Dem „Sozialen“ des sozialen Wohnungsbaus auf der Spur
Konzeptionelle Vergewisserungen und sozialräumliche Ortsbegehungen des Wiener Gemeindebaus
Christian Reutlinger
Schauplatz Gemeindebau Wien
Sonntagnachmittag im November 2021. „Rufen Sie doch bei ‚Wiener Wohnen‘ an und beschweren sich bei denen über mich!“, brüllt eine Mittfünfzigerin aufgebracht. Gerichtet sind diese Worte an einen etwas älteren Herrn, der sich furchtbar darüber aufregt, dass die Bewohnerin irgendwelche ausrangierten Elektrogeräte neben die Abfallcontainer der Wohnanlage abgestellt hat. „Sie entsorgen hier Ihren Mist illegal und letztlich auf Kosten von uns allen“, konfrontierte er sie zuvor. Über mehrere Minuten hinweg erstreckt sich der gehässige und laute Disput mitten im Zentrum des Innenhofs eines Gemeindebaus in Ottakring, dem 16. Bezirk im Westen der Stadt Wien. Dessen Intensität und Lautstärke führt dazu, dass die ebenfalls dort verweilenden drei Jungs im Alter von ungefähr 12 Jahren ihr Fußballspiel unterbrechen. Gebannt schielen sie durch die Gitter des „Käfigs“, welcher unmittelbar neben dem zentralen Sammelplatz für Abfall angesiedelt ist, zu den beiden Erwachsenen hinüber. Die wenigen anderen im Hof anwesenden Personen tun so, als ob diese Auseinandersetzung sie nichts anginge. Schnurstracks begeben sie sich vom seitlich gelegenen Hofeingang zu einer der vielen Stiegen, die ihre Wohnungen erschließen. Oder sie mimen die Beschäftigung mit ihrem angeleinten Hund, der irgendwas beschnuppert, bevor sie dann weiter schlendern.
1. Sozialer Wohnungsbau, sozialräumliche Ortsbegehungen und Soziale Arbeit – einleitende Betrachtungen
Was ist am sozialen Wohnungsbau „das Soziale“? Und wie zeigt sich dieses am Beispiel des sozialen Wiener Gemeindebaus? – Diese Fragen begleiteten mich während meiner Besuche von zweihundert Wiener Gemeindebauten im Rahmen eines explorativen Forschungsprojekts im November und Dezember 2021 (siehe ausführlich Kapitel 4)[1]. Bevor auf der Basis der empirischen Daten nach möglichen Antworten gesucht und auf die Eingangsszene eingegangen wird, werden in der Folge einige Ausführungen zu gängigen Definitionen des sozialen Wohnungsbaus dargestellt, und reflektiert, was es mit der Tautologie dieses Begriffs auf sich hat (siehe Kapitel 2). Sichtbar wird dabei eine breite Palette unterschiedlicher Möglichkeiten, wie „das Soziale“ konzipiert werden kann. Soziale Arbeit ist angehalten, dies (selbst-)kritisch und auf der Basis eigener Positionierungen zu(r) Wohnungsfrage(n) zu tun. Eine historische Vergewisserung der Anfänge Sozialer Arbeit im urbanen Siedlungskontext Ende das 18. Jahrhunderts ist hierbei von Nöten (siehe Kapitel 3). Darauf aufbauend wird der sozialräumliche Zugang erläutert, dem das Projekt folgte: Einmal das sozialräumliche Wohnverständnis, das an raumrelationale Diskussionen (Kessl/Reutlinger 2022) anschließt (siehe Kapitel 4), und einmal der explorative Forschungszugang der sozialräumlichen Ortsbegehung (siehe Kapitel 5). Dieser war ursprünglich nicht geplant gewesen, sondern hat sich aufgrund der pandemischen Lage im Forschungsprozess – vom 22. November bis zum 12. Dezember galten in Wien die allgemeinen Ausgangsbeschränkungen (Lockdown); direkte Begegnungen bspw. mit Interviewpartner:innen aus den Gemeindebauten waren nicht möglich – nach und nach konkretisiert. In den Forschungsergebnissen zeigt sich, dass sich heute sehr wohl ein Bild „des Sozialen“ im Gemeindebau ausmachen lässt, gerade wenn man die Perspektive von Kindern und Jugendlichen einnimmt. Schließlich begegnet man innerhalb dieser zweihundert besuchten Gemeindebauten am häufigsten Regulierungen und Hinweisen, welche für diese Altersgruppen bestimmt sind (siehe Kapitel 6). Die Vorstellungen und die Materialisierungen vergangener Zeiten strukturieren also das, was an Sozialem heute lebbar und möglich scheint, maßgeblich mit. Soziale Arbeit hat sich mit dieser Relationalität auseinanderzusetzen, wie die konzeptionellen Grundlagen von Sozialraumarbeit aufzeigen. Geht es um das Wohnen bestimmter Bevölkerungsgruppen, ist Soziale Arbeit aufgefordert, „das Soziale“ mitzugestalten. Dies bedeutet, sich reflexiv-kritisch mit der eigenen Rolle und Position im sozialen Wohnen auseinanderzusetzen (entsprechend werden in Kapitel 7 die Herausforderungen für Soziale Arbeit benannt).
2. Was meint „sozialer Wohnungsbau“? Begrifflich-konzeptionelle Annäherung
„Unter sozialem Wohnungsbau versteht man staatlich geförderten Wohnungsbau für soziale Gruppen, die ihren Wohnungsbedarf nicht auf dem freien Wohnungsmarkt decken können“ (Grabowski/Werner 2017, 12). Dieses definitorische Beispiel illustriert, was unter „dem Sozialen“ am sozialen Wohnungsbau, bzw. den Synonymen „Soziale Wohnraumförderung“ oder „Sozialwohnungen“, gemeinhin verstanden wird: Es wird gleichgesetzt mit dem Vorhandensein von sowie der Regulierung des Zugangs zu (gefördertem) Wohnraum in einer Gemeinde, Stadt oder Region. Dieses spezifische Verständnis von Wohnraum, auf das sich hier bezogen wird, folgt mietrechtlich-architektonischen Überlegungen. Ein Wohnraum besteht dementsprechend aus Gebäude(-einheiten), die sich zum Wohnen eigenen resp. als „Wohnung“ genutzt werden können. Ein Gebäude resp. zusammenhängende Gebäudeteile müssen hierzu von allen Seiten umschlossen sein, über Kocheinrichtungen und sanitäre Anlagen wie Bad und Dusche verfügen, die das Führen eines selbständigen Haushaltes ermöglichen, sowie durch einen eigenen Zugang von außen erreichbar sein[2]. Wohnraum, oder eben eine Wohnung, wird als „sozial“ bewertet, wenn
- er zu Mieten oder Preisen unterhalb des Marktniveaus angeboten wird;
- er Mietzuschüsse zur langfristigen Absicherung (Subventionen, öffentliche oder private finanzielle Unterstützung) braucht;
- er bestimmten Zielgruppen (Haushalten mit begrenzten finanziellen Mitteln, Schlüsselarbeitskräften und/oder Einheimischen, Bedürftigen etc.) zugewiesen wird;
- er in ein entsprechendes Verteilungs- oder Zuweisungssystem sowie in eine „Politik des sozialen Wohnungsbaus“ eingebunden ist (siehe bspw. Granath Hansson/Lundgren 2019, 162).
Für sozialen Wohnungsbau benötigt es gemäß diesen Überlegungen also nicht nur die Wohnbauten[3] (oder Wohnräume) an sich, sondern gleichermaßen ein Zuweisungs- und Verteilsystem, verbunden mit einer (kommunalen) Wohnpolitik, welche Wohnraum langfristig absichert und Zugangsschwellen abbaut. In der alltäglichen Verwendung und Bezeichnung werden je nach Zeitgeist und Akteur:innengruppen unterschiedliche Aspekte dieses politischen, wirtschaftlichen, sozialen, mitunter auch ideologisch-aufgeladenen Konglomerats betont. Entsprechend wird in der internationalen wohnpolitischen Diskussion unter „social housing“ resp. sozialem Wohnbau Unterschiedliches verstanden. Das Bezeichnete reicht von Eigenschaften eines (oder mehrerer) Gebäude(s) bis hin zu einer bestimmten Politik der Wohnungsförderung und -vergabe (vgl. bspw. Keil 1996; Schneider et al. 1989). Eine einheitliche Definition, die eine Klassifizierung von Wohnraum bzw. von Sozialwohnung(en) hinsichtlich ihres sozialen Bestandteils („des Sozialen“) zulassen würde, liegt folglich nicht vor (Granath Hansson/Lundgren 2019). Systematische Analysen unterschiedlicher Definitionen zu social housing (bspw. Scanlon et al. 2015) aus dem europäischen Kontext identifizieren jedoch einen gemeinsamen Kern, welcher folgendermaßen beschrieben werden kann:
„Sozialer Wohnungsbau: x ist nur dann ein sozialer Wohnungsbau, wenn x ein System ist, das einer Gruppe von Haushalten, die nur durch ihre begrenzten finanziellen Mittel spezifiziert sind, mit Hilfe eines Verteilungssystems und von Subventionen langfristigen Wohnraum bietet“ (Granath Hansson/Lundgren 2019, 162, eig. Übersetzung des Autors)[4].
Damit ließe sich eine erste – zugegebenermaßen simple – Antwort auf die Frage finden, was „das Soziale“ im sozialen Wohnungsbau darstellt: das langfristige Vorhandensein von und die Art und Weise des Zugangs zu sozialem Wohnraum, der für bestimmte soziale Gruppen sozialverträglich gestaltet sein muss.
Aus stadtsoziologischer Perspektive wird die Verkürzung auf Zugangsfragen zu Wohnraum kritisiert, zumal die dahinterliegenden strukturellen Ungleichheits- und Ausgrenzungsmechanismen weiterhin wirken: Erstens geht auf der Mikro-Ebene mit der Versorgung einzelner Haushalte mit Wohnraum „eine deutliche Normierung einher […], die auf dem Ideal der (bürgerlichen) Kleinfamilie basiert [...]“, zweitens kommt es auf der Meso-Ebene der Stadtentwicklung zu sozialer Segregation „– insbesondere in seiner Form [des sozialen Wohnungsbaus] als Großwohnanlage“, und auf der Makro-Ebene ist drittens die „mit ihm einhergehende zuweisende Versorgung durch den Staat als paternalistisch und damit entmündigend für die/den einzelne Bewohner_in [sic!]“ zu benennen (Metzger 2005, 44). Hinzu kommt, dass durch bestimmte Vergabekriterien, wie Staatsbürger:innenschaft oder bisherige Wohndauer in einer Stadt oder Gemeinde, manchen Personen der Zugang zu gefördertem kommunalen Wohnraum verwehrt bleibt. Das betrifft unter anderem neu in den Wohnungsmarkt eintretende und insbesondere migrantische Gruppen – sowohl innerhalb eines Landes als auch über die Landesgrenzen hinaus. Dies vermögen Untersuchungen zu den Wiener Wohnbauanlagen zu illustrieren. Während des sogenannten Munizipalsozialismus – bekannt unter dem „Roten Wien“ – wurde in den 1920er Jahren eine großangelegte Umverteilungspolitik mit dem Ziel initiiert, die Lebensbedingungen der Arbeiter:innen zu verbessern (Kadi 2018, 3). Das Herzstück lag in der Schaffung von leistbarem (durch Steuerpolitik finanziertem) Wohnraum. Der weitgehende Zusammenbruch des privaten Wohnungsmarktes führte dazu, dass die Stadt Wien Grundstücke erwerben und mit öffentlichen Mitteln Wohnraum errichten konnte (Kadi 2018, 4). Die Zeit des „Roten Wien“ dauerte von 1919 bis 1934. Da es sich bei den Wiener Gemeindebauten in ihren Ursprüngen im „Roten Wien“ um ein Arbeiter:innenprojekt handelte, bei dem es darum ging, die Arbeiter:innen-Klasse mit günstigem, qualitativ hochstehendem Wohnraum zu versorgen, wurden die ärmsten Bevölkerungsgruppen von diesem ausgeschlossen (Lévy-Vroelant/Reinprecht 2014). Dies ist heute nicht anders (Franz/Gruber 2018).
Seit einigen Jahren werden die Zugangsfragen zum sozialen Wohnungsbau unter dem Stichwort des ‚leistbaren Wohnens‘ diskutiert, indem kommunale Wohnungspolitik „die Einhaltung von fairen und günstigen Gesamtmieten“ gewährleistet soll (Gatzlaff/Teerling 2017, 38). Die Leistbarkeit von Wohnraum wird im Regelfall über die zu bezahlenden Mietkosten und in Abhängigkeit vom Haushaltseinkommen berechnet (Holm 2016, 20).
In verschiedenen Städten und Gemeinden im deutschsprachigen Raum wird in den vergangenen Jahren erneut diskutiert, wie leistbarer Wohnraum langfristig sichergestellt werden kann (Ruhsmann/Wippel 2019). Für die Stadt Wien, in der die explorative Studie durchgeführt wurde (siehe unten), lässt sich ein Bündel von Maßnahmen beschreiben, wie dies bewerkstelligt werden könnte: „Es braucht eine aktive Bodenpolitik, die (rechtzeitig) günstiges Bauland beziehungsweise durch Widmungsgewinnabgeltungen soziale Verträglichkeit sicherstellt. Es braucht ebenso mehr Mut für günstiges Bauen, das geringere baurechtliche Reglementierung, Gemeinschaftsräume als Ausgleich zu kleineren Wohnungen sowie Geschosswohnungsbau beinhaltet. Und es verlangt ein Verständnis für Eigeninitiative innerhalb der Zivilgesellschaft. Dabei geht es nicht nur um bloße Forderungen für leistbares Wohnen, sondern auch um Bereitschaft zur Selbstorganisation und Mitgestaltung“ (Franz/Gruber 2018, 103).
Die Ermöglichung und Förderung lebbarer Gemeinschaften, welche Selbstorganisation, Teilhabe und Mitgestaltung zulassen, führt dazu, dass sich das enge Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit erweitern lässt – Gerade die letzten Punkte verdeutlichen, dass es bei der Frage nach sozialem Wohnungsbau um eine vertiefte Auseinandersetzung damit geht, was „das Soziale“ darstellt und wie dieses von unterschiedlichen Akteur:innen gelebt, organisiert und gestaltet werden kann. Angesprochen sind dabei auch professionelle Akteur:innen, die ihrem Selbstverständnis nach die Arbeit „am Sozialen“ zu ihrem Kernauftrag ernennen, wie etwa die Soziale Arbeit. Ausgehend von dieser begrifflichen Übereinstimmung könnte an dieser Stelle die Hypothese aufgestellt werden, dass „das Soziale“ des sozialen Wohnbaus einen impliziten Zusammenhang darstellt und dass über „das Soziale“ Soziale Arbeit einen besonderen Zugang zum sozialen Wohnbau erhält. Doch wie wird in der Sozialen Arbeit „das Soziale“ verhandelt?
„Das Soziale“ des sozialen Wohnens – ein spezifischer (impliziter) für die Soziale Arbeit relevanter Zusammenhang?
Wohnen ist per se sozial! Soziologische Konzeptionen betrachten „das Soziale“ als zentralen „Grundbegriff“, „mit dem jede geordnete Form von Aufeinanderbezogenheit, Interdependenzen, Wechselwirkungen, Kommunikationen und Bildungen zwischen Handlungen oder Systemen bezeichnet wird.“ (Groenemeyer 2012, 21). Entsprechend ist auch Wohnen als eine solch geordnete Form eines sozialen Verhältnisses zu betrachten.
An dieser Konzeption anschließend müsste genau genommen erklärt werden, weshalb die Tautologie beim sozialen (per se schon sozialen) Wohnen notwendig ist und was sie für einen Mehrwert bringt. Nach den oben aufgezeigten Überlegungen könnte es um Wohnen für bestimmte Gruppen oder eine bestimmte Zielgruppe Sozialer Arbeit gehen. Deutlich wird dies anhand des Wiener Beispiels, bei dem es ihm Rahmen der Bautätigkeit von Wohnanlagen nach den idealen des „Roten Wiens“ darum ging, den Arbeiter:innen nicht nur einen Zugang zu schaffen, sondern damit ihre Lebensverhältnisse zu verbessern und sich als eigene Klasse von besitzenden Klassen zu emanzipieren (Kadi/Suitner 2019). Ein anderer Argumentationsstrang ließe sich auf den Fokus bestimmter Gemeinschaftsdimensionen zurückführen, wie dem Zusammenleben unterschiedlicher Haushalte, der Ermöglichung und Aktivierung nachbarschaftlicher Prozesse oder gemeinschaftlicher Wohnformen (Beck 2021), und der Frage, wie diese in baulicher, struktureller oder sozialer Hinsicht zu unterstützen oder fördern sind, bspw. durch professionelle Akteur:innen. Auch dieser Strang kann aus dem sozialdemokratischen Reformprogramm der frühen 1920er Jahre, dem sogenannten „Wiener Modell“ abgeleitet werden. Dessen Kernstück, „400 kommunal[e] Wohnblocks“ (Blau 2014, 19), bestand im Aufbau von Gemeinschaftseinrichtungen, „in denen Arbeiterunterkünfte, Büchereien, allgemeinmedizinisch[e] und zahnärztlich[e] Ambulatorien, Wäschereien, Werkstätten, Bühnen, Konsumgenossenschaftsläden, öffentlich[e] Gärten, Sportanlagen und ein[e] ganz[e] Reihe anderer öffentliche[r] Einrichtungen untergebracht waren“ (Blau 2014, 19). Viele dieser Einrichtungen sind heute längst nicht mehr in Betrieb oder werden für andere Zwecke genutzt. Und auch die Zusammensetzung der Bewohner:innen des sozialen Wohnbaus in Wien hat sich in sozialer Hinsicht radikal verändert: Längst sind es nicht mehr Personen, die sich als Arbeiter:innen bezeichnen würden, die dort leben, sondern sehr diverse Menschen mit vielfältigen Eigen- und Fremdzuschreibungen. Der Gemeinschaftsgedanke zwischen ihnen ist als eher schwach zu bezeichnen. Gleichzeitig gehören viele von ihnen zu Personen und Gruppen, die zu den Adressat:innen Sozialer Arbeit zählen und auch oft von Sozialleistungen abhängig sind.
Im Kontext von Sozialer Arbeit, als Arbeit „am Sozialen“, ist das Verständnis alltagssprachlich geprägt, d. h. „das Soziale“ ist gleichbedeutend mit mildtätig, selbstlos, gesellschaftlich, zwischenmenschlich oder auf den Staat bezogen. Doch findet man bei genauerer Recherche noch viel mehr Bedeutungen. „Das ‚Soziale‘ scheint alles zu sein: Von der Sozialpolitik über soziale Probleme bis hin [zu] Gemeinschaft und vieles andere mehr“ (Scheu/Autrata 2018, 1). Systematische Rekonstruktionen im Kontext von „Gestaltung des Sozialen“ haben zwei grundsätzliche Bedeutungskerne herauskristallisiert: Einerseits die Sozial- und Gesellschaftspolitik, andererseits Gestaltungs- und Bewältigungskompetenzen, die inner- oder außerhalb von Einrichtungen der Sozialen Arbeit zum Tragen kommen (ebd., 72). Mit dieser Grundlage scheinen soziologische Verständnisse anschlussfähiger, welche „das Soziale“ nicht bloß als soziologischen Grundbegriff auffassen, mit dem die soziale Wirklichkeit gefasst und aufgeschlossen wird. „Das Soziale“ hat sich vielmehr als ein Feld in der Gesellschaft etabliert, in dem unterschiedliche soziale Probleme verhandelt werden, unterschiedliche Berufe und Berufsgruppen diese Probleme bearbeiten und diese Bearbeitung in den verschiedenen Organisationen und Institutionen auf Dauer bereitstellen und erwartbar machen (Gilles Deleuze 1979). „Das Soziale“ liegt dabei im Schnittfeld von Privatheit und Öffentlichkeit. Das bedeutet, selbst wenn Teile „des Sozialen“ berufsförmig bearbeitet werden, bleibt doch immer ein großer Teil dieser Arbeit nicht-berufsförmig (Köngeter/Reutlinger 2023). Insofern liegt „das Soziale“, nach dem Verständnis Sozialer Arbeit, nicht außerhalb des Wohnens, sondern es geht um die Verbindung zwischen innen und außen, dem Privaten und dem Öffentlichen. Diese damit verbundene Ko-Produktion zwischen Privat- und Berufspersonen wird in der Tradition gemeinwesenarbeiterischer Ansätze deutlich. Sie zeigt, dass sich unterschiedliche Menschen engagieren, sei dies durch Erwerbsarbeit, Dienstleistungen, Vereine, gegenseitige Hilfe in schwierigen Lebenssituationen, geselliges Zusammensein oder durch politische Aktivitäten.
Die Rolle der Sozialen Arbeit bleibt dabei unklar, weshalb nochmals expliziter auf die Wohnfrage und das Wohnen in der Geschichte der Sozialen Arbeit eingegangen werden soll. Diese zweite Vergewisserung soll dazu beitragen, ein differenzierteres Verständnis der Soziale Arbeit als Gestalterin „des Sozialen“ (Scheu/Autrata 2018) herauszuarbeiten bzw. die unterschiedlichen Positionierungen Sozialer Arbeit gegenüber dem Thema Wohnen sichtbar zu machen.
3. Von der „Wohnexpertin“ zur „Einbindungshelferin“ – Soziale Arbeit und die Wohnungsfrage im historischen Rückblick
Im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert brachten Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesse gravierende soziale Folgen und massive Probleme mit sich. Zu nennen sind v. a. die Pauperisierung, Marginalisierung und Vereinsamung sowie die hygienischen und gesundheitlichen Belastungen der Menschen durch die beengten Wohnverhältnisse der damaligen Arbeiter:innensiedlungen und Mietskasernen (Pflüger 1909; Reutlinger 2018). Zusammengenommen kulminierten diese Aspekte in einer vorher nicht bekannten Art und Weise als zentrale sozialpolitische Herausforderung, der sogenannten Wohnungsfrage (Engels 1988 [1872]).
Die katastrophalen Wohnbedingungen dieser Zeit wurden in verschiedensten Berichten und Forschungsarbeiten beschrieben, die heute als Klassiker der Sozialraumforschung betrachtet werden (May 2008), allen voran „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ von Friedrich Engels (ebd.). Engels bezeichnete die maroden Häuser in benachteiligten Stadtteilen, in denen die Arbeiter:innen wohnten, als sogenannte „Brutstätten der Seuchen, die infamsten Höhlen und Löcher“, in die sie „Nacht für Nacht eingesperrt werden“ (Engels 1971 [1872], 263). Ähnliche Beschreibungen bspw. aus Nordamerika, wie durch den Sozialphotographen und Sozialreformer Jacob Riis, vermögen das Ausmaß der damaligen Wohnsituation benachteiligter Bevölkerungsgruppen noch detaillierter zu illustrieren:
„361.000 dunkle, sonnenlose, ungelüftete Räume war die Zählung, Räume, in denen man keine Kartoffelpflanze hätte züchten können, so sehr man es auch versuchte, denn eine Pflanze braucht Licht und Luft, in denen aber die Jungen und Mädchen aufwachsen, die in den kommenden Tagen Amerikas Metropole regieren werden, wenn sie denn aufwachsen. Und damit Sie nicht in den Irrtum des "schummrigen Zwielichts" verfallen, möchte ich Sie mit den Worten des Kommissars für Mietskasernen darauf hinweisen, dass es in den allermeisten Fällen überhaupt keine Fenster gab, nicht einmal eines, das mit einem anderen Zimmer in derselben Wohnung verbunden war. Man musste immer durch zwei, oft drei oder sogar vier Zimmer gehen, bevor man ein Zimmer mit Zugang zur Außenluft erreichte. [...] Ich kannte die unschöne Straße und sagte etwas zum Luftschacht - es war kaum ein Hof -, das mich selbst überraschte, aber das Mädchen, das zugehört hatte, brach eifrig dazwischen: ‚Die haben ja die Sonne da drin. Wenn du die Tür öffnest, fällt dir das Licht direkt ins Gesicht.‘ ‚Kommt sie nie hierher?‘ fragte ich und wünschte, ich hätte es nicht gesagt, denn das Kind am Fenster hörte zu, seine ganze hungrige kleine Seele in den Augen. Doch, sagte sie, einmal im Sommer kommt sie für eine kurze Zeit über die Häuser. Sie kannte den Monat und die genaue Stunde, in der sie in ihr Haus schien, und sie wusste genau, wie weit sie an der Wand zu sehen war. Sie lebten nun schon sechs Jahre dort. Im Juni war die Sonne fällig. Eine quälende Angst, dass das Kind fragen würde, wie lange es noch bis Juni dauert, ergriff von mir Besitz, und ich beeilte mich, das Thema zu wechseln. Damals war es Februar.“ (Riis 1911, 315/317, eigene Übersetzung des Autors)
Beide Werke verdeutlichen, dass sich die „Soziale Frage“ (Fontanellaz et al. 2018; Paulus et al. 2020) räumlich im Siedlungsgefüge und in den konkreten Wohnbedingungen abbildete (Reutlinger/Lingg 2021). Nach Engels marxistischer Theorie wäre die Soziale Frage – also die Frage nach den Ursachen sozialer und räumlicher Ungleichheiten produzierender Mechanismen – durch das Auflösen von kapitalistischen Produktionsweisen beatwortbar. Parallel dazu wurden Reformbestrebungen diskutiert und umgesetzt, welche weniger revolutionär und grundlegend waren. Die sogenannte Siedlerbewegung oder sozialreformerische Ansätze des geförderten Wohnungsbaus zielten auf die Verbesserung der Wohnbedingungen für Arbeiter:innen. In dieser Zeit und durch diese unterschiedlichen Initiativen wurde die Basis des sozialen Wohnbaus gelegt, bzw. die Art und Weise, wie der massiven Wohnungsnot in sozialstaatlicher Verantwortung bzw. „sozial“ begegnet werden konnte[5]. Der soziale Wohnbauungsbau fand unterschiedliche Formen, wie den kommunalen und gemeinnützigen Wohnbauungsbau, die jeweils die Wohnraumversorgung mit Vorstellungen von einem angemessenen Familien- und Gemeinschaftsleben verbanden. Das sogenannte „Rote Wien“ gilt paradigmatisch für diese Phase (Blau 2014). Sie reagierte mit einem umfassenden Wohnbauprogramm auf die damalige Wohnungsnot. „Diese war in erster Linie das Ergebnis einer langen Geschichte des amtsseitigen Desinteresses an den Lebensbedingungen der Industriearbeiter in Wien, die in den Vierteln zuhause waren, die man zu den übelsten in ganz Europa zählten“ (Blau 2014, 22).
In dieser Zeit der Thematisierung und Skandalisierung von krankmachenden Wohnbedingungen nahmen die Vorläufer:innen moderner Sozialer Arbeit eine wichtige Rolle ein, nicht nur in Community-orientierten Ansätzen (Landhäußer 2008). Letztere sahen die lokale Community einer Siedlung oder eines Quartiers „als Ansatzpunkt für sozialarbeiterisches und sozialpädagogisches Handeln“ (ebd. 45).
Soziale Arbeit und Wohnen – eine Verhältnisbestimmung
Gemeinhin gilt im deutschsprachigen Raum die US-Amerikanerin Mary Ellen Richmond als Pionierin der Einzelfallhilfe in der Sozialen Arbeit (siehe bspw. Griesehop/Rätz/Völter 2012). Ihre Arbeiten werden heute in gemeinwesenarbeiterischen Themen und community-orientierten Ansätzen jedoch weniger rezipiert (Stövesand et al. 2013). Viel eher wird auf Frauen* aus dem Hull House[6] Bezug genommen, wie bspw. auf Jane Addams, Julia Lathrop, Ellen Gates Starr oder Florence Kelly. Letztere ging zum Studium nach Europa. An der Universität Zürich geriet sie unter den Einfluss des europäischen Sozialismus. 1887 veröffentlichte sie eine Übersetzung von Friedrich Engels‘ „The Condition of the Working-Class in England“ (Köngeter/Reutlinger 2023).
Für die Frage, wie Wohnen in der Entstehungsphase moderner Sozialer Arbeit thematisiert wurde, ist interessant, dass gerade Richmond bspw. im Text „How Social Workers Can Aid Housing Reform“ (Richmond 1911) oder in „The Good Neighbor in the Modern City“ prekäre Wohnsituationen der damaligen beschrieben hat, als „the evils of bad housing“ (Richmond 1908, 76). „(T)here are thousands of these houses, built for one family and occupied by three or more” (ebd.).
Richmond begründet, dass Sozialarbeiter:innen einen anderen Blick auf diese Wohnverhältnisse hätten, da sie vor Ort arbeiteten, in den Häusern der Menschen ein- und ausgingen. Diesen Blick gelte es zu schulen und als wissenschaftliche Perspektive anzuerkennen, im Sinne einer „Lektion im Lesen und Sehen“, um „zu lernen, über die oberflächliche Sauberkeit von frischer Farbe und Tünche hinauszusehen“ (Richmond 1911, 316). Richmond macht dies anhand einer Aufzählung gravierendster Wohnmängel deutlich. „Die übliche Reihenfolge bei der Suche nach den schwerwiegendsten Wohnungsmängeln lautet: (1) schlechte Toilettenanlagen, (2) Feuchtigkeit, (3) dunkle Räume, (4) Überbelegung, (5) unzureichende Wasserversorgung“ (ebd. 317). Ausgehend von dieser Expertise und dem durch Soziale Arbeit produzierten Wissen formuliert sie ein Vorgehen für eine alternative Stadt- und Siedlungsplanung. „Ein Hilfsmittel bei der detaillierten Bemühung um die Verbesserung der Wohnverhältnisse in einem bestimmten Stadtteil einer Großstadt wäre die Erstellung einer weißen Liste mit guten Häusern und guten Vermietern mit den vorherrschenden Mietpreisen“ (ebd. 329).
Sozialarbeiter:innen sollten im Zuge dessen Wohnungs(bau)expert:innen werden, die Standards für den sozialen Wohnungsbau festlegen können. In der Umsetzung von Reformbestrebungen plädiert sie weiter für ein partizipatives Vorgehen. „Wir müssen eher mit den Mietern als für sie arbeiten und ihre Mitarbeit gewinnen, wenn das möglich ist, auch wenn wir langsamer vorgehen, um das zu erreichen“ (ebd. 328).
Diese aufklärerisch-gestalterische Rolle, die bei den notwendigen Veränderungen der strukturellen, die Wohnungsnot verursachenden Zusammenhänge ansetzt, verlor sich mit der Zeit insbesondere in der Entwicklungslinie einzelfallbezogener Sozialer Arbeit. Schon bald lässt sich die Rolle Sozialer Arbeit hierzulande beim Thema Wohnen als Einbindungshelferin beschreiben (Beck/Reutlinger 2021). Dies bedeutet, dass die individuelle Einbindung von Adressat:innen entlang der Prinzipien der Arbeitsintegration angestrebt wird. Gemäß einer bürgerlichen, funktionsgetrennten und geschlechterhierarchisch angeordneten Wohn- und Lebensweise („normales“ Wohnen, siehe Häußermann/Siebel 1996[7]) werden spezifische Hilfesettings im Zusammenhang mit Arbeits- und Wohnarrangements eingerichtet und zunehmend ausdifferenziert, bspw.…
- für Menschen mit körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen, aber auch für unterstützungsbedürftige Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene (im Rahmen der erzieherischen Kinder- und Jugendhilfe);
- für obdachlose Menschen durch wohnräumliche (Not-)Versorgung und Beratung;
- für asylsuchende Menschen, die begleitet und unterstützt werden, bis sie einen rechtlichen (Aufenthalts-)Status erlangt haben (der ihnen überhaupt erst die notwendige Sicherheit für ihr Dasein bietet und ihnen grundsätzlichen Zugang zum allgemeinen Wohn- und Arbeitsmarkt gewährleistet).
In Anlehnung an Gesellschaftsbilder und Normalitätsmuster schafft Soziale Arbeit (Wohn-)Räume für „herausgefallene Menschen“ (Reutlinger 2017, 66). Diese spezifischen „Sonderwohnformate“, die Soziale Arbeit eigens einrichtet oder mitbespielt (wie Heime, Wohngruppen, Obdach-Angebote, auch separierte Asylunterkünfte mit eingeschränktem Leistungsanspruch u. a.), sind zugleich auf deren Charakter der Ausschließung hin zu diskutieren (Beck/Reutlinger 2021). Soziale Arbeit ist entsprechend als Akteurin im Kontext von Ein- wie Ausschließungsprozessen sowie als Mitgestalterin der Gesellschafts- und Wohnordnungen und daraus hervorgehenden konkreten WohnRäumen zu sehen (ebd.; Meuth 2017). In den vergangenen hundert Jahren waren für die Soziale Arbeit unterschiedliche gesellschaftliche und politische Leitbilder (ökonomisch-liberal vs. staatsinterventionistisch; bürgerliche Kleinfamilie vs. sozial(istisch)es Gemeinwohl) und verschiedene Handlungsebenen ausschlaggebend (politische, steuerungspraktische und räumliche Ebene) (Beck/Reutlinger 2021). Darin spiegelten sich grundsätzlich erstmals ein Bewusstsein und Möglichkeiten für die Gestaltbarkeit von Gesellschaft.
Die Soziale Frage und damit auch die Wohnungsfrage wurde jedoch weder sozialpolitisch noch durch die Praxis der Sozialen Arbeit gelöst, vielmehr fügte sich Letztere in bestimmte Sozial- und Wohnordnungen ein (Reutlinger 2017). Die Wohnungsfrage der besitzlosen Nicht-Arbeitenden blieb außen vor und wurde stattdessen – eher repressiv und sozialdisziplinierend – unter dem Titel der Armenfrage (und Armenfürsorge) behandelt (Beck/Reutlinger 2021). Es ging hier um raum- und ordnungslogische Lösungen, die die Organisation sowie die soziale und moralische Kontrolle der (Wohn-)Verhältnisse ermöglichten, und die darüber auch eine Erziehung zum „richtigen“ respektive bürgerlichen Wohnen anstrebten. Lediglich die Art der Maßnahmen, die Umsetzungswege wie auch die Rolle des Staates blieben umstritten (Wien als Sonderfall).
Antwort sozialer Wohnungsbau: Das „Rote Wien“ und die Tradition des Wiener Gemeindebaus
Wie in vielen europäischen Städten verschlechterten sich auch in Wien während des Ersten Weltkriegs die Wohnverhältnisse. Der private Wohnungsmarkt war gering reguliert, es mangelte an Wohnraum und der zur Verfügung stehende war mangelhaft (Altbau oder sogenannte Mietskasernen), massiv überbelegt, die gesundheitsschädigende hygienische Situation zog die Verbreitung zahlreicher Krankheiten nach sich (vgl. Kadi 2018, 2f.). Dies führte zu Arbeiter:innenprotesten und schließlich 1919 zur Übernahme der Regierungsaufgaben durch die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP), und damit einhergehend begann die Zeit des „Roten Wien“. Als Wohnbau- und Stadtentwicklungsmaßnahmen wurden gezielt sogenannte Superblocks im Stadtraum platziert und mit Gemeinschaftseinrichtungen ausgestattet – symbolisch konnte dadurch die politische Ideologie in der Stadtplanung und Gestaltung und damit im Alltagsleben eingeflochten werden (Kadi 2018, 3).
„Die Gemeindebauten, die zusammen die ‚Ringstrasse des Proletariats‘ bildeten, vergaben nicht nur privaten, sondern auch öffentlichen Raum an eine soziale Klasse, die davor zu keinem von beiden Zugang hatte. Oft wurde die Vergabe von öffentlichem Raum durch sorgfältige Standortwahl, Anordnen der Massen der neuen Bauten so erreicht, dass sie bestehende Plätze, Parks und Gassen ringsum einschlossen oder sonstwie eine Verbindung zu diesen Herstellten. Obwohl sie die grundlegende räumliche Organisation der Stadt im Wesentlichen unverändert liessen, änderten sie durch ihre Präsenz deren Bedeutung“ (Blau 2014, 337).
Die Wascheinrichtungen sollten dabei bspw. nicht nur Frauen entlasten (Kuhlmann 2017, 88), sondern auch die Emanzipation der Arbeiter:innen und ihr Selbstbewusstsein fördern. Das Ideal orientierte sich am Bild einer ‚guten Arbeiter:innenfamilie‘ (Kadi 2018, 3). Aus städtebaulicher Perspektive wurde der gesamte Wohnkomplex in den Blick genommen und unter sozialen Aspekten, wie dem Gemeinschaftssinn der Arbeiter:innen, arrangiert und gestaltet. Der Hof wurde zum Inbegriff dieser neuen Wohnwelt, d. h. die Gemeindebauten bestanden aus Wohnkomplexen „mit Höfen mit großen Wiesen und Spielplätzen für Kinder“ (Blau 2014, 288). „Nicht das einzelne Wohnhaus, sondern der große Block mit hunderten von Wohnungen. Das ist das zu gestaltende Objekt.“ (Siegel 1924, 8 in Blau 2014, 287). Der Wohnraum bzw. das Wohnumfeld wurde kollektiviert, indem die Höfe ausschließlich von den Bewohner:innen genutzt wurden. „Jeder Mieter im neuen Gemeindebau verfügte somit nicht nur über privaten Wohnraum (der aller Wahrscheinlichkeit nach von höherer Qualität war, als er sie davor gekannt hatte), sondern auch über Raum außerhalb seiner Wohneinheit, in gemeinschaftlichen, geteilten Räumen, die für kollektive Nutzung bestimmt waren.“ (Blau 2014, 287)
Die Wiederkehr der Wohnungsfrage
Heutzutage wird die Rück- oder Wiederkehr der Wohnungsfrage konstatiert (Hubeli 2020; Beck/Reutlinger 2019). Insbesondere durch zunehmend global wirkende Finanzdynamiken zeichnet sich in vielen Groß- und Universitätsstädten eine neue Prekarisierung des Wohnens und eine neue Wohnungsnot ab[8] (Belina 2021). Wohnprobleme rücken offensichtlich weiter in die Mitte der Gesellschaft vor (Beck/Reutlinger 2019). Neben klassisch benachteiligten Bevölkerungsgruppen sehen jedoch angesichts der Gentrifizierungsprozesse und steigenden Mietkosten immer häufiger auch andere Bevölkerungsgruppen ihren Wohnraum bedroht (Meuth/Reutlinger 2023).
Mit der Zunahme von prekären Wohnformen, der sinkenden Gewährleistung leistbaren Wohnens für alle Personen und Personengruppen, der zunehmenden Ungleichverteilung von Wohnraum und der Erhöhung von Zugangsschwellen wird die gesellschaftliche Brisanz des Wohnens deutlich[9]. Angesichts dieser Probleme wird auch heute die quantitative Frage (mehr Wohnraum) mit qualitativen Überlegungen (angemessene Wohnformen) verbunden, wie sie z. B. in der EU-Initiative „neues europäisches Bauhaus“ formuliert sind (https://new-european-bauhaus.europa.eu/index_en).
4. Sozialräumliche Wohnforschung – konzeptionelle Überlegungen
Wohnraum ist nicht bloß eine Hülle, in der gewohnt wird. Das im Rahmen der begrifflich-konzeptionellen Herleitung von sozialem Wohnungsbau aufgezeigte, gesetzlich-architektonisch geprägte Verständnis von Wohnraum betrachtet diesen als Behälter, in dem gewohnt wird. Angesichts der Sichtbarkeit und Präsenz der baulich-physischen, dreidimensionalen Hülle, der Wohnung, in der gewohnt wird, liegt ein solches Verständnis erstmal nahe. Aus raumtheoretischer Sicht wird dieses als absolutistisch bezeichnete Raumverständnis jedoch problematisiert, da eine nicht sinnvolle Trennung zwischen physischem und sozialem Raum vorgenommen wird, verbunden mit verschiedensten Verkürzungen und Reduktionen im Denken und Argumentieren. Dies ist bspw. dann der Fall, wenn bloß das Wohnen als etwas vom Wohnraum Unabhängiges betrachtet wird. In den Blick geraten demgegenüber die Menschen und ihre Handlungen innerhalb von Wohn-Behältnissen, also bloß die Konstitution und Verortung der „Füllung“ (Wehrheim 2018, 370). Im Wohnen wird jedoch nicht bloß auf die Hülle, in der gewohnt wird, Bezug genommen und die sich in der Wohnung befindenden Dinge positioniert. Vielmehr findet beim Wohnen ständig ein Tun mit den Dingen statt, nicht nur beim Bezug und Einrichten der Wohnung, sondern im Alltag, in der Nutzung, Veränderung und Gestaltung. Diesen Einfluss der Dinge auf das Wohnen darf jedoch auch nicht vollständig als das Handeln der Menschen determinierend betrachtet werden. Meistens hat ein:e Bewohner:in die Möglichkeit, die Zimmer nach eigenen Vorstellungen zu nutzen, umzuräumen, neu einzurichten, bestimmte Einrichtungselemente auch wieder umzustellen und neu zu gestalten. Entscheidend sind hier persönliche Vorlieben, der individuelle Stil, aber auch gesellschaftlich geprägte Vorbilder und konventionelle Vorgaben. Um diese „empirisch vorfindbare[n] Gesellschaften oder Ordnungen“ (Löw 2018, 16), welche Räume als „das Soziale“ mitstrukturieren angemessen konzeptionell zu fassen, bieten sich raumrelationale Perspektiven an. Ein so verstandenes „Soziales“ zeigt sich in konkreten sozialen Wohnbauten in einer bestimmten Art und Weise – nicht nur in den architektonischen Entwürfen und der konkreten materiellen Gestalt, also dem Bau, sondern auch in der Art, wie sich die dort lebenden Menschen diese Bauten aneignen, wie sie sie in ihrem Alltag (er)leben und dadurch „das Soziale“ hervorbringen. Diese Raumgestaltungs- und Raumaneignungsprozesse der Bewohner:innen beziehen sich einerseits auf vorgegebene strukturelle Grundlagen wie der Vorstellungen „vom Sozialen“ oder den gegebenen physisch-materiellen Bedingungen. Andererseits können die Handelnden diese strukturellen Bedingungen im Tun auch verändern, worauf aktuelle raumtheoretische Diskussionen seit mehreren Jahren verweisen.
Sozialer Wohnraum unterliegt dabei zu verschiedenen Zeiten jeweils ganz bestimmten gesellschaftlich geprägten Vorstellungen vom Sozialen und findet einen entsprechenden materiellen Ausdruck in den Wohnungen, Gemeinschaftsräumen, Siedlungen und im weiteren Wohnumfeld. Die Gemeindebauten im „Roten Wien“ etwa waren Ausdruck eines starken Klassenbewusstseins und verliehen diesem auch einen materiellen und symbolischen Charakter. Die Verbindung „des Sozialen“ und der materiellen Gestalt ist allerdings nicht fixiert, sondern fluide. Die im sozialen Wohnbau lebenden Menschen können ihr nachbarschaftliches Zusammenleben wie auch die (Be)Deutungen „des Sozialen“ immer auch neu verhandeln. Allerdings sind sie dabei nicht vollständig frei, sondern sie beziehen sich unter anderem auf die jeweils geltenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen und Denkweisen.
Interessant ist deshalb, der Frage auf den Grund zu gehen, wie die im Gemeindebau lebenden Menschen sich den sozialen Wohnraum zu unterschiedlichen Zeiten aneignen, ihn gegebenenfalls auch verändern und weiterentwickeln. Und wie beeinflussen die Gebäude und Wohnräume, als Ausdruck von spezifischen Wertvorstellungen, die Art und Weise, wie die dort lebenden Menschen zusammenleben und ihren Alltag gestalten?
Wesentlich sind drei Dimensionen, über die sich (soziales) Wohnen konstituiert:
- WohnStrukturierungen:ordnungsstrukturelle Mechanismen, die Wohnen in Anlehnung an gesellschaftliche Herrschaftsstrukturen, über konkrete Institutionen, Regularien, Planungsvorgänge, Programmatiken usw., aber auch angelehnt an Diskurse und Leitbilder, fortlaufend direkt oder indirekt (mit-)strukturieren à Politik des sozialen Wohnungsbaus (Verteil- und Zuweisungssystem)
- WohnPraktiken:alltägliches Wohnen, über das sich die Menschen mit ihrem eigenen Leben sozial und funktional verorten à Alltägliche Praktiken der Menschen (Haushalte mit begrenzten finanziellen Mitteln)
- WohnRäume:räumliche und territoriale Gestaltungen, die als räumliche Fixierungen zu sehen sind, welche gesellschaftliche Begebenheiten und Wohnweisen manifestieren und dadurch auf weitere WohnPraktiken und -Strukturierungen einwirken à Konkreter Wohnraum (Lage, Bauweise, Ausstattung etc.)
Von diesen Komponenten ausgehend, kommen grundlegende Fragen, wie: in welcher Gesellschaft wir leben, welche Normalitätsvorstellungen vorherrschend sind, welche Diskurse und Annahmen zum Wohnen existieren und dominieren etc. Diese ideologisch-diskursive Ebene ist jedoch abzugrenzen von dem alltäglichen Leben der Menschen in den Wohnungen bzw. Wohnräumen. Ob sie allein leben, in welchen Familienformen sie sich bewegen, welche Nachbarschaftsbeziehungen sie pflegen, ob ein:e Sozialarbeiter:in involviert ist oder andere Professionelle, muss in jedem Fall genauer betrachtet und analysiert werden. Außerdem geht es stets um die Verbindung von gebauter Welt und den handlungsleitenden Normalitätsvorstellungen, die unsere Bilder von Wohnen prägen. Aus einer sozialräumlichen Perspektive auf das Wohnen geht es immer darum, die unterschiedlichen Ebenen miteinander verknüpft und verwoben zu verstehen (wie in der folgenden Abbildung dargestellt ist).
Abbildung 1: Wohnen als sozialräumliches Gebilde sozialer Praktiken (Quelle: Beck, Sylvia (2021): in Anlehnung das St.Galler Modell des Sozialraums, vgl. Reutlinger/Wigger 2010)
5. Sozialräumliche Ortsbegehungen – Anmerkungen zum Konzept der explorativen Studie
Für das ursprünglich geplante Projekt „Re-Figuration des sozialen Wohnbaus – eine explorative Studie zum Wiener Gemeindebau“[10] wurden vier Siedlungen des Wiener Gemeindebaus identifiziert, in denen die explorativen Untersuchungen durchgeführt werden sollten: der George Washington Hof, als Gemeindebau der Phase des „Roten Wien“ (erbaut 1927-1930), die Per-Albin-Hansson-Siedlung, als Gemeindebau in der Phase des Reformbautätigkeiten (Bauteil Ost, erbaut 1970-1974), die Siedlung Ankerbrotgründe, als Gemeindebau in der Phase des ersten Stadtentwicklungsplans (erbaut 1982-1985) sowie der Barbara Prammer-Hof, als Gemeindebau in der Phase des smarten Wohnbaus (erbaut 2017-2019)[11]. Alle vier Gemeindebauten liegen in Favoriten, dem 10. Wiener Gemeindebezirk:
George Washington Hof (GWH): Der GWH lag bei seiner Erbauung zwischen 1927-1930, am Stadtrand von Wien an der Grenze zwischen dem 10. und dem 12 Bezirk. Er umfasste 1097 Wohnungen und wurde als Gartenstadt geplant (vgl. Riesenhuber 1991, 6). Mit fünf aneinandergeketteten U-förmigen Höfen und einer Bebauungsdichte von 21 % entstand in der Umsetzung eine Kompromisslösung zu den damals ebenfalls im roten Wien gebauten Superblocks, wie dem Karl-Marx-Hof (ebd.). Die fünf vorhandenen Höfe wurden nach den dominierenden Baumarten, die im jeweiligen Hof gepflanzt wurden, benannt: Akazien-, Ulmen-, Ahorn-, Flieder- und Birkenhof (siehe auch Ammer et al. 2022). Architektonisch hatte jede Wohnung eine durchschnittliche Fläche von knapp 50 Quadratmetern, jeder Raum war direkt belichtet und belüftet (Riesenhuber 1991, 11), jede Wohnung verfügte auch über fließendes Wasser und ein WC, heute auch über Duschen (früher Gesamtduschen) (ebd.). Aus sozialräumlicher Wohnforschungsperspektive (siehe oben) fällt insbesondere die Größe des Gebildes mit den weitläufigen grünen Höfen auf sowie die damit verbundene Stadtrandbebauung. Es war Wohnraum für die Arbeiter:innenklasse, welche zuvor unter unmenschlichen Bedingungen hatte leben müssen. Der Kindergarten, die Schule, die Vereine und die Gesundheitsprävention trugen dazu bei, die Grundbedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Mit der Strukturierung gingen zudem bestimmte Vorstellungen von Familie, Nachbarschaft und Rollenteilung einher. Es gab also starke Verbindungen zu den gesellschaftlich geltenden Vorgaben und Normen. Die vielen neu etablierten Gemeinschaftseinrichtungen (Waschanlagen, Gesamtduschen, Kinderbetreuung etc.) waren Errungenschaften der Politik des „Roten Wien“ zur sozialen Verbesserung der Lebensverhältnisse, zur Erleichterungen im Alltag und zur Emanzipation der Arbeiter:innen durch gemeinsame Veranstaltungen. Diese Gemeinschaftseinrichtungen dienten der „Erzeugung einer Gemeinschaft bzw. eines Gemeinschaftsgefühls von Gleichgesinnten“ (Ammer et al. 2022, 18). Heute kritisch zu betrachten sind die damals kaum hinterfragten Rollenbilder, die idealisierten Gemeinschaftsvorstellungen, aber auch die hohe Regulierung des Zusammenlebens. Insbesondere für Kinder und Jugendliche hatte dies Konsequenzen, wie später genauer aufgezeigt wird.
Per-Albin-Hansson-Siedlung (PAHO, Bauteil Ost, erbaut 1970-1974): Folgt man dem städtebaulichen Leitbild einer aufgelockerten und durchgrünten Stadt, so gilt die PAHO als Paradebeispiel des sogenannten „sozialen Städtebaus“ in einer Phase großer Reformprojekte. Am Südhang des 10. Wiener Gemeindebezirks „Favoriten“ gelegen wurde sie in Erinnerung an den von 1932 bis 1946 amtierenden schwedischen Ministerpräsidenten Per Albin Hansson erbaut und bekannt, da dieser Wien im zweiten Weltkrieg mit großzügigen Hilfestellungen unterstützt hatte (Wiener Wohnen: Per-Albin-Hansson-Siedlung-Ost). Die Siedlung wurde in verschiedene Bauabschnitte unterteilt, welche unterschiedlichen städtebaulichen Idealen folgten (Westen als Gartenstadt, Norden als Plattenbausiedlung). Der Ostteil wurde zwischen 1970 und 1974 in Fertigbauweise errichtet, wodurch auf ca. 30 ha vier- bis neunstöckige Wohnblöcke entstanden – abgeschlossen wurde die PAHO mit dem Olof-Palme Hof, der 1976 fertiggestellt wurde und mit dem „Hansson Zentrum“ bis heute Einkaufsmöglichkeiten für das gesamte Gebiet bietet (IBA WIEN PAHO). Die durchschnittliche Wohnungsgröße beträgt 68m², jede Wohnung ist mit einem kleinen Balkon und einer Loggia ausgestattet (ebd.).
Siedlung Ankerbrotgründe (erbaut 1982-1985): Dieser Name erhielt die in vier Abschnitten erbaute und im 10. Wiener Bezirk gelegene Gemeindebausiedlung durch das Gelände, auf dem sie errichtet wurde: die ehemalige Brotfabrik Anker. Die einzelnen Blöcke, insgesamt sechs mit 41 Stiegen und 404 Wohnungen, wurden von unterschiedlichen Architekten entworfen und haben daher eine ganz unterschiedliche Erscheinung (Lázló 2022, 4ff.). Zwischen den Baukörpern gibt es Grünflächen, Spielplätze und kleine Pflanzbeete. Ab den 1980er Jahren kam es mit dem geförderten Wohnbau zu einem Paradigmenwechsel im sozialen Wohnungsbau Wien, deshalb gehören die Ankerbrotgründe zu den letzten Gemeindebauten dieser Phase (Ruhsmann/Wippel 2019, 116). Damals (1984) wurde der erste Stadtentwicklungsplan (STEP) erstellt, welcher auf soziale Aspekte (wie der Verbesserung der Lebensverhältnisse, sozialen Gerechtigkeit, Solidarität, oder der Mitwirkung und Selbstbestimmung, der Stadtkultur) ebenso wie auf nachhaltige Aspekte setzte. Es zeigt sich jedoch in der baulichen Umsetzung der Ankerbrotgründe, dass „das Soziale“ mit sozialen Einrichtungen bzw. sozialer Infrastruktur gleichgesetzt wurde (STEP 1984, 29ff.) und indes kaum Maßnahmen zur Förderung sozialer Interaktion oder der Gemeinschaftsbildung ergriffen wurden.
Barbara Prammer Hof: Nach langen Jahren der Förderung anderer Wohnbauformen setzte der damalige Bürgermeister Michael Ludwig 2015 mit der Initiative „Gemeindebau neu“ erneut auf die Tradition des „Roten Wien“. Als erster Gemeindebau dieser neuen Initiative wurde der Barbara Prammer Hof Ende 2019 fertiggestellt und bezogen. In der Fontanastraße im 10. Wiener Stadtbezirk wurden 120 neue Wohnungen erbaut, ein Drittel davon nach den Kriterien der ‚Smart-Wohnungen‘. Der Barbara Prammer Hof gliedert sich architektonisch in drei Baukörper und drei thematische Höfe, einen Begegnungs-, einen Ruhe- und einen Gemeinschaftshof. Pflanzbeete für urban gardening und einen Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss sollen das soziale Zusammenleben fördern, Zusammenkünfte und Feste ermöglichen. Als gemeinsam nutzbare Fläche sollen die drei Höfe den sozialen Austausch der Bewohner:innen stärken, gegenseitige Nachbarschaftshilfe anregen, zur Lösung von Konflikten beitragen, die Entwicklung unterstützender Netzwerke begünstigen (NMPB 2019). Im Gegensatz zum George Washington Hof haben sich hier mittlerweile einige gemeinschaftliche Elemente radikal verändert, indem es bspw. keinen Ballsaal mehr gibt, sondern einen Gemeinschaftsraum mit einer Küche, keine gemeinsame Waschküche, dafür noch immer Kindergärten resp. Kinderbetreuungseinrichtungen. In allen vier Siedlungen wird das freie Kinderspiel auf den Grünanlagen enorm reguliert und vielfach verboten (siehe unten).
In jeder der vier beschriebenen Siedlungen hätten ursprünglich eine gewisse Anzahl von Interviews mit unterschiedlichen Akteur:innen (Planer:innen, Wohnpartner:innen sowie Bewohner:innen) durchgeführt werden sollen, mit dem Ziel, Datenmaterial zu generieren und dieses anschließend inhaltsanalytisch auszuwerten[12]. Die pandemische Lage der Wintermonate 2021 (22. November bis 12. Dezember), der in ganz Österreich geltende „harte Lockdown“, machte diese Pläne jedoch zunichte. Notgedrungen musste stattdessen ein pandemie-sicheres Forschungsformat entwickelt werden[13], die sozialräumlichen Ortsbegehungen.
Mit den sozialräumlichen Ortsbegehungen (in Anlehnung an Sommer/Töppel 2021; Tabačková 2021, sowie Deinet/Krisch 2004) wird versucht, Gemeindebauten anhand von Beobachtungen in ihren sozialen und räumlichen Ausprägungen zu erfassen. Das Ziel liegt darin, „möglichst viele Eindrücke zu sammeln, um die (unterschiedlichen) Qualitäten von Orten wahrzunehmen“ (Deinet/Krisch 2004, 66), aber auch den erlebten Atmosphären (Tabačková 2021, 279) (in einem Hof) ein besonderes Augenmerk zu schenken. Ortsbegehungen werden entlang der raumplanerischen Tradition als „bewusste Beobachtungen der gebauten Umwelt“ (Tabačková 2021, 275) durch „direkte physische Auseinandersetzung mit [ihr]“ (ebd.) konzipiert und darüber Erkenntnisse „über ‚mehr als nur‘ Gebäude gewonnen“ (ebd.). Das bewusste Gehen im und Wahrnehmen von Stadtraum (Burckardt 2006) wird als eine Möglichkeit betrachtet, „um einerseits die materiell-physischen Aspekte des Raumes sowie ansatzweise die dort stattfindenden Wechselwirkungen im und mit dem Sozialen zu dokumentieren“ (Lehner 2021, 96).
Per Handy-Kamera und dazugehörigen Notizen im Forschungstagebuch werden einschlägige Eindrücke festgehalten. In Anlehnung an Spaziergangwissenschaften sowie der sozialgeografischen Tradition der Spurensuche wird dabei ein Gemeindebau zu Fuß oder mit dem Fahrrad erkundet. Durch das bewusste Gehen, Fahren und Wahrnehmen findet eine direkte, d. h. körperliche Auseinandersetzung mit der gebauten Umwelt statt. Aus raumsoziologischer Perspektive (Löw 2001, 192) und ansetzend an der Vorstellung von sozialgeographischer Forschung „als Spurensuchen“ und „Spurenlesen“ (Hard 1989, 2) gilt es, die beobachtbaren Artefakte und Spuren nicht bloß als „Registrierplatte“ (vergangener) menschlicher Tätigkeiten (kritisch Weichhart 2014, 434) oder objektivierter, geformter oder materialisierter Niederschlag der sozialen Welt (Hartke 1959, 427) zu verstehen. Vielmehr sollen diese Spuren – möglichst reflexiv – „auf Soziales hin [zu] interpretieren“ (Hard 1989, 5) sein. Denn bei jedem Artefakt und bei jeder Spur geht es um deren (soziale) Bedeutung, „sei es für diejenigen, die sie absichtlich oder unabsichtlich hergestellt habe[n], sei es für die, die sie späterhin nutzen oder umnutzen, überarbeiten oder wegarbeiten» (ebd., 4). Hier setzt ein handlungstheoretisches Verständnis von Sozialgeographie an (Werlen/Reutlinger 2019), indem „die räumliche Konfiguration von Artefakten auf der Erdoberfläche“ als „Ereignis menschlichen Handelns“ betrachtet wird (Weichart 2014, 436). „Sie [die Artefakte] sind somit als intendierte und nicht intendierte Folgen vergangener und gegenwärtiger Handlungen zu erklären“ (ebd.).
Erkenntnisse zu den in einem Gemeindebau gelebten – offensichtlichen sowie eher impliziten – sozialen Zusammenhängen lassen sich ebenfalls gewinnen: über die baulich-landschaftliche Gestaltung von Hofanlagen sowie die Anordnung der verschiedenen Objekte innerhalb derselbigen, wie Gemeinschaftsräume, Wege, Begegnungszonen, Sitzgelegenheiten, Spielplätze etc.; über Schilder, die auf Regeln und (un)erlaubtes Verhalten hinweisen, sowie andere schriftliche Ausdrucksformen, wie Plakate, Zettel oder Graffitis; über die Art und Dichte von Zeitungen, die Sonntags in Zeitungstaschen (Sonntagsstandl) zum Verkauf angeboten werden und im Eingangsbereich der Wohnhäuser um Leser:innen buhlen; oder über beobachtbare Interaktionen zwischen Nutzer:innen der Höfe, wie diejenigen in der eingangs beschriebenen Szene.
Im Laufe der vier Wochen Feldphase wurden die sozialräumlichen Ortsbegehungen sowohl in eine extensive Variante als auch in eine restriktive Variante differenziert. Die extensive Variante wurde in den vier ausgewählten Siedlungen (siehe oben) angewandt. Hier gelang es, Studierende der Raumplanung an der TU Wien im Rahmen einer Übung zu „Stadtforschung, Lebenswelt und Alltag“ für Untersuchungen vor Ort zu gewinnen, die im Rahmen der gegebenen Pandemie-Situation möglich waren. Als Ergebnis kamen vier kleinere Studien zustande, welche einen Planungsfokus aufweisen und der Frage nach „dem Sozialen“ in den Gemeindebauten nachgingen (siehe Ammer et al. 2022; Jutz et al. 2022; Kalhorn et al. 2022; László et al. 2022). Parallel dazu führte der Autor in rund 200 Gemeindebauten eine begrenztere Variante von sozialräumlicher Ortsbegehung in vier Schritten durch. Erstens wurden in unterschiedlichen Bezirken der Stadt Wien die vorhandenen Gemeindebauten (über die Homepage von Wiener Wohnen: www.wienerwohnen.at) identifiziert. Zweitens wurde eine Route bestimmt, um die Höfe in einer sinnvollen Reihenfolge mit dem Fahrrad „abzufahren“ oder zu Fuß (und mit öffentlichen Verkehrsmitteln) zu erreichen. Drittens wurde jeder dieser Höfe besucht resp. systematisch anhand einer Checkliste auf sozialräumliche Kriterien hin geprüft und erfasst (Deinet/Krisch 2004, 55; Gspuring 2014, 198). Schließlich wurden viertens die besuchten Höfe im Nachgang dokumentiert (mit Hilfe der Beschreibungen, die auf www.wienerwohnen.at zu finden waren bzw. auf einer kleinen Internetrecherche basierten und auf einer Liste festgehalten wurden). Ausgehend von diesem Datenkorpus konnten in einem Analyseprozess übergreifend erste Anhaltspunkte dazu herausgearbeitet werden, wie „das Soziale“ an diesen Orten gedacht, materialisiert und gelebt wird und wie es sich im Laufe der Zeit auch ganz konkret gewandelt hat.
6. „Das Soziale“ im Wiener Gemeindebau – Ergebnisse der explorativen Studie
Obwohl die sozialräumlichen Ortsbegehungen während des Lockdowns stattfanden, waren meistens Personen anwesend in den Höfen: Passant:innen, Hundehalter:innen, Kinder, Betreuungspersonen, Jugendliche, aber auch Postbot:innen, Paketaustrager:innen oder Lieferant:innen von Essen und bestellten Waren. Es konnten auch ganz unterschiedliche Interaktionen und Begebenheiten zwischen ihnen beobachtet und festgehalten werden, wie bspw. die zu Beginn dieses Beitrags beschriebene Szene in der sich zwei Bewohner:innen lautstark über nicht fachgerecht entsorgen Sperrmüll streiten. Sie bietet gleich mehrere Antworten auf die Frage nach „dem Sozialen“ im Wiener Gemeindebau:
Architektonisch sind die meisten Innenhöfe der besuchten Gemeindebauten von den einzelnen Wohnungen aus einsehbar. Kehrseite der ab den 1920er Jahren gefeierten Errungenschaft, Licht, Luft und Sonne in die Wohnungen zu bringen, ist die (ggf. unerwünschte) soziale Kontrolle. Sämtliche Geschehnisse, die sich in den Innenhöfen abspielen, sind von allen Bewohner:innen wahrnehm- und beobachtbar. Kaum im Verborgenen bleibt daher, wenn jemand kommt, jemand geht, wer mit wem spricht oder wann jemand den Müll wegbringt. Viele der Sitzgelegenheiten, die als Gestaltungselement in den meisten Höfen vorkommen – egal, ob sie in den 1920ern, den 1970ern, den 1980ern oder kürzlich erst erbaut wurden –, werden daher nicht oder nur von bestimmten Bewohner:innen genutzt. Denn es braucht, um sich mit oder ohne die Nachbar:innen unter deren Fenstern hinzusetzen, sei es um zu lesen, sich zu entspannen, zu plaudern, zu feiern oder Abendbrot zu essen, entweder viel Vertrauen, Toleranz oder genügend Ignoranz.
Diese latente permanente soziale Kontrollmöglichkeit hat positive Aspekte, bspw. dient sie zur Abschreckung unerwünschter Besucher:innen – viele der Höfe sind deshalb auch frei zugänglich, nur wenige durch Tore abgesperrt – oder zur Überwachung und zum Schutz jüngerer Kinder. Diese werden jedoch ohnehin meistens begleitet durch einen Elternteil, welcher auf der Bank sitzend, vielfach aufs Handy starrend, wartet, bis die Kinder genug haben von den Betätigungsmöglichkeiten im Freien. Diese wiederum bewegen sich in einem engen Spektrum angesichts der immer gleichen Bewegungsförderelemente, wie Schaukeln, Wippgelegenheiten sowie Klettergerüste, die sie nutzen können. Daran vermag auch der ebenfalls stets vorhandene, aber wenig einladende Sandkasten nicht viel zu ändern. Schließlich wird dieser nur selten durch ein Dach vor starker Sonneneinstrahlung oder Regen und praktisch nie vor Tieren geschützt, die ihn als Klo nutzen. Viele dieser „Spielplätze“ haben des Weiteren einen verletzungsvermeidenden, farbigen Bodenbelag und sind durch Zäune eingehegt, damit das kindliche Spiel diese Zone bloß nicht überschreitet bzw. verlässt. Tafeln weisen zusätzlich darauf hin, dass der Spielplatz ausschließlich zum Spielen da sei – jedoch lediglich für bestimmte Altersgruppen und nur innerhalb bestimmter Zeitfenster. Ältere Kinder und Jugendliche finden nur selten einen Ort für sich in den Innenhöfen. Hinzu kommt das große Problem, dass durch die Nutzung der Höfe und Freiräume innerhalb der Siedlungen Lärm entsteht (als Folge der Siedlungsarchitektur), wie für die PAHO-Siedlung beispielhaft dargestellt wurde „Es gibt Höfe mit tollen Spielmöglichkeiten für Kinder, die diese auch gerne nutzen. Diejenigen, die allerdings Ruhe haben wollen, leiden darunter, diese Bauweise ist nicht die Glücklichste, muss man sagen. Es ist wie ein Trichter, deshalb ist es sehr laut.“ (IBA_Wien, 2020, 265).
Jugendeinrichtungen oder Spielkäfige, wie im eingangs erwähnten Ottakringer Hof, gibt es nicht in jedem der besuchten Höfe, sie sind sogar sehr selten. Hingegen empfangen einem in jedem Hof gleich mehrere Schilder, die auf jugendliches Verhalten zielen und gleichsam die vier jugendlichen Todsünden markieren: Du darfst nicht Fußballspielen! Du darfst nicht Radfahren! Du darfst weder Inlineskaten noch Rollbrettfahren, und Du musst ruhig sein!
Nur Hunde erhalten eine ähnliche Aufmerksamkeit, wenn es darum geht, geltende Verhaltensregeln öffentlich kundzutun. Beide Gruppen – Hunde wie Jugendliche – scheint man an die Leine nehmen und ihr störendes Verhalten unterbinden zu müssen. Sinnbildlich für diese Logik steht ein häufig verbreitetes Schild, auf dem ein Junge mit roter Schirmmütze abgebildet ist. Er schiebt sein Fahrrad und schaut schuldbewusst drein. Neben ihm zottelt ein Hund her, welcher nicht minder schulbewusst kuckt. Beide folgen der Richtung, in die ein zweiter Junge mit Ball in der Hand weist. Dieser wirkt so, als ob er den beiden die geltenden Regeln näherbringen wollte. Unterhalb dieses Bildes ist das Symbol der offenen Türe (mit dem Wappen der Stadt Wien) von „Wiener Wohnen“ ersichtlich. Darüber steht in Großbuchstaben geschrieben: „BITTE KEINE HUNDE, BITTE NICHT RADFAHREN“.
In Anbetracht dieser offensichtlichen Jugendfeindlichkeit der Wiener Gemeindebauten werden die für Jugendliche und ihre Entwicklung zentralen sozialräumlichen Konstellationen, wie Nischen (für versteckte Aktivitäten), Ecken (für Treff- und Austauschmöglichkeiten unter Gleichaltrigen) und Bühnen (für die Sichtbarkeit, den Ausdruck und die Darstellungen jugendkultureller Formen), fast gänzlich verunmöglicht. Für sie hält sich „das Soziale“ in der aktuellen Aneignung des sozialen Wohnbaus in engen Grenzen. Vor diesem Hintergrund waren die zwei Jungs eine erfrischende Abwechslung, welche in einem moderneren Hof mit ihren Fahrrädern geschickt durch die Flure der Stiegen kurvten – und dabei die fetten Schilder mit der Aufschrift „Das Fahrradfahren im Stiegenhaus ist strengstens untersagt!!“ einfach ignorierten.
Kontrolliert, überwacht und hoch verriegelt – und sollte das Zusammenleben im Gemeindebau dennoch nicht funktionieren, sollten nachbarschaftliche Streitigkeiten eskalieren, dann hilft „Wohnpartner – Gemeinsam für gute Nachbarschaft“! Mit diesem Resümee wird zumindest auf den Punkt gebracht, wie „das Soziale“ in den besuchten Höfen seitens der Stadt Wien aktuell gedacht und aufrechterhalten wird. Nicht gerecht werden die bisherigen Beschreibungen allerdings der Tatsache, dass es sich „beim Sozialen“ nicht um etwas handelt, was einmal entsteht und über die Zeit hinweg beständig bleibt. Zwar finden sich heute gewisse Schilder, bauliche Elemente oder Grünflächengestaltungselemente flächendeckend in allen besuchten Höfen. Entscheidend ist jedoch zu verstehen, in welchem Kontext und zu welcher Zeit diese Elemente entstanden sind: Bedeutete das Fußballspielverbot in den 1960er Jahren dasselbe wie heute? Entspricht das Lärmverbot der 1970er Jahre noch den mittlerweile gestiegenen Bedürfnissen nach Aufenthalt im öffentlichen Raum? Deshalb müssen alle gefundenen Spuren notwendigerweise im Bourdieuschen Sinne historisch, gesamtgesellschaftlich und sozialräumlich gedeutet werden. Nur so kann das Verständnis der Macht- und Herrschaftsverhältnisse, in die ein Gemeindebau eingewoben ist und die er unweigerlich mit formt, entschlüsselt werden.
Zwar geht es beim sozialen Wohnbau immer erst um die Frage der Leistbarkeit von Wohnraum für Menschen mit begrenzten finanziellen Mitteln und stets benötigt es ein kriteriengeleitetes Vergabesystem mit den entsprechenden langfristigen Subventions-, Beschaffungs- und Unterhaltspolitiken. Doch erst die Klärung der sozialräumlichen Einbettung verleiht einer Nachbarschaft ihre notwendige Richtung: Dient sie dazu, die Soziale Frage zu klären, wie in den 1920er Jahren? Sollen damit auch die inländischen Arbeiter:innen am wirtschaftlichen Aufschwung teilhaben können, wie in den 1960er Jahren? Geht es um ein gelebtes Gegenmodell, wie im Zuge sozialer Bewegungen in den 1970er Jahren angestrebt? Sollen nach der Idee der sozialen Stadt die sozialen Probleme rund um die Integration diverser werdender Bewohner:innen möglichst im lokalen Nahraum gelöst werden, um den Sozialstaat zu entlasten, wie seit den 1990er Jahren? Oder geht es darum, die soziale Nachhaltigkeit als Gegengewicht zur ökologischen Nachhaltigkeit zu betonen?
„Das Soziale“ des sozialen Wohnbaus ist also einerseits in ständiger Bewegung und kontextabhängig, weshalb transparent gemacht werden muss, wer es aus welcher Position, unter welchem Gesichtspunkt und zu welchem Zweck erforschen und ergründen möchte. Anderseits wirken die materialisierten Formen vergangener Vorstellungen „des Sozialen“ auf die Art und Weise, wie „das Soziale“ heute gelebt werden kann. Dieses doppelte sozialräumliche Phänomen hat Auswirkungen auf Soziale Arbeit und ihre Rolle bei der Schaffung und Aufrechterhaltung des sozialen Wohnens.
7. „Das vergangene, materialisierte Soziale“ wirkt auf „das heutige, gelebte Soziale“ ein: Herausforderungen für die Soziale Arbeit
Die konzeptionellen Vergewisserungen zu Beginn des vorliegenden Beitrags zeigten, dass das Verständnis „des Sozialen“ in soziologischen und sozialarbeiterischen Diskussionen (Groenemeyer 2012; Scheu/Autrata 2018) vieldeutig und daher offen für unterschiedliche Interpretationen ist. In der empirischen Studie, insbesondere in den vier genauer untersuchten bzw. zweihundert besuchten Wiener Gemeindebauten (siehe oben), konnte diese doppelte Unschärfe empirisch belegt werden: Soziale Wohnbauten stellen weder in räumlicher noch in sozialer Hinsicht konstante, d. h. einmal festgelegte und über die Zeit stabile, Gebilde dar. Vielmehr wandelt sich das Verständnis „des Sozialen“ wie auch dessen Materialisierung im Laufe der Zeit, genauso wie sich die Aneignung und Nutzung bestehender Materialisierungen durch die Bewohner:innen andauernd verändern. Als gewinnbringend für diese sich modifizierende (Be)Deutung von Raum hat sich die Konzeption der „Re-Figuration von Räumen“ erwiesen (Löw/Knoblauch 2019), in der Raum als „eine zentrale soziale Kategorie betrachtet wird, deren Bestimmung auf sozialer Interaktion, Interdependenz, Prozesshaftigkeit und Relationen basiert“ (Löw/Knoblauch 2021, 27). Im Raum der Gemeindebauten vollzieht sich entsprechend „die Veränderung der Gesellschaft“ (Löw/Knoblauch 2019, 4). In der Konsequenz gilt es, die Bedeutung „des Sozialen“ im sozialen Wohnungsbau also immer wieder neu zu erschließen, und zwar in mehrfacher Hinsicht: Einerseits ist der jeweilige Entstehungskontext, in welchem der spezifische Wohnraum geplant und gebaut wird, genauer in den Blick zu nehmen. Hierzu gehören die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse sowie das, was als „Soziales“ im Gesellschaftlichen diskutiert wird – also die „soziale Frage“ (1920er Jahre), der „sozial[e] Aufschwung und Reform“ (1960er Jahre), die „sozialen Bewegungen“ (1970er Jahre), die „soziale Integration“ (1980er Jahre) oder die „soziale Gerechtigkeit/soziale Nachhaltigkeit“ (2020er Jahre). Anderseits muss jedoch auch der konkrete Ort analysiert werden, wo ein (neuer) sozialer Wohnbau errichtet wird (Löw/Weidenhaus 2017, 476) und dies in ein Verhältnis zum städtischen Gefüge gesetzt werden (Kadi 2019). Von zentraler Bedeutung ist zudem die architektonische Umsetzung (Blau 2014), bei der bspw. die Wohnungen und ihre Ein- bzw. Aufteilungen, die Anordnung(en) der Wohnungen innerhalb eines Gebäudes, deren Zugänglichkeit über Stiegen, das Vorhandensein von infrastrukturellen, gemeinschaftlich nutzbaren Räumlichkeiten (Einrichtungen, Gemeinschaftsräume) bis hin zu dem Gesamtensemble des sozialen Wohnungsbaus, der Einbettung ins konkrete städtische Umfeld (und in die Gesamtstadt) und der besonderen Bedeutung des Hofes betrachtet werden. Zu guter Letzt muss immer auch die Ebene des gelebten Alltags aufgeschlossen werden – was an sozialen Beziehungen und Vergemeinschaftungsprozessen entsteht resp. unterbunden wird (Reinprecht 2019).
Aktuell, dies zeigen die Ergebnisse der explorativen Studie weiter, wirken vielfach Vorstellungen „des Sozialen“ aus vergangenen Zeiten über ein Regelwerk (wie bspw. Hausordnungen, Verbote und Nutzungsideen) fort, was die physisch-materielle Gestaltung der Gemeindebauten beeinflusst, insbesondere in der Anordnung und den Bauten von gemeinschaftlichen Anlagen, wie (Sitz)plätzen, Gemeinschaftsräumen oder Aufenthaltsflächen. Als intendierte und häufig nicht-intendierte Folgen vergangener Handlungen determinieren sie die Handlungsmöglichkeiten gegenwärtiger Bewohner:innen (Weichhart 2016). Gerade für die Altersgruppe jüngerer Kinder (bis ca. 8-jährig) bedeuten diese Artefakte und Spuren der Geschichte (Hard 1989) einen schmalen Korridor an Optionen, meist in Form von Sandkästen und Spielplätzen mit wenigen standardisierten Geräten (Wippe, Rutsche, Klettergerüst). Für Jugendliche erscheint die Allgegenwärtigkeit eines Vierklangs an Verboten einschränkend. Für sie hält sich „das Soziale“ in der aktuellen Aneignung und (Re)Produktion des sozialen Wohnbaus in engen Grenzen. Gemeinwesensarbeitsansätze, genau wie Projekte der Offenen und Herausreichenden Jugendarbeit (Deinet/Krisch 2021), müssten hier ansetzen und diese sozialräumlichen Konstellationen ermöglichen. Nur so können soziale Wohnbauten auch aktuell Gelegenheitsstrukturen für junge Menschen aufrechterhalten und von ihnen dadurch überhaupt als „sozial“ empfunden werden.
Notwendig ist daher für Soziale Arbeit, sich reflexiv-räumlich mit ihrer eigenen Verstricktheit auseinanderzusetzen, wie dies durch Sozialraumarbeit (Kessl/Reutlinger 2022) gefordert wird. Denn Soziale Arbeit ist in gesellschaftliche Ordnungen eingelassen und steht nicht außerhalb. „Soziale Arbeit ist Teil einer Politik des Sozialen im umfassenden Sinne (sozialer Raum der Gesellschaft), und eine der bestimmenden politischen Akteurinnen der wohlfahrtsstaatlichen Regierung des Sozialen im engen Sinne (sozialer Sektor)“ (Kessl 2005, 94). Entsprechend gilt es, das eigene Rollen- und Selbstverständnis beim Thema Wohnen kritisch in den Blick zu nehmen. Angesichts der Wiederkehr der Wohnungsfrage (Beck/Reutlinger 2019) stellen sich außerdem sowohl alte wie auch neue Zugangs- und Ausschlussfragen hinsichtlich Verteilung, sozialer Sicherung – die sich im Wohnen abbilden. Dies bedeutet einerseits, dass die praktischen Hilfen und Unterstützungen im Wohnen auszuloten sind. Das impliziert eine ganzheitliche Sicht auf Wohnen und dessen Bedeutung für einen gelingenden Alltag einzunehmen, mit der man Wohnen im Wandel erkennt und sich gewahr ist, wie viele Handlungsstränge einer individuellen Lebensgestaltung dort (auch lebensphasenspezifisch) zusammenlaufen, die in der je spezifischen Situation systematisch arrangiert sein wollen bzw. müssen. Anderseits heißt das auch, notwendiges politisches Einmischen in puncto Wohnen voranzutreiben: die „‚Randständigkeit‘ der Wohnfrage in Sozialer Arbeit“ (Barloschky/Schreier 2016, 91) zu überwinden. Die Nicht-Beachtung von Wohnproblematiken – vor dem Hintergrund der Aktivierungspolitik – als „(intendierte[r][n]) Effekt des vor- herrschenden [...] entpolitisierten, individualisierend-aktivierenden und affirmativ-reaktiven Selbstverständnisses Sozialer Arbeit“ (ebd.) zu entlarven (vgl. ebd.). Schließlich gilt es, das Wohnen weiter unter einer sozialraumforscherischen Perspektiven zu erforschen: hierfür ist Wohnen als „ein gesellschaftlich konstituiertes und historisch wandelbares Phänomen“ (Meuth 2017, 106) zu sehen. „Damit geraten [...] die Struktur, der Aufbau, (ungleich) verteilte Machtverhältnisse und Wissensbestände, Normen, Routinen, Interaktionen, Materialität sowie Ortsgestaltung im Rahmen der Wohneinrichtungen ins Zentrum der Betrachtung“ (ebd.).
Mit diesen drei Leitgedanken kann Soziale Arbeit antreten, „das Soziale“ im sozialen Wohnen mitzugestalten, auftretende Widersprüchlichkeiten, Spannungen und Konflikte thematisier- und bearbeitbar zu machen mit dem Ziel, für unterschiedliche, insbesondere vulnerable Gruppen wie Kinder erweiterte Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen.
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Fußnoten
[1] Dieser Text basiert auf dem Manuskript zum Referat „Was ist am sozialen Wohnungsbau ‚das Soziale‘? Sozialräumliche Erkundungen“, welches der Autor am 13. Januar 2022 an der FHV Dornbirn hielt. Die Eingangsszene wurde schonmal verwendet für einen englischsprachigen Beitrag in „The Social Dimension of Social Housing“ (Reutlinger 2023 in Güntner et al.).
[2] siehe Begriffsdefinition des Bundesamts für Statistik Schweiz https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bau-wohnungswesen/wohnungen.html
[3] Mit dem Begriff des Wohnungsbaus wird die „Produktion” oder der private und öffentliche Bau von Wohnungen bezeichnet, also Gebäuden und Siedlungen, die zum Wohnen dienen. Während in deutschsprachigen Diskussionen vielfach von Wohnungsbau die Rede ist, etwa im Kontext des sozialen Wohnungsbaus, ist in Österreich und besonders in Wien die Bezeichnung Wohnbau gängig (Oberzauche 2017). Im vorliegenden Text wird immer dann von (sozialem) Wohnbau gesprochen, wenn es sich um die Entstehung, Entwicklung und (heutige) Ausprägung des Wiener Gemeindebaus handelt (vgl. bspw. Blau 2014; Kadi 2018).
[4] Originalzitat: „Social housing: x is social housing if and only if x is a system providing long-term housing to a group of households specified only by their limited financial resources, by means of a distribution system and subsidies“ (Granath Hansson/Lundgren 2019, 162).
[5] In der Schweiz etablierte sich die Absicherung der Wohnraumversorgung sowohl in Form von Wohngeld als auch der staatlichen Förderung gemeinnützigen Wohnbaus, v. a. durch zahlreiche Genossenschaften, als Teil des Sozialversicherungssystems, das gegen wirtschaftliche Folgen von Krankheit, Unfall, Alter usw. schützte.
[6] Das sogenannte Hull House wurde 1889 gegründet und war für viele Jahrzehnte eine der führenden Institutionen der Gemeinwesenarbeit in den USA und think tank für zahlreiche soziale Reforminitiativen (Köngeter/Reutlinger 2023). Der Schwerpunkt der sozialen Settlements lag dabei weniger auf der gemeinsamen Bildung von Arm und Reich, sondern auf sozialen Reformen in allen Handlungsfeldern, die wir heute in der Sozialen Arbeit und der Gemeinwesenarbeit kennen (Müller 1982).
[7] Bei den vier Dimensionen des sogenannt „modernen Wohnens“ nach Hartmut Häußermann und Walter Siebel in ihrer „Soziologie des Wohnens“ (siehe Häußermann/Siebel 1996) handelt es sich erstens um die Trennung von Arbeit und Wohnen. Wohnen ist der Ort der „Nichtarbeit“. Zweitens werden Personen von der sozialen Einheit der Zweigenerationenfamilie ausgegrenzt. Wohnen ist der Ort der Kleinfamilie. Drittens treten Öffentlichkeit und Privatheit auseinander. Wohnen ist der Ort der Intimität. Und viertens werden Wohnorte und -formen voneinander sozialräumlich entmischt. Wohnen ist ein Symbol für die soziale Position, welche sich im städtischen Gefüge niederschlägt.
[8] Auch in der Schweiz ist von einer „Finanzialisierung“ des Wohnungsmarktes (Hochuli 2014) die Rede. Studien des Schweizerischen Bundesamts fu?r Sozialversicherungen (vgl. BSV und BWO 2015; BSV 2016) zeigen, dass insbesondere von Armut betroffenen Personen überdurchschnittlich oft der Verlust von Wohnraum droht und sie unter einer ungenügenden Wohnraumversorgung zu leiden haben.
[9] Zwar ist in der Schweizer Verfassung das Recht auf Wohnen mit dem Artikel 41 aufgenommen: „Bund und Kantone setzen sich in Ergänzung zu persönlicher Verantwortung und privater Initiative dafür ein, dass e) Wohnungssuchende fu?r sich und ihre Familie eine angemessene Wohnung zu tragbaren Bedingungen finden können“ (Schweizerische Eidgenossenschaft 2017, o.S.). Doch wird bei der Frage nach Dienstleistungen im Bereich Wohnen fu?r armutsbetroffene und -gefa?hrdete Menschen konstatiert, dass „(g)enerell dem Thema (...) ‚Wohnen‘ im Sozialwesen noch zu wenig Aufmerksamkeit zu[kommt]“ (BSV und BWO 2015, 65).
[10] Dieses Projekt wurde vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) im Rahmen eines Scientific Exchanges an die TU Wien (Oktober bis Dezember 2021) gefördert. Die Studie hatte zum Ziel, mo?glichst konkret die Art und Weise zu rekonstruieren, wie „das Soziale“ im allta?glichen Handeln von unterschiedlichen Akteur:innengruppen immer wieder neu gelebt wird und damit die Figuration ihre Gestalt erha?lt, reproduziert resp. auch vera?ndert. Erkenntnisleitend war die Frage, wie die im Gemeindebau lebenden Menschen sich den sozialen Wohnraum zu unterschiedlichen Zeiten aneignen, gegebenenfalls auch verändern und weiterentwickeln. Und wie beeinflussen die Gebäude und Wohnräume, als Ausdruck von spezifischen Wertvorstellungen, die Art und Weise, wie die dort lebenden Menschen zusammenleben und ihren Alltag gestalten? Als Datengrundlage sollten vier Siedlungen des Wiener Gemeindebaus dienen, welche den sozialen Wohnbau einer bestimmten zeitlichen Phase repra?sentieren.
[11] Seminar an der TU Wien – Arbeiten von Studierenden George-Washington-Hof (siehe Ammer et al. 2022),
[12] In jeder Siedlung sollte mind. ein Interview mit dem:der Architekt:in, die die Siedlung gebaut oder geplant hat, durchgeführt werden (Interviews Planer:innen). Weiter sollte in jeder Siedlung mind. ein Interview mit den sogenannten „Wohnpartner:innen“ zustande kommen (Interviews Wohnpartner:innen). Ihre Perspektiven sind für das Vorhaben zentral, da sie dem expliziten Auftrag nachgehen, das Zusammenleben in den Siedlungen zu fördern und zu organisieren. Die Wohnpartner:innen dienen ausserdem als Zugang zu den Bewohner:innen der Siedlungen, indem sie die Kontakte vermitteln und bei der Auswahl geeigneter Personen für ein Interview mithelfen. Angestrebt war, mind. zwei Interviews mit Bewohner:innen pro Siedlung durchzuführen. Bei der Auswahl der zu interviewenden Bewohner:innen bestand ein Kriterium darin, dass die Person über einen längeren Zeitraum in der Siedlung gelebt und die Entwicklungen und Veränderungen miterlebt hat, sodass sie über diese Veränderungen Auskunft geben kann. Alle Interviews sollten einem zuvor ausgearbeiteten Leitfaden mit Schlüsselthemen folgen. Sie sollten aufgezeichnet, transkribiert, inhaltsanalytisch ausgewertet und in anonymisierter Form mit in den Analyseprozess eingebunden werden.
[13] Ich habe also versucht, die Gemeindebauten in Wien mit einer sozialen Sichtweise zu untersuchen im Kontext der Pandemie-Situation unter Covid-19, also während des Lockdowns. Ein Lockdown bedeutet nicht, dass die ganze Zeit zu Hause verbracht werden muss, da es immer Ausnahmen gibt. Fahrradfahren ist zum Beispiel eine Ausnahme. So habe ich mir ‘den Gemeindebau’ von Wien mittels Fahrrad erschlossen. Ich habe unterschiedliche Bezirke besucht und bin die Gemeindebauten systematisch abgefahren. Dabei habe ich versucht, soziale Hinweise zu finden, zum Beispiel durch Schilder, Zeitungen oder Sitzmöglichkeiten. Ich habe konsequent nicht mit Menschen gesprochen, da dies während Corona unerwünscht war.
Zitiervorschlag
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