Raum, Territorium und Prozesse im „Gemeinwesen“

Marco Marchioni

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1. Einführung und erste Arbeitshypothesen

Als vor mehr als vierzig Jahren ein Architekt - besser gesagt, ein Stadtplaner - als Professor an der Schule für Sozialarbeit in Rom erschien, verstanden wir als Studenten nicht, was diese Person dort überhaupt zu tun hatte [2]. Erst Jahre später, als ich als Sozialarbeiter in einer Dorfgemeinschaft arbeitete, konnte ich es nachvollziehen. Der Stadtplaner hatte uns ein Grundwissen vermittelt, das es uns ermöglichte zu begreifen, was ein „Gemeinwesen" („comunidad") [3] sein kann, um deren Entwicklung wir uns später kümmern sollten. Er hatte uns gelehrt die Bedeutung des Territoriums nicht nur für das Leben der dort wohnenden Menschen, sondern auch für unsere eigene soziale Arbeit zu verstehen.

Ich habe diese Lektion seither nie wieder vergessen können. Während meiner vielen Jahre in der Praxis und dank meiner breiten Berufserfahrung in Zusammenhang mit Fragen der lokalen Entwicklung, konnte ich immer wieder erfahren, wie wichtig die Kategorie „Raum" in jeder sozialorientierten Handlung ist und wie sehr sich das auf lokale Gemeinschaften, sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene, auswirkt. Im Rahmen dieses Beitrags möchte ich versuchen, diejenigen, meist empirischen Elemente zusammenzufassen, die man bei einer sozialen Aktion in der Sozialen Arbeit beachten sollte.

Der Ursprung dieser Darlegungen liegt weit in der Vergangenheit zurück - sie sind in einem sozialen, politischen und ökonomischen Kontext zu sehen, der sich seither mit den immer schneller werdenden Veränderungen stark gewandelt hat. In diesem Beitrag werden diese frühen Überlegungen auf die aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen bezogen: Es geht dabei um eine Suche nach neuen Möglichkeiten, die sich lokalen Gemeinschaften im Zuge der Globalisierung, oder positiv ausgedrückt, im Zeitalter der Informationstechnologien und der Zunahme des Wissens, eröffnen.

Tatsächlich bestimmte vor fünfzig Jahren die territoriale Lage eines Gemeinwesens sein Schicksal für immer - man muss nur an das Phänomen der Massenmigration denken, die von ärmeren in reichere Gebiete des eigenen Landes oder innerhalb von Europa erfolgte. Diese prädisponierende Wirkung wird in der heutigen Wissensgesellschaft überwunden. Dennoch muss man beachten, dass der mit der gesellschaftlichen Modernisierung verbundene größere Grad an Wahlfreiheit und Unabhängigkeit auf gemeinschaftlicher Ebene nur dann genutzt werden kann, wenn lokale Gemeinwesen in der Lage sind, Projekte zu realisieren, die offen für alle sind und an denen jeder und jede auf solidarische Weise teilnehmen kann. Solche Projekte sind jedoch nur möglich, wenn das „Gemeinwesen" sich darum herum strukturiert. Dabei stoßen wir wieder auf das Territorium (und innerhalb des Territoriums auf kleinere räumliche Einheiten), das für diesen Prozess eine fundamentale Rolle spielt, auch wenn dabei weiterhin zahlreiche Barrieren und Hindernisse überwunden werden müssen. Diese Arbeitshypothese, derzufolge Raum eine zentrale Kategorie für Gemeinwesen und eine unverzichtbare Ressource der Gemeinwesenarbeit darstellt, wird in diesem Beitrag diskutiert.

2. Strukturelle Faktoren, welche lokale Prozesse bedingen

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Es gibt zwei wichtige strukturelle Faktoren, die einen direkten, alltäglichen Einfluss auf lokale soziale Prozesse haben und die im Zusammenhang mit unserem Thema stehen. Es handelt sich um:

Im Zusammenhang mit dem ersten Faktor wollen wir nur kurz anmerken, dass der Boden in einem kapitalistischen System einen Verwendungswert und einen Preis besitzt. Das hat zur Folge, dass Städte - und in gewisser Hinsicht auch Dörfer - sich innerhalb eines Landes in Abhängigkeit des Wertes des Bodens und der Akquisitionsmacht der Bevölkerung organisieren. Das hat lange Zeit dazu geführt - und führt bis heute noch dazu - dass die soziale Stratifikation der Bevölkerung mit der territorialen Stratifikation übereinstimmt. Dies wiederum führt dazu, dass gerade solche Orte, an denen Wohnungen von öffentlichen Institutionen gebaut werden, sich zu peripheren und/oder marginalen Orten entwickeln hinsichtlich ihrer Möglichkeiten des Zugangs zu den Ressourcen einer Stadt.
So kommt es, dass kulturell und ökonomisch ärmere Bevölkerungsschichten eher abseits der Stadt- bzw. Ortsmitte wohnen, über weniger Ressourcen verfügen und in allen Bereichen einen beschränkten Zugang zu anderen Ressourcen haben. Dadurch entstehen ganze Gebiete innerhalb einer Stadt, deren Bewohner mit größeren Hindernissen und Schwierigkeiten rechnen müssen und zwar nicht nur hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Teilhabe unter gleichwertigen Bedingungen, sondern auch bezüglich ihrer sämtlichen Lebensbereiche. Darüber hinaus hat besonders die Unfähigkeit, manchmal sogar die mangelnde Bereitschaft vieler Administrationen hat dazu geführt, dass Gebiete sozialer Exklusion entstehen [6]. Im Zuge dieser Prozesse wurden sozial schwächere Bevölkerungsschichten in „Ghettos" verbannt, aus denen sie - mit Ausnahme einiger weniger Personen - kaum entkommen können. Über viele Jahre hinweg und auch heute noch immer wurde und wird eine Politik der „Konzentration" statt einer Politik der „Dispersion" durchgeführt - und dies aufgrund des Bodenwertes und weil eine Politik der „Dispersion" letzten Endes in sozialer und technischer Hinsicht schwer durchführbar ist (vgl. Marchioni 1997a).

Bezogen auf den zweiten Faktor trägt der progressive und anscheinend unaufhaltsame Abbauprozess des Wohlfahrtsstaates - der in den meisten Fällen aufgrund früher begangener Fehler, die wir hier nicht analysieren können, unvermeidbar ist - zusammen mit Privatisierungsprozessen von Dienst- und Sozialleistungen zu einer weiteren Fragmentierung der Bevölkerung in diesen marginalisierten Zonen bei. Es gibt kein kollektives Problembewusstsein mehr, es gibt keine Notwendigkeit mehr für kollektive Antworten und Lösungen. Die Ursachen sozialer Probleme werden nicht mehr berücksichtig. Es gibt nur noch Personen mit Problemen, für die man ohne Zweifel etwas unternehmen muss. Doch die Ursachen werden weder diskutiert noch beseitigt. Es existieren nicht mehr Bürger und Bürgerinnen (individuell und/oder kollektiv betrachtet), mit denen man arbeitet, um ihre Bürgerrechte zu erreichen oder aufrechtzuerhalten, sondern „Nutzer", „Klienten" oder „Patienten" - dem liegt eine ideologische Vorstellung zugrunde, in der die Armen dafür verantwortlich sind, arm zu sein.

Das alles führt dazu, dass sich Sozialpolitik langsam zu der bereits genannten individuellen und spezifischen Hilfeleistung (asistencialista) entwickelt, wodurch die gesellschaftliche Solidarität schwindet und die Segmentierung der Bevölkerung in den bereits marginalisierten Zonen verstärkt wird.

Dieses Vorgehen dieser auf individuelle Hilfeleistungen fokussierten Sozialpolitik (asistenciales) manifestiert sich deutlich in den drei Hauptsektoren des Sozialstaates: in der obligatorischen Schulausbildung, im Gesundheitswesen und im Bereich der sozialen Dienstleistungen.

Man kann im Bereich der obligatorischen Schulbildung (bis zum 16. Lebensjahr) beobachten, dass staatliche Schulen in peripheren Sektoren unter drei negativen Phänomenen leiden, welche in Zukunft gravierende Konsequenzen haben werden:

Solange „schulische Misserfolge" auf individueller Ebene angesiedelt und dadurch die Ursachen des Problems vernachlässigt werden, wird sich diese Situation in Zukunft verschärfen. Eine der wichtigsten Ziele des Schulsystems, wenn nicht das wichtigste Ziel überhaupt (nämlich zu verhindern, dass soziale Differenzen einer gleichwertigen Teilnahme an der Gesellschaft im Weg stehen), wird in der Praxis nicht umgesetzt. Im Gegenteil, Differenzen werden verstärkt.

Dieses Problem scheint im Gesundheitssektor weniger deutlich zum Vorschein zu kommen. Trotzdem ist es weithin erkennbar: Das Modell eines individuellen Hilfesystems (asistencia) (obwohl es in diesem Fall stark medizinisch ausgerichtet ist) führt dazu, dass ausschließlich individuelle Bedürfnisse behandelt werden, während der Gesundheitsstand der Bevölkerung insgesamt und die Risikofaktoren bei einer Intervention vollkommen unbeachtet bleiben. Mit Hinsicht auf die vorher erwähnten marginalisierten Gebiete gibt es zahlreiche Risikofaktoren und soziale Bedingungen, welche einen großen Teil der Bevölkerung betreffen und die man als absolut „ungesund" bezeichnen kann. Trotzdem werden sie nicht Gegenstand einer Intervention. Dabei braucht man nur an die Einsamkeitserfahrung unter älteren Menschen zu denken, die fehlenden Lifts, die ihnen das Verlassen der Wohnung erschweren, den Mangel an öffentlichen Einrichtungen im Sinne von Infrastruktur (equipamiento colectivo) usw.

Die Ebene des Gemeinwesens bzw. die sich aus der Perspektive des Gemeinwesens ergebenden Problemstellungen finden in sozialen Dienstleistungen keine Beachtung. Soziale Dienstleistungen beschränken sich vielmehr auf eine individuelle Betreuung ihrer „Benutzer" (usuarios). Folgt man dem Prozess der Privatisierung, werden diese Benutzer sich bald zu „Abhängigen" (cliente) entwickeln.

Professionelle Akteure der sozialstaatlichen Institutionen verschanzen sich mehr und mehr in ihren Arbeitszimmern und Praxen und verlassen Straßen und städtische Quartiere - auch wenn eine große Mehrheit dieser Akteure weiterhin potentiell vor Ort verfügbar ist. Dadurch werden Kenntnisse über Räume außerhalb der eigenen Praxis überflüssig. Sie verlieren ihre Bedeutung, da sie nicht mehr gebraucht werden, weil es ja eigentlich darum geht, „einzelne Fälle zu lösen".

Unter diesen Bedingungen und aus dieser Sicht fällt es nicht schwer vorauszusagen, dass diese städtischen Räumen weiter destabilisiert und marginalisiert werden. Die pathologischen Situationen werden sich zunehmend verschärfen und es wird nicht mehr möglich sein, die entstehenden sozialen Konsequenzen innerhalb dieser städtischen Quartiere aufzuhalten.

3. Möglichkeiten von „Planes Comunitarios" (Gemeinwesenarbeit) in Spanien angesichts sozialer Fragmentierungsprozesse

Seit mehr als zehn Jahren werden in Spanien in mittlerweile über 30 Projekten Erfahrungen mit so genannten „Planes Comunitarios" gemacht (vgl. Marchioni 1979, 1987, 1992, 1994, 2001). Unter „Planes Comunitarios" verstehen wir mittel- und langfristige Prozesse der Verbesserung der Lebensbedingungen [7] einer bestimmten Region [8]. Im „Gemeinwesen" (la „comunidad") wird eine soziale Intervention (im Sinne eines lokalen Entwicklungsprozesses) durch die Initiative einer der drei Protagonisten ergriffen: Bevölkerung, lokale Verwaltung und AkteurInnen sozialstaatlicher Institutionen (PraktikerInnen). Jedoch wird von vornherein darauf geachtet, den Prozess bzw. die Intervention nur auf das jeweilige Gemeinwesen zu begrenzen. Die Erfahrungen der Projekte zeigen, dass sie durch geographische Nähe, durch die Ausweitung der Inhalte oder durch die Protagonisten selbst auch auf angrenzende Regionen expandieren. Daraus folgt:

Der Prozess ist charakterisiert durch Wechselwirkungen zwischen den drei Protagonisten und zwischen den Mitgliedern innerhalb jedes einzelnen Protagonisten, da keiner von ihnen eine homogene, sondern eine heterogene und komplexe Realität darstellt. Jede gemeinsame Aktion wird durch diese Unterschiede und Gegensätze bestimmt. Dies gilt auch für die Beteiligung der Bevölkerung, gleichsam als Element jeglichen sozialen Wandels.
Im Gegensatz zu der „alten" Gemeinwesenarbeit beschränken sich die „Planes Comunitarios" nicht auf traditionell marginale und marginalisierte Gemeinwesen, vielmehr wird in unterschiedlichsten Regionen und mit allen sozialen Gruppen gearbeitet. Deshalb müssen die spezifischen Bedingungen und jeweiligen Charakteristika der einzelnen Region in Betracht gezogen werden. Der jeweilige Kontext hat den größten Einfluss auf den Prozess. Er ist dessen Ausgangs- und Entwicklungspunkt. Dies bedeutet für die Planung des Prozesses, dass man nicht von dem bestehenden Kontext absehen kann. Heute sind es vor allem folgende Faktoren, die den gemeinschaftlichen Prozess direkt beeinflussen:

In diesem Rahmen handeln die „Planes Comunitarios" und wir können - trotz der objektiv extrem schwierigen Situation - eine Reihe von Entwicklungen sehen, die wir insgesamt als positiv bewerten und die unsere Arbeitshypothese unterstützen. Wir können sie im Folgenden zusammenfassen:

4. Gemeinschaftliche Räume und Prozesse am Beispiel Spaniens

Eine jahrelange Erfahrung mit den „Planes Comunitarios" in verschiedenen Situationen auf dem gesamten Gebiet des spanischen Festlandes, der Kanarischen Inseln und den Balearen erlaubt uns, eine Reihe von Elementen herauszufiltern, die uns wichtig erscheinen. Zusammenfassend beziehen wir uns dabei auf folgende Elemente:

Barrieren: Generell kann man behaupten, dass physische Barrieren auch soziale, kulturelle, ökonomische und sogar psychologische Barrieren erzeugen. Viele der Territorien, von denen wir sprachen, befinden sich schon bei ihrem Entstehen von Barrieren umgeben, wie zum Beispiel Autobahnen, Straßen, Brücken, Flüssen, großen unbewohnten oder verlassenen, unbebauten Flächen usw. Das alles trägt dazu bei, dass Menschen persönliche Einschränkungen erleben, da ihnen durch diese Barrieren Zugänge zu städtischen Räumen versperrt werden. Aber auch innerhalb dieser Gebiete können weitere physische Barrieren beobachtet werden. So existieren Beispiele, in denen es weiter entfernte oder ärmere Zonen innerhalb dieser Gebiete gibt, in denen der sozial schwächere Teil der Bevölkerung lebt. Dementsprechend kommt es oft vor, dass man Ghettos innerhalb von Ghettos findet, mit den bekannten Mechanismen auf die sozialen Beziehungen der Bewohnerinnen und Bewohner. Gemeinschaftsprozesse müssen diese Barrieren überwinden, sollen Menschen in diesen benachteiligten Quartieren durch die Projekte nicht weiter ausgegrenzt werden.

Orte der Begegnung: Ein gemeinschaftsorientierter Prozess begünstigt und schafft Orte der Begegnung zwischen den Personen eines „Gemeinwesens". Sie sind Grundlage für jede Veränderung oder Verbesserung, weil Begegnung und Kontakt zu gemeinschaftlicher Teilhabe führen. Wer hier eine Aktion durchführen möchte, muss von den bestehenden Treffpunkten ausgehen, die sich die Menschen selbst im Laufe der Zeit geschaffen haben. In diesem Sinne können wir an folgende Orte der Begegnung denken:

Einrichtungen: Entsprechend all dem, was bisher diskutiert wurde, können wir feststellen, dass die Orte der Einrichtungen selten mit den von der Bevölkerung konstitutierten gemeinschaftlichen Räumen übereinstimmen. Weiterhin kann man feststellen, dass diese Einrichtungen von staatlichen oder privaten Institutionen verwaltet werden, welche die Nutzung dieser Räume, in Übereinstimmung mit eigenen Funktionskriterien, auf ihre administrativen und bürokratischen Öffnungszeiten beschränken.
Weitere öffentliche Einrichtungen, wie Kultur- oder Jugendzentren, sind schon so weit institutionalisiert worden (d. h. sie sind weitgehend bürokratisiert worden), dass sie keine Treffpunkte mehr sind, sondern nur Orte, die man besucht, um bestimmte Ressourcen zu nutzen oder an konkreten Veranstaltungen teilzunehmen.
Streng gesehen, müssen wir in diesen Bereich ebenfalls Bürger- und soziale Zentren mit einbeziehen, welche seit der Wiedereinführung der Demokratie in Spanien nach 1975 von vielen Kommunen aufgebaut wurden. Leider sind die politischen Verantwortlichen bis heute noch zuständig für die Administration dieser Einrichtungen. Sie haben es nicht geschafft, eine wirkliche Partizipation anzuregen. Diese Tatsache kann teilweise auf die Art und Weise der Verwaltung zurückgeführt werden, die jegliche Form der aktiven Partizipation von Bürgern ausschließt. Andererseits hat es auch damit zu tun, dass subventionierte assoziative Bewegungen aufgegeben haben, von der kommunalen Politik und Verwaltung mehr Teilnahmemöglichkeiten einzufordern. Tatsächlich kann man feststellen, dass die Regelungen hinsichtlich bürgerlicher Partizipation, die während der 80er Jahre mehr oder weniger von allen großen und mittleren Stadträten angenommen wurden, in der Praxis lahm liegen und dass weder lokale Regierungen noch soziale Bewegungen ihre Aktualisierung fordern.

Vereinsbüros: Während der 1980er Jahre waren wir Zeugen der Entstehung zahlreicher Vereine verschiedenster Art. In der Praxis existieren die meisten dieser Vereine nicht mehr, obwohl sie weiterhin registriert und als solche identifiziert werden. Viele dieser Vereine wurden mit dem Ziel geschaffen, besondere Interessen kleiner Gruppen von Menschen zu vertreten, und sie haben dank lokaler Subventionen überlebt. Man könnte sogar sagen, dass viele dieser Vereine erst ins Leben gerufen wurden, weil es dafür eine Subvention gab. Doch in Wirklichkeit waren diese Vereine nie so richtig aktiv und sind es bis heute nicht. Die Einrichtungen dieser Vereine sind die meiste Zeit geschlossen. Sie stellen keine gemeinschaftlichen Begegnungspunkte dar. Es treffen sich hier nur diejenigen Personen, die direkt interessiert oder in der Verwaltung des Vereins engagiert sind.
Nachbarinitiativen oder -vereine müssen dabei differenziert betrachtet werden. Sie haben während der letzten Jahre des Franco-Regimes und der ersten Jahre der Demokratie eine wichtige Rolle hinsichtlich der benachteiligten Gebiete - insbesondere bezüglich peripher gelegener - gespielt, und zwar aufgrund folgender Eigenschaften:

Während der letzten Jahre kann man beobachten, dass die Gesellschaft sich immer weiter ausdifferenziert; gemeinsame Interessen werden durch partikuläre Interessen ersetzt. Bei den nachbarschaftlichen Organisationen hat es auch keinen Generationen- oder kulturellen Wandel gegeben. Mit einigen wenigen Ausnahmen kann man behaupten, dass nachbarschaftliche Assoziationen heutzutage dank der Anerkennung von Seiten der Kommunalparlamente, der Subventionen, die sie erhalten und dank der Verantwortung, die sie über gelegentliche soziale Aktivitäten übernehmen, überleben. Doch aus meiner Sicht spielen sie im Gemeinschaftsleben und allgemein keine wichtige Rolle mehr. Deshalb werden ihre Einrichtungen mit einigen wenigen Ausnahmen meistens nur von kleinen Mitgliedsgruppen benutzt. Andere Personen nehmen nur gelegentlich an den angebotenen Aktivitäten teil: Kurse, Vorträge, usw. Doch sie nehmen nicht am eigentlichen Vereinsleben teil.

Ebenfalls differenziert betrachtet werden muss die Nutzung der staatlichen Schulgebäude. Man ist zunehmend der Meinung, dass diese Schuleinrichtungen besser genutzt werden könnten, da sie meistens über Sportanlagen und weitere Infrastruktur verfügen. Die Idee ist, diese Räume für die gesamte lokale Gemeinschaft und über den normalen Schulstundenplan hinaus zu öffnen. In diesem Sinne gibt es eine sehr interessante Erfahrung auf den Kanarischen Inseln mit einem Projekt, das sich „El Patio" (der [Schul-]Hof) nennt: Dieses Projekt versucht, Schuleinrichtungen in gemeinschaftliche Einrichtungen umzuwandeln, um dadurch neue Beziehungen zwischen Schule und Gesellschaft entstehen zu lassen. Wir glauben, dass dieser Ansatz sinnvoll ist und sich auf weitere Orte und öffentliche Räume verbreiten wird, die bisher nicht genug beachtet werden und „mit dem Rücken zur Gemeinschaft gewendet" handeln (vgl. den Beitrag von Arbeitsgruppe El Patio/Antonio Santana Miranda i.d.B.).

Ein weiterer Raum, der zur Zeit in zahlreichen Gemeinschaften etabliert wird und sich langsam zu einem Treffpunkt eigner Art - vor allem für Jugendliche - entwickelt, sind „Informatik Zentren". Sie sind mit Computern ausgestattet und ermöglichen den Zugang zum Internet. Mit Hilfe diverser staatlicher und privater Mittel werden diese Zentren in peripheren Territorien eröffnet werden, um den mangelnden Zugang vieler Familien zu diesen Medien auszugleichen. Diese Zentren können als Lern- und Vergnügungsstätten funktionieren, sie können sich zu wahren Orten der Begegnung, Organisation und Handlung entwickeln, die zwar von der Informatik ausgehen, sich aber dann zu Motoren der lokalen Entwicklung und Partizipation weiterentwickeln. Das ist zum Beispiel der Fall im Programm „Puntos Omnia", das in verschiedenen benachteiligten Stadtteilen in Katalonien durchgeführt wird.

Ich glaube, man kann zu dem Schluss kommen, dass die gegenwärtige soziale Organisation benachteiligter Quartiere und Regionen dazu beiträgt, soziale Fragmentierung, deren Ursprung in unserem sozialen, politischen und wirtschaftlichen System zu finden ist, weiter voranzutreiben. Es ist dringend notwendig, diese lokalen gemeinschaftlichen Lebensräume zu verändern. Das ist wiederum nur möglich, indem man von der Komplexität und Gesamtheit dieser lokalen Lebensräume ausgeht und dadurch gemeinschaftliche Entwicklungsprozesse in Gang bringt, welche langfristig eine direkte Partizipation der Bevölkerung ermöglichen und unterstützen. Man muss neue gemeinschaftliche Räume schaffen. Angesichts der existierenden sozialen Fragmentierung und der Haltung „es rette sich, wer kann" ist es wichtig, eine soziale Einheit der lokalen Gemeinschaften zu rekonstruieren. Es ist außerdem notwendig, für alle offene und solidarische Projekte und Begegnungsstätten zu schaffen.

5. Methodische Elemente der gemeinwesenorientierten und sozialen Intervention in Spanien

Aus der Erfahrung der „Planes Comunitarios" lassen sich verschiedene methodische Elemente der gemeinwesenorientierten und sozialen Intervention ableiten. Sie sollen an dieser Stelle zumindest aufgezählt werden:

An diesem Prozess können unserer Meinung nach bestehende soziale Netzwerke - auf anderen Ebenen und außerhalb dieser benachteiligten Gebiete - mitwirken, indem sie wichtige konkrete Beiträge leisten, damit die lokalen Gemeinwesen ihr eigenes Projekt der Verbesserung der Lebensbedingungen vorantreiben können. Trotzdem denken wir, dass diese Netzwerke nie die direkte Beteiligung der Bürger eines Territoriums ersetzen können. Die „Partizipation" (die neu, von Grund auf offen und demokratisch ist) stellt für uns die Alternative zum vorherrschenden Modell der Gesellschaft dar, wie man sie uns als einzig mögliche präsentieren will. Diese Arbeit in Gemeinwesen in benachteiligten Gebieten erscheint uns ein Beitrag zu sein, diese Alternativen aufzubauen.

Literatur

Marchioni, Marco (1969): Comunidad y desarrollo. Barcelona: Editorial Nova Terra.
Marchioni, Marco (1987): Reflexiones en torno a la metodología de intervención social. Separata de la Revista Documentación Social, nº 69. Octubre-Diciembre, Madrid.
Marchioni, Marco (1989): Planificación social y organización de la Comunidad. Madrid: Editorial Popular.
Marchioni, Marco (1992): La Audición. Tenerife: Editorial Bechomo.
Marchioni, Marco (1994): La utopía posible. La intervención comunitaria en las nuevas condiciones sociales. Tenerife: Editorial Bechomo.
Marchioni, Marco (1996): Reflexiones y propuestas para un programa de desarrollo social y comunitario en Trinitat Nova. Barcelona (inédito).
Marchioni, Marco (1997a): De política. El abecé de la democracia. Tenerife: Editorial Bechomo.
Marchioni, Marco (1997b): Plan Comunitario de Carabanchel Alto de Madrid. Carabanchel Alto: Una Hipótesis de trabajo comunitario. Madrid (inédito).
Marchioni, Marco (1997c): Diagnóstico comunitario de la Trinitat Nova. Barcelona (inédito).
Marchioni, Marco (1998a): Deconcentración, decentralización y participación en San Adrián del Besós. Una propuesta para el Reglamento de Participación ciudadana. Multicopiado. San Adrián del Besós.
Marchioni, Marco (1998b): Programa Comuniario para la infacia y la juventud en Carabanchel Alto. Propuesta de discusión. Madrid (inédito).
Marchioni, Marco (1999): Comunidad, Participación y Desarrollo. Teoría y metodología de la intervención comunitaria. Madrid: Editorial Popular.
Marchioni, Marco (Hrsg.) (2001): Comunidad y cambio social. Theoría y praxis de la acción comunitaria. Madrid: Editorial Popular.
Marchioni, Marco (2004): La acción social en y con la comunidad. ZaragozaEditorial Libros Certeza.
Morin, Edgar (2004): Introducción al pensamiento complejo. Mexico.
Reutlinger, Christian (2001): Sociedad laboral sin trabajo, juventud y territorios invisibles - un análisis socio-geográfico de la situación actual de la juventud en España. In: Marchioni, Marco (Hrsg.): Comunidad y cambio social. Theoría y praxis de la acción comunitaria. Madrid, S. 227-246.


Fussnoten

[1] Übersetzung: Aiga von Hippel, Kerstin Hein und Christian Reutlinger.

[2] Marco Marchioni wurde 1937 in Bologna (Italien) geboren. Er studierte in Rom Sozialarbeit und arbeitete Anfang der 1960er Jahre in Entwicklungsprojekten auf Sizilien. Während der Franco-Diktatur leitete er das erste Projekt der ländlichen Gemeinwesenentwicklung in Spanien in Velez-Málaga (1965-1967). Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung schrieb er das Buch „Comunidad y Desarrollo" (1969), auf dem die gegenwärtige spanische Gemeinwesenarbeit aufbaut. Er gilt als Pionier der spanischen Gemeinwesenarbeit.
Marco Marchioni war und ist als Dozent tätig, unter anderem in Weiterbildungsseminaren und Kursen für Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in Barcelona, Madrid, Bilbao, San Sebastián und in anderen spanischen Städten oder als Gastprofessor im Rahmen von Masterstudiengängen an den Universitäten von Rom, Génova, Barcelona, Coruña, Málaga, Santiago, Valencia, und anderen. Seit 1985 lebt Marco Marchioni erneut in Spanien. Seit Mitte der 1990er Jahre ist er auch in Argentinien als Sozialforscher und freier Berater von „Planes Comunitarios" tätig. Siehe genauer www.institutomm.org - Anm. der Hrsg.

[3] Der spanische Begriff „Comunidad" wird hier mit „Gemeinwesen" übersetzt, mit der Gefahr zu nahe an der deutschen Tradition der Gemeinwesenarbeit zu sein. Eine genaue Abgrenzung der spezifischen Entwicklung von „Trabajo Social Comunitario" (vgl. Marchioni 1969, 1989, 1999, 2004) und „Gemeinwesenarbeit" existiert bisher nicht. Eine Übersetzung von „Comunidad" als „Gemeinschaft", „Gemeinde" oder gar „Kommune" für „Comunidad" würde die Assoziationen bzw. Bedeutungen in eine falsche Richtung lenken, deshalb wird hier der Begriff „Gemeinwesen" bevorzugt - Anm. der Hrsg.

[4] Die empirische Basis dieser Darstellung stellen konkrete Erfahrungen in den Projekten in Spanien dar (vgl. Marchioni 1992, 1996, 1997b, 1997c, 1998 a, 1998b).

[5] Dieser Begriff bezieht sich auf Sozialpolitik als individuelle Hilfeleistung, wobei Abhängigkeit statt Selbständigkeit gegenüber dem System gefördert wird.

[6] Vgl. den Beitrag von Antonio Higueras Arnal/María Carmen Faus Pujol i.d.B.

[7] Das allgemeine Konzept der „Verbesserung der Lebensbedingungen" setzt sich aus verschiedenen Teilkonzepten zusammen, die hier nur kurz erwähnt werden können: „Nachhaltigkeit", „Solidarität", „Chancengleichheit", „Fehlen jeglicher Diskriminierung", „partizipative Demokratie", „Kampf gegen die Entfremdung", „individuelle und kollektive Partizipation" sowie „Einbeziehung der drei Protagonisten: jeder in seiner Rolle und seiner korrekten Beziehung zu den anderen".

[8] Spanien gliedert sich in mehrere Autonome Regionen. Wird im Text von „Region" gesprochen, meint dies nicht die Autonomen Regionen, sondern bestimmte Gebiete innerhalb einer bestimmten Gegend.

Der vorliegende Text ist 2007 im Sammelband Christian Reutlinger, Wolfgang Mack, Franziska Wächter, Susanne Lang (Hrsg.): „Jugend und Jugendpolitik in benachteiligten Stadtteilen in Europa" beim VS-Verlag für Sozialwissenschaften Wiesbaden (Seiten 224-236) unter dem gleichnamigen Titel erschienen.


Zitiervorschlag

Marchioni, Marco (2010): Raum, Territorium und Prozesse im „Gemeinwesen“. In: sozialraum.de (2) Ausgabe 2/2010. URL: https://www.sozialraum.de/raum-territorium-und-prozesse-im-gemeinwesen.php, Datum des Zugriffs: 21.12.2024