für eine sozialräumlich nachhaltige Stadt- und Gemeindeentwicklung
Wie in Kapitel 1 beschrieben, sehen sich Städte- und Gemeinden mit mannigfaltigen Herausforderungen konfrontiert, die sie mit Bezug auf ihre jeweiligen baulich-räumlichen, örtlichen, politischen und sozialen Gegebenheiten zukunftsorientiert und, vor dem Hintergrund endlicher Ressourcen und den Herausforderungen der sozialökologischen Transformation (Schmeing 2023), auch nachhaltig bearbeiten müssen. Dies stellt kleinere Städte und Agglomerationsgemeinden vor besondere Herausforderungen hinsichtlich einer sozial nachhaltigen Entwicklung. Wir schlagen deshalb vor, Stadt- und Gemeindeentwicklung sozialräumlich zu denken. Dies bedeutet zum einen, das Soziale als Teil der räumlichen Entwicklung zu betrachten und diese somit als zentrale, langfristige und anhaltende Aufgabe der Stadt zu verstehen. Sozialräumlich zu denken und zu handeln bedeutet für kleine und mittelgroße Städte die konsequente Ausrichtung an drei Aspekten: 1. Vision und Strategie, 2. Akteur:innen und 3. Der baulichen Gestaltung und der Freiraumentwicklung. Dadurch ergeben sich erweiterte Handlungsoptionen für eine sozial nachhaltige Stadt- und Gemeindeentwicklung.
Was würde die geforderte Ausrichtung konkret bedeuten? Im Rahmen des NIZA-Projekts wurden als zentrale Ergebnisse und als Beitrag zu einer sozialräumlich nachhaltigen Stadt- und Gemeindeentwicklung folgende Thesen herausgearbeitet mit den beteiligten Städten kollaborativ geschärft.
4.1 Für eine nachhaltige Entwicklung ist eine langfristige Vision mit Zielen und einer Strategie zur Umsetzung notwendig
Wie soll eine Stadt oder Gemeinde in zehn oder in 20 Jahren aussehen? Wie soll das Zusammenleben gestaltet werden? Was macht die Stadt oder Gemeinde besonders? Welche Potenziale gibt es, an die eine künftige Entwicklung anknüpfen kann? Insbesondere für kleine und mittelgroße Städte und Gemeinden ist es wichtig, sich auf die eigenen Potenziale zu besinnen, diese in ihrer ganzen Vielfalt zu erkennen und zu nutzen. Als Potenziale stehen neben der gebauten Stadt und ihren Freiräumen vor allem die in der Stadt lebenden Menschen, ihre Aktivitäten und ihr Wissen zur Verfügung. In diesem Sinne ist eine Vision als andauernder Prozess zu verstehen, der ständig veränderte soziale, gesellschaftliche, bauliche und strukturelle Bedingungen integriert und darüber einen stetigen Austausch über Entwicklungsziele und die Lebensqualität vor Ort ermöglicht und über Umsetzungen erlebbar macht. Der andauernde Diskurs um die lokale Entwicklung, der über konkrete Projekten oder zu treffende Entscheidungen hinausgehend, ermöglicht lokalen Akteur:innen die Einsicht in eigene Handlungsmöglichkeiten und legt damit den Grundstein für Engagement auch über die direkte Betroffenheit hinaus.
4.2 Die Potenziale lokaler Akteur:innen sowie unterschiedlichster Ziel- und Anspruchsgruppen müssen aktiv und kooperativ genutzt werden
Mit der Identifikation und Vernetzung von professionellen, privaten und zivilgesellschaftlich organisierten Akteur:innen können in der Stadt- und Gemeindeentwicklung Synergien genutzt und Veränderungen bevölkerungsnah, bedarfsgerecht und nachhaltig ausgestaltet und verankert werden. Zentral dabei ist, neue Entwicklungen als gemeinsames Projekt zu verstehen. So lassen sich Wissen und Können optimal nutzen und Aufgaben auf mehrere Schultern verteilen. Dabei kommt Grund- und Immobilieneigentümer:innen eine zentrale Rolle zu, denn sie entscheiden im Rahmen der rechtlichen Festsetzungen über bauliche Strukturen der Innen- und Außenräume sowie deren Nutzungen.
Die Partizipation der Bevölkerung fördert das Engagement, die Integration, die Zusammengehörigkeit sowie die Identifikation mit der Stadt oder Gemeinde zusätzlich kann vorhandenes Potential und Know-How durch partizipative Prozesse nutzbar gemacht werden. Aber auch die Akzeptanz von z.B. Bau- und Entwicklungsvorhaben kann durch partizipativen Einbezug der Bevölkerung erhöht bzw. Einsprachen minimiert werden. Partizipation benötigt jedoch mehr noch als die sachgemäße Anwendung partizipativer Methoden. Zentral ist eine partizipative Haltung von Seiten Entscheidungsträger:innen, die den Wert der Partizipation an sich (an) erkennt, der vor allem in der Vielfalt der Meinungen, Interessen und Möglichkeiten der Beteiligten liegt. Partizipative Prozesse können schließlich nur dann gewinnbringend umgesetzt werden, wenn Städte und Gemeinden bereit sind, finanzielle und personelle Ressourcen dafür aufzuwenden.
4.3 Ein vielfältiges Angebot an Nutzungen und Funktionen von Orten ermöglicht mehr Identifikation und eine stärkere Förderung der Lebensqualität
Physische Orte nehmen soziokulturell eine wichtige Funktion ein; sie dienen der Bevölkerung für Austausch, Begegnung und Vernetzung und bieten somit auch „Raum“ für unterschiedlichste Möglichkeiten der Teilhabe, Teilnahme und Aneignung. Dies trägt zu einer Kultur des Zusammenlebens bei. Dafür braucht es physische Orte, an denen gemeinsames Erleben und Handeln (Konsum, Ko-Produktion, Kooperation etc.) möglich ist. Öffentlich zugängliche Freiflächen und die Erdgeschosszonen der angrenzenden Gebäude spielen dafür eine zentrale Rolle und sollten deshalb vor allem in zentralen Lagen in ihrer Gestaltung gemeinsam betrachtet werden. Um unterschiedlichste Nutzungen, Begegnung und Austausch zu fördern, müssen die baulichen und Freiraumstrukturen eine stetige Anpassung an neue Anforderungen ermöglichen und eine hohe Aufenthaltsqualität, aber auch Aneignungsmöglichkeiten aufweisen. Aushandlungen über bauliche Qualitäten und Aneignungen, ausgetragen in einer lokalen Kultur des Austauschs, tragen damit weiter zur Identifikation und zum Engagement für die Umsetzung der Vision unter Beachtung unterschiedlicher Nutzungsansprüche bei.
5. Fazit
Die Etablierung einer sozial nachhaltigen Stadtentwicklung wird unserer Ansicht nach erst durch sozialräumlich-prozessuale Handlungsweisen umfassend einlösbar. Das bedeutet, zur Ausweitung von lokalen Handlungsspielräumen und zur Förderung eines sozial nachhaltigen Zusammenlebens müssen Vision und Strategie, physische Gestaltung und subjektives Erleben als zentrale Dimensionen von Sozialräumen als Basis von Angebotsentwicklung und Partizipation ziel- und zielgruppenspezifisch aufeinander ausgerichtet werden. Handlungsleitend sind dabei die oben formulierten Thesen, die „das Soziale“ als Ziel und als Handlungsraum zur Erhaltung und zum Ausbau von Gemeinschaft und Gemeinwohl und dementsprechend von Lebensqualität in den Blick nehmen und Hinweise zur Umsetzung geben. Kollaborativ erarbeitet wird mit einer Vision nicht nur ein Diskurs über Entwicklungsziele und -wege ermöglicht, sie bildet auch die Grundlage, um Kräfte zu bündeln, Mitstreiter:innen zu finden oder neue Ideen zu entwickeln, welche die physische Gestaltung und das subjektive Erleben in ihren Wechselwirkungen als Potenziale für die lokale Entwicklung nutzen.
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Fußnote
[1] 2017 waren 20.4% der Gemeindepräsident:innen in der Schweiz Mitglied der FDP (Ladner 2019). Die CVP lag bei 12.2%, die SVP bei 10.6% und die SP lediglich bei 3.8%. Der größte Anteil machten mit 42.0% Parteilose aus.
Zitiervorschlag
Brandenberg, Elias, Martial Jossi und Anke Kaschlik (2024): Nachhaltige Entwicklung sozialräumlich denken. In: sozialraum.de (15) Ausgabe 1/2024. URL: https://www.sozialraum.de/nachhaltige-entwicklung-sozialraeumlich-denken.php, Datum des Zugriffs: 21.11.2024