Soziale Arbeit als Nachhaltigkeitsprofession – eine transdisziplinäre Verteidigung
Andreas Thiesen
„Erst, wenn der letzte Baum gerodet,
der letzte Fluss vergiftet,
der letzte Fisch gefangen,
werdet Ihr feststellen,
dass man Geld nicht essen kann“Harald Welzer
1. Einleitung
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, unter den gegebenen Verhältnissen kritische Urteilskraft zu entfalten. Raymond Geuss hat auf die Bedeutung sozialisatorischer Nischen hingewiesen. Ausgerechnet ein katholisches Internat habe ihn gegen den Liberalismus und den Autoritarismus gleichermaßen „immunisiert“ (Geuss 2023). Didier Eribon empfiehlt die Methode der „soziologischen Introspektion“: Seine „Befunde“, so Eribon, „erlangen ihren Sinn, wenn sie mit literarischen und theoretischen Texten in Resonanz treten, die sich mit ähnlichen Problemen befasst haben“ (Eribon 2017: 11). Das erneute Lesen von Büchern kann im Laufe eines Lebens zu überraschenden Einsichten führen, berichtet Vivian Gornick (2022). Diese und weitere Referenzen bilden geeignete Grundlagen für die theoretische Durchdringung gesellschaftlicher Problemstellungen. Eine unkonventionelle Strategie, den reflexiven Blick zu bewahren, bietet dagegen der Autor Marc-Uwe Kling an. Von ihm stammt die Idee, Zitate mit einer abweichenden Urheberschaft zu versehen. Ich habe eingangs versucht, diese Methode anzuwenden, indem ich Harald Welzer eine Erkenntnis in den Mund gelegt habe, die er nie formuliert hat. Wer die berühmte Weissagung der Cree nicht kennt, könnte allerdings annehmen, es handelte sich bei Welzer tatsächlich um den Stichwortgeber. Dass die Täuschung so gut funktioniert, hat vor allem mit der historischen Performance der Nachhaltigkeitsbewegung zu tun: In gleichem Maße wie die indigene Überlieferung nur so lange „authentisch“ sein konnte, bis sie Ökobewegte auf VW-Bussen verbreiteten, trägt die mediale Figur Welzer heute inflationäre Züge. In dem zitierten Aphorismus spiegelt sich zudem der referentielle Orientierungsmaßstab des ökologischen Diskurses wider, der sich durch eine kulturelle Überhöhung lokaler Gemeinschaften, eine moralische Kritik „des Westens“ und die Befürwortung von Suffizienz auszeichnet. Die Soziale Arbeit, so werde ich im Folgenden zeigen, schließt an dieses Denken an, vermittelt über Theoriebildungsprozesse und Nachhaltigkeitspraxen. Sie verschenkt auf diese Weise Potentiale kritischen Denkens und progressiver Interventionen in transformative Räume.
Gegenstand dieses Essays ist die argumentative Begründung einer Sozialen Arbeit als Nachhaltigkeitsprofession. Eine begriffliche Einordnung scheint mir notwendig: Ich verstehe Nachhaltigkeit und Transformation als interdependente Konzepte innerhalb eines Diskurses „um die – konfliktreiche – Verhandlung der Zukunft von offenen und auf Teilhabe ausgerichteten Sozialräumen unter den Bedingungen, die uns ,die Natur‘ unwiderruflich diktiert“ (Thiesen/Persitzky/Schmitt 2024a: 342). Nachhaltigkeit benennt den multiperspektivischen Bewertungsrahmen bzw. die Zielmaxime transformativer Prozesse, wie sie in den 17 Sustainable Development Goals (SDGs), den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen, zum Ausdruck kommt. Die Frage nach Gegenstand, Funktion und Definition Sozialer Arbeit im Nachhaltigkeitszusammenhang lässt differenzierte Rückschlüsse zu. Sowohl die theoretische und methodische Bandbreite der Sozialen Arbeit als auch die in den SDGs ausgedrückte Mehrdimensionalität von Nachhaltigkeit tragen zu dieser Feststellung bei, die wesentliche Herausforderung liegt jedoch an anderer Stelle: Es fehlt der Sozialen Arbeit an einer transdisziplinär verorteten Theorieposition auf dem Gebiet der Nachhaltigkeit, die arbeitsfeldübergreifende Gültigkeit und politische Anschlussfähigkeit beansprucht.
Mit dem vorliegenden Beitrag will ich drei Dinge leisten: Mir geht es, erstens, um die Entwicklung einer kritischen gesellschaftstheoretischen Perspektive auf Nachhaltigkeit. Zweitens möchte ich nachvollziehbar machen, inwieweit eine an Nachhaltigkeitsdiskursen interessierte Soziale Arbeit im Kontext „Stadt“ operieren und eine forschende Rolle einnehmen sollte.[1] Drittens können jene Auseinandersetzungen unter dem Eindruck des Anthropozäns unmöglich allein im theoretischen Raum verhaftet bleiben. Vielmehr erfordert die Implementierung transformativer Stadtkonzepte eine politische Agenda der Sozialen Arbeit, insbesondere der Gemeinwesenarbeit mit ihrem historischen Erfahrungsschatz an flexiblen Raumkonzepten (Thiesen 2023a).
2. Zum Theorie-Transformation-Gap in der Sozialen Arbeit
Bei der Betrachtung des Verhältnisses der theoriebildenden Sozialen Arbeit zum Nachhaltigkeitsdiskurs fallen zwei Dinge ins Gewicht: In der fachdisziplinären Literatur der Sozialen Arbeit werden zum einen theoretische Anschlüsse auffällig verdichtet in den eigenen Professionsdiskursen gesucht, zum anderen entsteht der Eindruck eines notorischen Bezugs auf den Postkolonialismus oder die Menschenrechte als Catch-it-all-Konzepte, ohne dass deutlich würde, inwieweit genau diese Argumentation Transformation impliziert.
Der einschlägige Diskurs zu Nachhaltigkeit findet in der Sozialen Arbeit gewissermaßen auf Nebenschauplätzen statt, wenn darüber gestritten wird, ob nun von einer „ökosozialen“ (Wendt 2010), einer „sozial-ökologischen“ (Schmidt 2021) oder einer „ökologisch-kritischen“ Perspektive auf Soziale Arbeit (Stamm 2021) ausgegangen werden sollte. Der von Tino Pfaff, Barbara Schramkowski und Ronald Lutz (2022) gewählte Buchtitel „Klimakrise, sozialökologischer Kollaps und Klimagerechtigkeit“ ist in diesem Zusammenhang symptomatisch, da er suggeriert, diese vermeintlichen „Spannungsfelder für Soziale Arbeit“ – so der Untertitel des Bandes – würden durch eine mikroterminologische Auseinandersetzung gelöst. Weiter befassen sich Autor:innen in mindestens acht Beiträgen (die Titel verweisen auf diesen Schwerpunkt, das Buch habe ich nur kursorisch untersucht) mit Fragen der (postkolonialen) „Repräsentation“ oder halten pauschal, im Duktus anmaßend und durch für den postkolonialen Diskurs typische Zuschreibung von Ursprünglichkeit Ausschau nach dem „Vermächtnis einer afrikanischen Friedensnobelpreisträgerin für eine transformative Soziale Arbeit“ (ebd.). Diese in der Literatur gesetzten theoretischen Prioritäten bilden keine angemessene Antwort auf die politischen Herausforderungen der Transformation: Übersehen wird offenbar, dass transformative Dynamiken nicht nur Ausdruck ökonomischer und ökologischer Zusammenbrüche, sondern – kulturell betrachtet – strukturelle Begleiterscheinungen der Moderne sind. Weder die Verklärung tribalistischer Gemeinschaften einerseits noch die Hoffnung auf rückläufiges Wirtschaftswachstum andererseits tragen daher den objektiven Bedingungen der Transformation Rechnung.
Wird der theoretische Radius der Sozialen Arbeit überschritten, erfolgt etwa bei Liedholz (2021) ein Verweis auf Niko Paech und dessen Postwachstumsvisionen, die auf Geld- und Zinskritik abheben (ebd.: 99) oder es wird – unter Bezugnahme auf den Postkolonialismus – „eine nicht-imperiale Lebensweise“ empfohlen (ebd.: 101). Argumentative Reflexe wie diese haben in der Sozialen Arbeit Tradition: So bezieht sich die Profession in ihrer (deutschsprachigen) Definition bekanntlich affirmativ auf indigenes Wissen (DBSH 2016).
Insbesondere der folgende Auszug aus einer einschlägigen Fußnote ist von Interesse, da er eine von postkolonialer Kritik geprägte Position ausweist:
„Das in der englischen Definition angeführte indigenous knowledge wird mit Verweis auf die vom IFSW verabschiedeten [sic!] Kommentierung der Definition als international geltende Positionierung aus Gründen der Solidarität beibehalten: ,Mit der vorliegenden Definition wird bekräftigt, dass der Sozialen Arbeit nicht nur spezifische Praxiserfahrungen und westliche Theorien zugrunde liegen, sondern dass sie auch von indigenem Wissen beeinflusst wird. Ein Teil des Kolonialerbes ist, dass allein westliche Theorien und westliches Wissen als wertvoll eingestuft und indigenes Wissen abgewertet, abgetan und von westlichen Theorien und westlichem Wissen unterworfen wurde. Mit der vorliegenden Definition soll dieser Prozess gestoppt und umgekehrt werden, indem anerkannt wird, dass indigene Völker in jeder Region, in jedem Land und in jedem Gebiet ihre eigenen Werte, ihre eigene Art des Verständnisses und ihre eigene Art der Weitergabe ihres Wissens haben und einen unschätzbaren Beitrag zur Wissenschaft geleistet haben. Soziale Arbeit zielt auf eine Überwindung des historischen westlichen Kolonialismus und der westlichen Hegemonie im Bereich der Wissenschaft ab, indem man den indigenen Völkern auf der ganzen Welt zuhört und von ihnen lernt. Auf diese Weise werden die Kenntnisse im Bereich der Sozialen Arbeit von indigenen Völkern mit erarbeitet und beeinflusst und nicht nur im lokalen Umfeld, sondern auch auf internationaler Ebene adäquater angewandt‘“ (ebd., Hervorhebung: AT).
Diese Ausführungen erhalten vor dem Hintergrund des Wiedererstarkens postkolonialer Bewegungen und der aktuellen Pervertierung der „internationalen Solidarität“ gegen den Staat Israel eine diskursive Schlagseite (zum Verhältnis von Postkolonialismus und Antisemitismus vgl. Voigt 2024: 216ff.). Der zivilisationskritische Duktus und die fehlende Reflexion einer folkloristischen Referenz, die auf Kulturrelativismus hinausläuft, unterstützen diese Kritik. Der Wunsch nach Authentizität scheint in der Sozialen Arbeit so verwurzelt wie illusorisch (vgl. Thiesen 2022: 78ff.; 110). An die Botschaft des eingangs erwähnten Aufklebers, die hier durchschimmert, erinnert auch der bewegungspolitische Imperativ Think Global – Act Local. Nicht zufällig können wir daraus ein Denken ableiten, das die historisch-kulturellen Bezüge der indigenen Sage ignoriert und sie stattdessen bruchlos in die Moderne überträgt: In tribalistischen Strukturen nimmt „das Lokale“ natürlich (im Wortsinn) eine andere symbolische Stellung ein als in den grenzenlosen Beschleunigungsregimen, deren Teil wir auch dann sind, wenn wir es gerne überschaubarer hätten. Die Verklärung des Lokalen als anthropologische Schicksalsgemeinschaft wird von ihren Apologet:innen nicht reflektiert. Zudem haben jene „lokalen Ökonomien“, auf die „eine nicht-imperiale Lebensweise“ (Liedholz 2021: 101) auch bei Liedholz hinausläuft (ebd.: 103), zumindest hierzulande eher zu einer Verhärtung von Armutsstrukturen als zu einer Perspektive des emanzipatorischen Aufbruchs geführt (vgl. insbesondere Thiesen 2016). Mir scheint deshalb, der historischen Dynamik des Stadt-Land-Gefälles nicht unähnlich, in der Diskussion um Transformation ein Missverständnis vorzuliegen: Transformation ist nichts, was um uns herum geschieht, was wir als scheinbar anthropologisch konsistente Figuren beobachten, analysieren und bewerten könnten, ohne dass jener in der Geschichte der Menschheit beispiellose soziale Wandel nicht auch in uns selbst zu massiven, vor allem kulturellen Veränderungen führen würde. Die Stadt-Land-Analogie wähle ich nicht zufällig: Die Verklärung des Ländlichen ebenso wie des Städtischen zum Idyllisch-Ländlichen war schon immer vergebens, wie Rolf Linder in der Auseinandersetzung mit dem Künstler und Architekten August Endell zeigt (Lindner 2022: 58f.). In dem im Jahr 1908 erschienenen Aufsatz „Die Schönheit der großen Stadt“ begreift Endell „die ,impressionistische Flüchtigkeit des Sichtbaren‘ – so sein Herausgeber Helge David – als Ausdruck der permanenten Umbildung der Stadt der Gegenwart (…). Damit formuliert er als einer der Ersten das Gesetz der permanenten Bewegung als zu bejahendes Charakteristikum der modernen Stadt“ (ebd.: 58). Die Flüchtigkeit des Urbanen ist, so können wir von Endell lernen, konstitutiv für Gesellschaft, weshalb jede Form von Flucht vor dem Urbanen (und damit der Moderne) einer transzendentalen Sehnsucht gleichkommt. Endell hält dem, so Lindner, „die leidenschaftliche Liebe zum Hier und Heute als einzige Grundlage der Kultur entgegen“ (ebd.: 56). Hier schließt sich der Kreis der objektiven Bedingungen von Transformation als Ausdruck der Moderne.
Was genau spricht vor dem Hintergrund der begrifflichen Selbstbeschäftigung einerseits und des plakativen Bezugs auf falsche Emanzipationsversprechen andererseits für ein transdisziplinäres Theorieverständnis Sozialer Arbeit (zur Begriffsgenese und -abgrenzung von Transdisziplinarität s. Vilsmaier 2021)? Transdisziplinäres Arbeiten setzt zunächst auf die Generierung eines dritten Wissenschaftsverständnisses. Ursächlich hierfür ist zum einen ein gestiegenes Komplexitätsniveau gesellschaftlicher Problemlagen, die sich nicht länger durch (inter)disziplinäre Verfahren erklären bzw. bewältigen lassen, zum anderen (und eng damit verbunden) die Tatsache, dass Disziplinen nicht einmal in sich selbst hinein über Evidenz verfügen (Thiesen 2022: 67). Transdisziplinarität heißt außerdem, die Grenzen zwischen Hochschule und Praxis überwinden zu wollen. Hinter diesem Anspruch kommt die Überzeugung von Wissenschaft und Forschung als gesellschaftlicher Transfer zum Vorschein. Ein politisches Verständnis von transdisziplinärer Sozialer Arbeit führt zum solidarisch-kritischen Schulterschluss mit fortschrittlichen sozialen Bewegungen – also solchen, deren Selbstverständnis sich dadurch auszeichnet, die individuelle Freiheit und die gesellschaftliche Freiheit zusammenzudenken. Die Soziale Arbeit wird – in Anspielung auf Pierre Bourdieu – zur „kollektiven Profession“ (ebd.: 75), indem sie sich zwar als wissenschaftliches Korrektiv der Praxis sozialer Bewegungen versteht, jene im Zweifel aber gegen repressive und reaktionäre Angriffe in Schutz nimmt. Eine solche Interpretation von Transdisziplinarität wird von der Einsicht getragen, dass die Veränderung sozialer Praxis und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen (auch als Resultat von Forschung) politischen Druck benötigt. Inwiefern sich dafür die vielfältigen Bühnen der Stadt eignen, kann vor allem die Stadtforschung zeigen.
3. Nachhaltigkeit als Gegenstand von Stadtforschung
Die rudimentäre Theoretisierung von Transformation in der Sozialen Arbeit gilt auch für den Beitrag der Disziplin zur Stadtforschung (vgl. Thiesen 2016: 138). Stadt nimmt im vorliegenden Zusammenhang historisch eine doppelte Funktion ein: als Problemquelle des Klimawandels und als innovative Ideenschmiede transformativer Gestaltungsprozesse. Der modernen Stadt, so ließe sich sinnieren, ist die Transformation inhärent, „ist doch Moderne allererst gleichbedeutend mit Flüchtigkeit und Vergänglichkeit“ (Lindner 2022: 48). Dieses für Stadt konstitutive Moment der „permanenten Bewegung“, das ich zuvor herausgearbeitet habe, wirft scheinbar ein konträres Licht auf den Nachhaltigkeitsdiskurs, der bewahren, erhalten, beständig sein will. Umgekehrt könnte behauptet werden: Wenn wir eine Zukunft, die über Bedrohungsszenarien hinauszeigt, nicht kennen, ist die nachhaltige Orientierung am Hier und Heute, um zu August Endell zurückzukehren, möglicherweise eine zutiefst vernünftige Einstellung.
Nachhaltigkeitsaspekte beeinflussen die Themensetzung der Stadtentwicklung wie nie zuvor. Bedeutend ist, dass die Neue Leipzig-Charta als europäische Rahmensetzung nationaler Stadtentwicklungspolitiken neben „der grünen Stadt“ auch „die produktive“ und „die gerechte Stadt“ nennt (vgl. Thiesen 2024b). Die Soziale Arbeit kann hier unschätzbare Kompetenzen einbringen, indem sie darauf hinweist, dass in der sozialen Durchlässigkeit der Stadt zugleich der Gradmesser des Erfolgs aller weiteren Transformationsfacetten liegt (Thiesen 2023b).Nachhaltigkeit wird in Städten häufig auf der Lebensstilebene verhandelt, etwa über den Konsum oder eine bestimmte Art, im öffentlichen Raum aufzutreten. Diese Praxis schließt nicht nur weite Teile der Gesellschaft aus, das vage Sprechen über Zukunft gestattet zudem wenige Entscheidungsspielräume. Die Frage nach den politischen Perspektiven der Emanzipation marginalisierter Gruppen muss historisch betrachtet zwangsläufig ungewiss bleiben. Plausibler für die Argumentation der Sozialen Arbeit sollte die Einsicht sein, dass die gesellschaftlichen Voraussetzungen, über Zukunft nachzudenken, nicht losgelöst vom Herkunftsmilieu diskutiert werden können (vgl. Vester et al. 2001). Dass jene, denen die „Produktivität“ abgesprochen wird, in bestimmten Vierteln der Stadt auf lokale Ersatzökonomien verwiesen werden – unter anderem befördert durch reproduktive Konzepte der Gemeinwesenarbeit. Nur in der Reflexion der beschriebenen Ambivalenzen können somit überhaupt erst „zukunftsfähige“ Konzepte von Stadtforschung entstehen.
Die Platzierung konkreter Forschungsfragen würde der Sozialen Arbeit erlauben, ihre Nebenschauplätze zu verlassen, um unmittelbar an Schlüsselthemen der urbanen Transformation anzuknüpfen. Nehmen wir als Beispiel die soziale Dimension des großstädtischen Lichts: Das Licht kann historisch als eine entscheidende technische Voraussetzung von Sozialität in der Großstadt verstanden werden (vgl. Lindner 2022: 34). Der Diskurs um die sozialen Auswirkungen der unter Nachhaltigkeitskriterien gebotenen elektrischen Suffizienz wäre Aufgabe kritischer Transformationsforschung. Was die Schutzansprüche diskriminierter Gruppen im Stadtraum betrifft, mag es sich – frei nach Brecht – als Vorteil erweisen, dass „man die im Dunkeln nicht sieht“, keineswegs jedoch für alle: „Glanz und Sicherheit oder, aus anderer Perspektive, Luxus und Kontrolle – zwischen diesen beiden Polen bewegt sich der Diskurs um elektrisches Licht und die Stadt seit Ende des 19. Jahrhunderts“, gibt Lindner zu bedenken (ebd.: 33). Untersuchungen zu solchen Zukunftsthemen sind meines Erachtens ohne die Soziale Arbeit gar nicht bearbeitbar.
Die transformative Stadt kann nur als sozial gerechte Stadt Bestand haben, um den Bogen zur Neuen Leipzig-Charta zurück zu spannen. Zugleich führt die Installation von Labs und Pop-Up-Stores zur räumlichen Verlagerung gesellschaftlich produzierter Problemlagen wie Armut und Obdachlosigkeit (Thiesen 2024b: 18). Eine Soziale Arbeit, die sich als Nachhaltigkeitsprofession begreift, ist daher in der Stadt dringend als politische Taktgeberin gefordert, um demokratische Partizipationsformate einzufordern. Der für die Bewältigung der Klimakrise elementare Verweis auf auslaufende Zeitkorridore muss ausdifferenziert werden. Neben der ökologischen Zeit braucht es ein komplementäres soziales Zeitverständnis, damit transformative Prozesse auf gesellschaftliche Akzeptanz stoßen können. Der Ruf nach Suffizienz vergrößert hingegen die soziale Distanz gegenüber sozialökonomisch benachteiligten Gruppen (ebd.: 17). Eine Nachhaltigkeitsprofession Soziale Arbeit könnte darauf verweisen, dass die transformative Entwicklung der Städte kaum über Anreize gelingen wird, da viele Menschen nur jene Alltagspraxen der „Notwendigkeit“ (Bourdieu 1982) kennen, in denen sie sozialisiert wurden (Thiesen 2024b: 17). Neben einer kultursensiblen Ansprache benötigen sozialökonomisch benachteiligte Gruppen vor allem öffentlichen Raum und – entgegen der uns bekannten indigenen Empfehlung – selbstverständlich Geld (vgl. Häußermann/Siebel 2007: 117).
4. Soziale Arbeit als transformativer Change Agent
Die zu Anfang dieses Beitrags angebotene Definition von Transformation könnte an dieser Stelle erweitert werden: Transformation würde vor dem Horizont der bisherigen Ausführungen die historisch notwendig gewordene Neubewertung der Voraussetzungen von Wohlstands- und damit auch Armutsproduktion bedeuten. Forschungsaktivitäten müssen daher unter dem Eindruck von Klimawandel, Flucht und sozialer Fragmentierung konzipiert werden, indem untersucht wird, unter welchen Bedingungen soziale Durchlässigkeit, Partizipation und nachhaltige Entwicklung (in der Stadt) hergestellt werden können. Wenn ich von der „transformativen Stadt“ spreche (Thiesen 2016), geht es mir um die Verknüpfung dieser mehrdimensionalen Fragestellungen, in deren Mittelpunkt der soziale Zusammenhalt von Stadtgesellschaften steht. Von ganz besonderer Relevanz für die Soziale Arbeit ist in diesem Zusammenhang die Generierung von Transformationswissen (Thiesen 2023a; 2023b: 331ff.). Das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie gGmbH (2023) verweist in seinem Begriffsverständnis transformativer Forschung neben der Bedeutung von System- und Zielwissen auch auf diese dritte Kategorie. Während Systemwissen die analytische Auseinandersetzung mit „technischen oder ressourcen-orientierten“ Systemen meint, steht Zielwissen für eine partizipative Perspektive auf „Visionen und Leitbilder“ (ebd.). Erst Transformationswissen beschreibt gesellschaftliches und organisationales Lernen. Der urbane Raum bildet ein Anwendungsgebiet erster Ordnung, da sich zuvorderst in den Städten das Gelingen transformativer Lebens- und Organisationsweisen entscheiden wird (WBGU 2016).
Damit sind die Herausforderungen einer nachhaltigen Stadtentwicklung skizziert. Die Soziale Arbeit ist, so sollte deutlich geworden sein, nicht nur ausdrücklich zuständig, sie muss auch zugunsten ihrer eigenen Anschlussfähigkeit den Transformationsdiskurs mitbestimmen. Förderlich ist, dass es sich bei den 17 SDGs fast ausnahmslos um soziale Herausforderungen handelt. Zugleich würde eine punktuelle Referenz auf ausgewählte SDGs deren interdependente Konzeption ignorieren; der Nachhaltigkeitsanspruch Sozialer Arbeit kann beispielsweise nicht allein mit dem historischen Verweis auf Erfahrungen bei der Unterstützung von Armut betroffener Menschen (SDG-Ziel 1) beansprucht werden. Insbesondere die Gemeinwesenarbeit verfügt über „exklusives“ Transformationswissen. Sie ist außerdem gefragt, wenn es darum geht, die drei Komponenten der Neuen Leipzig-Charta – „grün“, „produktiv“, „gerecht“ – in einem Maße zu arrangieren, das die Priorität der „gerechten Stadt“ zum Ausdruck bringt (vgl. Thiesen 2023a).
5. Conclusio
Soziale Arbeit ist eine Nachhaltigkeitsprofession. Die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen verdeutlichen ihre Zuständigkeit in diesem Bereich. Historisch verfügt die Soziale Arbeit über Expertise bei der Entwicklung nachhaltiger Lösungen für soziale Problemlagen, auch wenn sich ihre Wirkung – die nicht unabhängig von Gesellschaft entfaltet werden kann – erst in der Qualität der sozialen Beziehungen zwischen Sozialarbeitenden und ihren Adressat:innen spiegelt (vgl. May 2018: 8; Thiesen 2022: 11). Das mehrdimensionale Nachhaltigkeitsverständnis der Sozialen Arbeit hilft dabei, Nachhaltigkeit nicht auf den Umweltbereich zu verengen. Die Gewährung von Beteiligungsspielräumen steht allerdings immer stärker in Konkurrenz zum objektiven Zeitdiktat des Anthropozäns.
Das Thema Nachhaltigkeit legt Widersprüche offen: Die Forderung nach durchlässigen Quartiersgrenzen mit dem Ziel, im Sinne der Neuen Leipzig-Charta unterschiedliche Zugänge zur gerechten Stadt zu gewährleisten (s. Sennett 2016: 275f.), muss auch für die Offenheit der Außengrenzen der Europäischen Union und sichere Fluchtwege gelten. Der urbane Maßstab hängt, trotz Eigensinn von Quartieren und Städten, mit dem globalen Maßstab zusammen. Bezogen auf die Arbeitsfeldebene, bekommt die Grenzarbeit eine metaphorische Dimension: Gemeinwesenarbeit an den Quartiersgrenzen zu betreiben, kann auch intermediäre Institutionen betreffen, sofern sie von sozialräumlicher Relevanz sind, oder temporäre und digitale Räume. Zudem verfügt Soziale Arbeit über Erfahrungen in milieuspezifischen Grenzregionen, sie ist ausgewiesen im professionellen Umgang mit so genannten Randgruppen (Thiesen 2023c: 61).
Die De-Codierung marginalisierter Gruppen als gesellschaftlich produzierten Ausschluss beginnt mit einer subjektivierenden Auseinandersetzung der sozialen Verstrickung von Sozialarbeitenden (Thiesen 2022); das betrifft auch die Reflexion der eigenen politischen Auffassung oder der Unterstützung spezifischer sozialer Bewegungen. Wenn es zutrifft, dass die Schlüssel zum Verstehen transformativer Dynamiken in den Händen unserer eigenen Selbstreflexivität liegen, erscheint es mir sinnvoll, auch die subjektive Transformationsebene zu thematisieren. Die Problematisierung habitueller Einstellungsmuster zeigt, dass das Subjekt über relativ massive Bollwerke gegen den Zeitgeist verfügt bzw. diese historisch-situativ errichtet. Umso bemerkenswerter erscheinen mir die kreativen Möglichkeiten, die soziale Welt von Sozialarbeitenden zum Gegenstand von Reflexion zu erklären: ein Kerngedanke der Theorie subjektivierender Sozialer Arbeit (ebd.).
Literatur
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Fußnote
[1] Mit dem hier verwendeten Forschungsbegriff verbinde ich einerseits genuin empirische Untersuchungen in der Stadt, andererseits ein grundsätzliches Interesse an urbanen Phänomenen, wie es beispielsweise in psychogeographischen Ansätzen (Lubkowitz 2020) oder der Figur der Flâneuse* zum Ausdruck kommt (vgl. Dündar et al. 2019). Darüber hinaus begreife ich „Forschung“ als transdisziplinär, partizipativ und interventionistisch, was diesen Text hoffentlich auch für jene lesbar macht, die in praktische Transformationsarbeit in der Stadt involviert sind (zur partizipativen Forschung vgl. Götsch/Klinger/Thiesen 2012).
Zitiervorschlag
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