Begrenzter Wille?
Felix Manuel Nuss
Zu den ethischen Grenzen des Willensprinzips im Fachkonzept Sozialraumorientierung
1. Einleitung
Das in den 1990er Jahren als Weiterentwicklung der Stadtteilbezogenen Sozialarbeit etablierte Fachkonzept Sozialraumorientierung (SRO) befindet sich in Bewegung. Die Möglichkeiten und Grenzen der Übertragbarkeit auf unterschiedliche Handlungsfelder der Sozialen Arbeit werden von Vertreter_innen aus Disziplin und aus Profession kritisch geprüft (vgl. Fürst/Hinte 2020). In jüngster Zeit wird zudem diskutiert, „weshalb aus diesem Fachkonzept sich immer mehr eine Theorie Sozialer Arbeit abzuzeichnen scheint“ (Bestmann 2020: 273). Die generell offene und entwicklungsfähige Betrachtungsweise auf die Kernprinzipien der SRO erlaubt es, die theoretischen Grundlegungen weiterzuentwickeln und bestehende Kritik am Fachkonzept als gewinnbringenden Diskurs zu betrachten. Einer der zentralen Akteur_innen des Fachkonzepts, Wolfgang Hinte, formuliert, dass das „Gebäude ‚Sozialraumorientierung‘ dauerhaft renoviert“ (Hinte 2006: 9) wird, denn um den
„Kern des Konzepts herum werden ständig Anpassungen an aktuelle Entwicklungen vorgenommen, Stilwechsel und Darstellungsvarianten bis hin zum Austausch von unzeitgemäßen Vokabeln“ (ebd.).
Im Brennpunkt zuweilen offensiv formulierter Kritik – exemplarisch: „[o]ffensichtlich liegt ein relativ naives Willensverständnis vor, dass mehr Risiken als Chancen bietet (…)“ (Röh 2019) –, und damit unter dem Zugzwang der fachlichen Weiterentwicklung, steht das erste und leitende Prinzip des Fachkonzepts, die Orientierung am Willen der Adressat_innen.
Auf die Argumente von Kritiker_innen, die bemüht waren, den Grundzügen willensorientierter Arbeit einen emanzipatorischen Charakter abzusprechen (vgl. Landhäußer 2009; Oelkers/Schrödter 2010; Kessl 2011; Kessl/Reutlinger 2011, Kessl/Reutlinger 2015; May 2017; Röh 2019) wurde mithilfe einer „Renovierung“ des erkenntnistheoretischen Fundaments reagiert. [1] Hierzu wurde der philosophisch-anthropologische Ansatz der kompatibilistischen Willensfreiheit in die Grundlegungen aufgenommen (vgl. Nuss 2017; 2021).
Daneben fordern die kritischen Auseinandersetzungen mit dem sozialraumorientierten Willensansatz dazu heraus, fachliche Ausführungen über die ethischen Grenzen willensorientierter Arbeit zu formulieren: Ist das Fachkonzept SRO und mit ihm die Willensorientierung nur in Arbeitsfeldern implementierbar, in denen davon ausgegangen werden kann, dass Personen ihre eigenen Interessen „sauber“ und „gesellschaftskonform“ vertreten können? Ab wann muss auch im Sinne einer willensorientierten Grundhaltung davon gesprochen werden, dass sozialarbeiterisches Handeln ein Handeln für das Gegenüber sein sollte? Gibt es Modelle, die eine Orientierung bieten, wann Entscheidungen für das Leben einer anderen Person zu legitimieren sind? Welche Grenzen finden im sozialen Miteinander bei devianten oder gar delinquenten Willen Geltung?
Im Folgenden werden ethische Orientierungspunkte für Grenzen willensorientierter Arbeit diskutiert, die als erster Rahmen für den weiteren Diskurs dienen sollen, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit und Abgeschlossenheit zu erfüllen. Dabei werden zwei Ebenen geöffnet: die „individuelle-ethische“ als Kontext des Möglichen und die „gesellschaftlich-ethische“ als Kontext des Erlaubten. [2]
2. Zwei unterschiedliche Dimensionen der Grenzen willensorientierter Arbeit
Willensorientiertes Arbeiten, wie es im Fachkonzept Sozialraumorientierung beschrieben ist, steht in der Tradition der „Non-direktiven Pädagogik“ (Hinte 1990). Es geht in der professionellen sozialraumorientierten Haltung darum, den Willen zum primären Ansatz der Arbeit zu machen. Es soll möglichst vermieden werden, stellvertretende Lösungen für jemanden zu entwickeln, und stattdessen gemeinsam mit dem Gegenüber tätig zu sein. Es geht um die Schaffung von zirkulären Kommunikationssituationen auf Augenhöhe, in der die Sichtweisen und Motivationen – der Willen – für eine Veränderung der Lebenssituation gestärkt wird. Eine Arbeit, in der der Wille als Ausgangspunkt genommen wird, ist voraussetzungsvoll und als Gegenentwurf zu deduktiv-disziplinär orientierten und linearen Konzepten zu verstehen, die in der praktischen Ausübung für die pädagogische Fachkraft sicherlich als weniger herausfordernd anzusehen sind. Im Willensprinzip steckt das Zutrauen, dass ein Mensch seinen_ihren eigenen Willen bilden, diesen formulieren und seine_ihre sich daraus ergebenen Ziele für sein_ihr Leben praktisch realisieren kann. Anders ausgedrückt: In dem Prinzip der Willensorientierung steckt das Vertrauen auf Reflexions- und Handlungsfähigkeit (ausführlich zum Willensbegriff, siehe Nuss 2021a).
Zugleich ist jedes Zutrauen auch immer eine Zumutung. Willensorientierte Soziale Arbeit setzt einen fähigkeitsbasierten Willensbegriff voraus und bedeutet, dass Adressat_innen anstehende Mühen und neue Herausforderungen des eigenen Lebens selbst in die Hand nehmen. Willensorientierung mutet somit Eigenständigkeit zu und adressiert die Selbsthilfekräfte des_der Adressat_in. Es wird tunlichst versucht, bevormundende und Abhängigkeit schaffende Hilfe im Deckmantel des Paternalismus dort zu vermeiden, wo es möglich ist. Diese Art der Sozialen Arbeit ist somit ein Handeln mit und kein Handeln für die Menschen mit dem Ziel, sie schnell von ihrem_ihrer Sozialarbeiter_in unabhängig zu machen: „Eine gute Hilfe ist die, die unabhängig von der Hilfe macht.“ (Hinte 2014)
Aber was passiert, wenn Menschen nicht oder noch nicht in der Lage sind, sich zu äußern, sie ihren Willen nicht klar ausdrücken können, sie keine Unabhängigkeit anstreben und ein Zutrauen auf Eigenständigkeit somit zur Zumutung wird? [3] Ist ein willensorientiertes Prinzip dann ungeeignet? Gemeinhin trifft das auf Personen zu, die aufgrund krankheits- oder altersbedingter mentaler Einschränkungen oder aus „mangelnder kognitiver Reife“ (Brumlik 2017: 126), also etwa bei Kindern oder nicht geschäftsfähigen Erwachsenen, kein eigenständiges Urteil treffen können oder gelernt haben, dass andere (meist die Eltern, Erziehungsberechtigten und/ oder die Sozialprofessionellen) es ohnehin „besser wissen“. Die Ebene der subjektiven Fähigkeiten der „inneren Freiheit“ (Nuss 2017: 64ff.) und mit ihr die Frage nach der Notwendigkeit bzw. Legitimation von pädagogischen Eingriffen wird hier fokussiert, was folgend als individuell-ethische Dimension beschrieben wird.
Neben dem individuell-ethischen Diskurs um Grenzen sozialarbeiterischer Willensorientierung gibt es eine weitere Ebene, die auf Grenzen in Bezug auf die gesellschaftlichen Ordnung – „äußere Freiheit“ (ebd.: 68) abzielt: Die Frage nach Grenzen der Willensorientierung scheint auch dort angebracht, wo der Adressat_innenwille ethische und rechtliche Gesellschaftsordnungen konterkariert, was folgend als gesellschaftlich-ethische Dimension beschrieben wird. Was passiert, wenn durch den Willen meiner Gegenüber die Freiheit anderer bedroht ist, Gesetze überschritten oder ethische Selbstverständlichkeiten missachtet werden?
3. Der Kontext des (Un-)Möglichen: Die individuell-ethische Dimension
Die sich in der individuell-ethischen Dimension stellenden Fragen haben eine offensichtliche Nähe zu paternalistischen Grundlegungen. Paternalismus (lateinisch „paternalis“ väterlich), das Bestreben, zum vermeintlichen Wohle des Gegenübers dieses zu bevormunden, drückt aus, dass das Handeln im angenommenen Interesse der Adressierten, aber ohne deren Zustimmung, womöglich gegen ihren Willen stattfindet. Auf den ersten Blick scheint das unvereinbar mit einer willensorientierten Sozialen Arbeit zu sein. Im Folgenden werden drei Modelle herangezogen, mit denen die Möglichkeiten in Grenzen von willensorientierter Sozialer Arbeit in der individuell-ethischen Dimension diskutiert und geprüft werden:
Die „advokatorische Ethik“ nach Micha Brumlik (2013; 2017), die „stellvertretende Deutung“ nach Ulrich Oevermann (1979; 1996) und die „moralisch inspirierte Kasuistik“ nach Hans Thiersch (1995; 2014):
3.1 Advokatorische Ethik
Die advokatorische Ethik, die auf Micha Brumlik (*1947) zurückgeht und im Jahr 1992 erstmals publiziert wurde, formuliert im Kern die Frage nach der „Legitimation pädagogischer Eingriffe“ (vgl. Brumlik 2017).
Advokatorisches Handeln (lateinisch „advocatus“: „Anwalt“ oder „der Herbeigerufene“) ist ein im Interesse einer anderen Person ausgeübtes, stellvertretendes Handeln. Dabei gilt zu unterscheiden, ob es im Auftrag einer Person oder ohne deren Wissen oder gar gegen deren Willen ausgeführt wird (vgl. Liebel 2018). Es wird zwischen anwaltschaftlicher und vormundschaftlicher Beauftragung einer_eines Advokat_in unterschieden. Im ersten Fall kann der vertretenen Person „eine aufgeklärte und verantwortete Kenntnis [ihrer] Interessen“ (Brumlik 2017: 191) zugeschrieben werden, im zweiten Fall ist davon auszugehen, dass die aufgeklärten Kenntnisse nicht vorhanden sind (vgl. ebd.). Für die advokatorische Ethik und die Frage nach Grenzen von Willensorientierung geht es vor allem um die vormundschaftliche Vertretung, die stets eine stellvertretende Deutung dessen, was das Eigenste eines jeden Menschen zu sein scheint, ist: sein Wille und seine Interessen (vgl. ebd.).
Brumlik schlägt folgende Definition vor:
„Eine advokatorische Ethik ist ein System von Behauptungen und Aufforderungen in Bezug auf die Interessen von Menschen, die nicht dazu in der Lage sind, diesen selbst nachzugehen sowie jenen Handlungen, zu denen uns die Unfähigkeit anderer verpflichtet.“ (ebd.: 192)
Die in diesem Kontext spannenden Ebene des advokatorischen Handelns ist die der fallspezifischen Arbeit, in der es um Handeln für tatsächlich oder vermeintlich bedürftige oder „noch nicht entwickelte“ (ebd.) Personen geht, die ihren Willen nicht klar formulieren und ausdrücken können. Hierbei wird nicht über Personen in deren Abwesenheit entschieden, sondern es geht um ein Handeln, das sich im direkten Kontakt auf sie bezieht. In diesen Fällen wird von „Randzonen des Willens“ oder „Entscheidungen in Grenzzonen“ gesprochen (vgl. ebd.).
Da jede advokatorisch-stellvertretende Handlung implizit in Widersprüchen und Ambivalenzen steht, und einem Risiko unterliegt, dass sich das advokatorische Handeln verselbstständigt und nur noch zum Schein dem Willen der_des Adressat_in entspricht, ist sie mit Problemen der Legitimation konfrontiert, die nach übergeordneten ethischen Kriterien verlangen (vgl. ebd.). Die „Anmaßungen“ der Stellvertretung in bestimmten pädagogischen Settings ist nach Brumlik allerdings unvermeidbar, „wenn nicht gar geboten“ (ebd.:?124) und sie können ethisch gerechtfertigt werden.
Dafür wird eine Unterscheidung zwischen „Menschen“ als Gattungswesen und „Personen“, die über bestimmte Eigenschaften verfügen, eingefügt (vgl. ebd.: 125f.). Es gibt eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Menschen – „etwa Babys, mental retardierte Erwachsene und psychisch Kranke“ (ebd.: 126) –, die sich weder als in ihrer „Biografie einmalig oder als mental einheitlich wahrnehmen können, noch dazu in der Lage sind, sich zu ihren Handlungen verantwortlich zu verhalten“ (ebd.). Brumlik schlägt vor – je nachdem, welche Lebensphase betrachtet wird –, von „Niemals-, Noch-Nicht- oder Nicht-Mehr-Personen“ (ebd.) zu sprechen.
Ausgehend von dem Unterschied von „Mensch“ und „Person“, befinden sich Personen im Zustand der „Personalität“ (ebd.:?266f.). Sie sind in der Lage ihre Handlungen und Entscheidungen als begründet auszuweisen, können in moralischer Autonomie verantworten und demnach als Mündige bezeichnet werden.
„Niemals-, Noch-Nicht- oder Nicht-Mehr-Personen“ sind hingegen „Unmündige“: sie sind weder zur Argumentation fähig, noch in der Lage, frei Überlegungen anstellen zu können und zu formulieren, was gewollt wird. Unmündige in diesem Sinne sind etwa „Kleinkinder“, die „noch keine kohärenten und voll ausgeformten Sätze bilden können“ (ebd.: 141) oder trotz dieser Fähigkeit, die bei älteren Kindern denkbar sei, „aufgrund des Mangels von Informationen oder Urteilskraft keine akzeptablen Argumente vorbringen“ (ebd.) können. Brumlik unterstreicht, dass Noch-Nicht-Personen einen Anspruch darauf haben, aufgrund des Umstands der Nicht-Personalität keinerlei Nachteile zu erleiden. Dies gilt folgerichtig auch für Niemals- und Nichtmehrpersonen (vgl. ebd.: 129). [4]
In der advokatorischen Ethik wird für alle Menschen das Recht definiert, zu „Personen“ mit einem anerkannten Willen zu werden. Es wird davon ausgegangen, dass Personalität ein erstrebenswerter Zustand ist. Demzufolge geht es darum, eine Subjektivität der Unmündigen als möglich zu begreifen und die Verpflichtung abzuleiten, sie zu bemündigen. Neben diesem „kategorischen Imperativ der Bemündigung“ (ebd.: 200) erweist sich „das Vermeiden der Beeinträchtigung der körperlichen/geistigen Integrität“ (ebd.) und somit die Aufrechterhaltung der Menschenwürde der zu erziehenden Personen als zweiter Imperativ (vgl. ebd.). [5]
In diesem Verständnis sind Erziehende – sofern sie das Recht der Noch-Nicht-Person auf Personwerdung anerkennen – in bestimmten Situationen dazu verpflichtet, stellvertretend für die noch nicht mündigen Zu-Erziehenden zu handeln, und in einem bestimmten Ausmaß dem aktuellen Willen der Noch-Nicht-Person zu widersprechen. Brumlik geht davon aus, dass eine Selbstregulation einer Noch-Nicht-Person auf dem Weg zur Personwerdung Grenzen hat und der Gedanke reiner Selbstregulierung – im Sinne beispielsweise radikal antiautoritärer Erziehungskonzepte – keine sozial verantwortlich handelnden Personen hervorbringen kann. [6] Personwerdung sieht er als soziale Größe der „wechselseitigen Beeinflussung“ (ebd.: 131f.).
Dadurch, dass die Noch-Nicht-Personen also einen moralisch begründeten Anspruch auf Personwerdung haben, sind die Sozialarbeitenden verpflichtet, dem Anspruch der Personwerdung zu dienen und alles zu verhindern, was dem entgegensteht (vgl. ebd.). Steht der aktuelle Wille einer Noch-Nicht-Person dem langfristigen Ziel der Personwerdung entgegen, ist laut Brumlik eine paternalistische Stellvertretung und Entscheidungsübernahme im Sinne eines Handelns für die Noch-Nicht-Person also legitimiert und die zuständige Person ist gar dazu verpflichtet, gegen den Willen der Noch-Nicht-Person zu verstoßen (vgl. ebd.). Dabei gilt als Grundsatz, dass „alle Interventionen (…) nach Möglichkeit die Zustimmung der späteren Personen erhalten“ (ebd.:?224). Auf diese Weise, so der Anspruch, sei „ein realer Diskurs zwischen Betroffenen und Interventen jedenfalls hinterher möglich“ (ebd.:?225). Eine advokatorische Ethik im Spannungsfeld von Person und Noch-Nicht-Person hat sich vor allem der Paradoxie dieses Rechtfertigungsproblems zu stellen (vgl. ebd.).
Wenn auch einige kategoriale Zuordnungen auf den ersten Blick irritierend wirken, verfolgt die advokatorische Ethik im Kern ein ähnlich emanzipatorisches Projekt wie die SRO. [7] Als fundamentalethisches Modell liefert sie auch für das Fachkonzept Sozialraumorientierung mit seinem Willensansatz eine reflexive Orientierung in Bezug auf die Frage, wann ein stellvertretendes Arbeiten für die Adressat_innenschaft zu legitimieren ist.
Willensorientierung ist ein erziehungskritisches Prinzip, das auf praktische Handlungen mit dem Zielfokus der Emanzipation ausgelegt ist. Das Augenhöheprinzip ist von zentralem Wert. [8] Erziehungskritisches, am Willen der Adressat_innen ausgerichtetes Arbeiten bedeutet dabei nicht, dass es „antipädagogisch“ ist und keinerlei Einschränkung des Adressat_innenwillens geschehen dürfe. Autodeterminative Prinzipien der „Antipädagogik“ (von Braunmühl 1975) wurden bereits in der – für das Willensprinzip elementar leitenden – „Non-direktiven Pädagogik“ (Hinte 1990) zu einem erziehungskritischen Verständnis weiterentwickelt (vgl. Nuss 2021). Der Wille ist primärer Orientierungspunkt der Arbeit, er ist aber nicht als „Befehl“ zu interpretieren (vgl. Fehren/Hinte 2013: 15). Die Subjektstellung der Adressatinnen gilt es mit allen Möglichkeiten zu akzeptieren, zu wahren bzw. widerherzustellen und in antiexpertokratischer Tradition zu agieren (vgl. Dewe et al. 2011).
Wie beschrieben, kann es in der fallspezifischen Arbeit aber auch zu Situationen kommen, in der es um Willenseinschränkung geht und die advokatorische Ethik kann als reflexive Leitlinie mit fundamentalethischem Charakter einer willensorientierten Arbeit dann dienlich sein, wenn die Legitimation der paternalistischen Stellvertretung als letzte Möglichkeit der Unterstützung des Prozesses der „Personwerdung“ formuliert ist. Mit anderen Worten: Sozialarbeiterische Entscheidungsübernahme, also ein Handeln für die_den Adressat_in, welche unter Umständen den formulierten Willen negiert, ist auch bei willensorientierten Settings kein absolutes Tabu, aber als möglichst letzte Option dann heranzuziehen, wenn dieser aktuelle Wille dem langfristigen Prozess der „Personwerdung“ und Selbstbestimmung entgegensteht.
3.2 Stellvertretende Deutung
Die advokatorischen Ethik liefert übergeordnete ethische Kriterien im Diskurs um Grenzen von Willensorientierung und fokussiert sich auf den Unterschied von mündig und unmündig. Das Modell der stellvertretenden Deutung gibt Hinweise darauf, dass eine punktuelle Abnahme der Entscheidungsverantwortung und somit ein punktuelles stellvertretendes Handeln für den_die Adressat_in zur Professionalität im pädagogischen Handeln (und damit auch zur sozialarbeiterischen Willensorientierung) gehören kann. Dies bezieht sich auch auf Menschen, die generell als zur Willensäußerung mündig angesehen werden, also im Verständnis Brumliks den Schritt zur Personwerdung bereits vollzogen haben.
Stellvertretende Deutung, als Teil von Ulrich Oevermanns (*1940), Professionalisierungskonzeption beschreibt die professionalisierte Tätigkeit im pädagogischen und sozialarbeiterischen Feld und betont dabei den Ort der Vermittlung von Theorie und Praxis (vgl. Oevermann 1979). Dabei wird eine autonome Handlungsstruktur, die sich ökonomischer sowie administrativer Kontrolle entzieht und dabei eigenlogischen Standards folgt, als Voraussetzung für Professionalität in sozialberuflichen Handlungsfeldern propagiert (vgl. ebd. 1996: 86f.).
In diesem Professionalitätsverständnis gibt die pädagogische Fachkraft nicht linear Expert_innenwissen durch technische Problemlösung in den Fall ein, sondern auch die lebensweltliche Eigenlogik der Praxis wird respektiert und als Wissensform anerkannt. So entsteht ein Ort des „Dazwischenseins“, ein Ort der Vermittlung zwischen theoretischem Wissen und lebenspraktischem Handeln. Dieser Platz der Vermittlung ist der „Ort“ der stellvertretenden Deutung. Er birgt Widersprüche, und im „Aushalten dieses Widerspruchs“ (ebd. 1981: 23) steckt die Professionalität sozialen Handelns. Daraus ergibt sich die „Nicht-Standardisierbarkeit professionalisierten Handelns“ (ebd.), denn im stellvertretenden Deuten müssen immer zwei divergierende Wissensebenen gleichzeitig präsent sein: die wissenschaftliche (als Anwendung theoretischer Grundlagen) und die hermeneutische (als Kenntnis und Reflexion der Besonderheit des Einzelfalls) (vgl. ebd.).
Der Wissenschaftsbezug darf allerdings keine zu dominante Position einnehmen. Die Fachkraft darf sich durch den Bezug auf die Wissenschaft nicht „die Omnipotenz“ (Dewe et al. 1986: 267) anmaßen, für die Lebenspraxis ihrer Adressat_innen praktische Entscheidungsgewalt übernehmen zu können. Damit würde nämlich die Autonomie eben dieser Lebenspraxis verletzt werden, was durch Luhmann und Schorr mit dem Begriff des „Technologiedefizits“ deutlich gemacht worden ist (Luhmann/Schorr 1982: 11ff.). Zwischen (linear-wissenschaftlichen) Absichten einer erziehenden Person und der tatsächlich auftretenden Wirkung bei der zu-erziehenden Person gibt es immer eine Zufälligkeit, einen Umstand der (doppelten) Kontingenz, also der grundlegenden Offenheit im menschlichen Handeln, mit der umgegangen werden muss (vgl. ebd.).
Mit diesem Wissen der Autonomie der Lebenspraxis wird das wissenschaftliche Wissen dennoch nicht ungültig. Die Verwendung sozialwissenschaftlicher Deutungen innerhalb lebenspraktischer Handlungsvollzüge und Willensäußerungen hat idealerweise den Charakter von Aufklärung und Erweiterung von Möglichkeiten und grenzt sich dabei von stellvertretenden Lösungen ab (vgl. Dewe et al. 1986: 275f.).
Sozialarbeitenden ist durch das „Dazwischensein“ die Möglichkeit gegeben, stellvertretend (Willens-)Entscheidungen der Adressat_innen in einen theoretischen Kontext zurückzuführen. Durch Distanzierung zu der lebensweltlichen Verstrickung der Adressierten kann in einem erweiterten Rahmen die Möglichkeit auf unterstützende Reflexion wahrgenommen werden, was beispielsweise die Unterstützung auf „Freilegung“ des tatsächlichen Willens ermöglicht. In dem Prozess kann es zu Situationen kommen, die dem_der Adressat_in punktuell keine Entscheidungshoheit ermöglichen. Allerdings muss die Unterstützung immer so angelegt sein, dass die Entscheidungshoheit möglichst schnell und vollumfänglich zurück zur_zum Adressat_in wandert und die stellvertretende Deutung somit einen kurzzeitig strukturierenden Charakter aufweist (vgl. Somm 2001: 678).
Ein den Willen des_der Adressat_in zum Ausgangpunkt nehmendes, professionelles Handeln bedeutet, dass ein (theoretisches) Wissen um vereinnahmende Lebensumstände, die klare Willensäußerungen zuweilen erschweren, vorhanden ist, den Adressat_innen eine Eigenständigkeit im Willen allerdings zu keiner Zeit abgesprochen wird, da sie als mündige Personen angesehen werden. Dieses Grundvertrauen in einen freiheitlichen Kern des Menschen korrespondiert eng mit der anthropologischen Grundlegung der kompatibilistischen Position (vgl. Nuss 2017; 2021).
Professionelles soziales Handeln im Kontext der Willensorientierung bedeutet, den_die Adressat_in nicht in ihrer_seiner zuweilen schwierigen Lebenssituationen mit den (nicht) erlernten Strategien zu belassen („Ich will eigentlich nur meine Ruhe haben“), sondern mithilfe einer stellvertretenden Deutung dazu beizutragen, dass sich die Präferenzen und Optionen auf das, was im eigenen Leben gewollt wird, zu erweitern. Mit der Übernahme der Chiffre „Wille hinter dem Willen“ (Kollbrunner 1987) ist dieser Gedanken im sozialraumorientierten Diskurs eingespeist (vgl. z.B. Noack 2015: 103). Hier geht es um einen dialogischen Prozess, und den in der non-direktiven Pädagogik zentral angesprochenen Aspekt der „Stechmückenfunktion“: hier und dort im übertragenden Sinne „nervig zu sein“, zu „stechen“, damit der_die Adressat_in eigenaktiv an der Veränderung und Verbesserung der Situation beteiligt ist (vgl. Hinte/Karas 1978; Hinte 1990: 90). Sozialarbeitende sind somit befördernd aktiv, eröffnen neue Möglichkeiten und Optionen, damit die Menschen „sich Gegebenem nicht widerspruchslos fügen“ (Hinte 1990: 90). Dabei ist die Differenz zwischen dem professionellen Expertentum als Anbieter_in von stellvertretenden Problemlösungen und dem Verständnis der Professionellen als stellvertretende Problemdeuter_innen von zentralem Wert.
Willensorientierung in der Arbeit mit mündigen Personen bedeutet, den Adressat_innenwillen stets als Ausgangspunkt für eine kritische Auseinandersetzung für neue Möglichkeiten zu nehmen und ihn nicht als unflexibel, hart determiniert und adaptiert abzutun. Das Prinzip der stellvertretenden Deutung in der Arbeit am Willen bezieht sich nicht nur auf bereits vorhandene, aber noch nicht bewusste Kompetenzen und Fähigkeiten, sondern auch auf nicht mehr bewusste und eventuell bereits ausgebildete Fähigkeiten, die die eigenen Handlungsmöglichkeiten erweitern.
3.3 Moralisch inspirierte Kasuistik
Die beiden oben diskutierten Modelle können bei der Beantwortung der Frage, wann ein stellvertretendes Handeln für die Aressat_innen in der willensorientierten Sozialen Arbeit zu legitimieren ist, durch das Heranziehen der „moralisch inspirierten Kasuistik“ von Hans Thiersch (*1935) argumentativ verbunden werden.
Thiersch geht in seinen ethischen Orientierungen für die Lebensweltorientierung davon aus, dass „es gut ist, wenn Menschen über sich bestimmen können, sie ihre eigenen Möglichkeiten entdecken können, es ist gut, wenn sie solidarisch sind“ (Thiersch 2014). Dies sind für ihn die moralischen Orientierungen einer professionellen Sozialen Arbeit. Thiersch sieht es allerdings als problematisch an, wenn diese moralischen Orientierungen „prinzipiell und dogmatisch“ (ebd.) gesehen werden. Es gehe in der Sozialen Arbeit nie um eine moralische Diktatur, sondern darum, „die Verhältnisse, die Gelegenheiten und die Situationen zu sehen“ (ebd.) und sich auf den Einzelfall einzulassen (vgl. ebd.).
Das Einlassen auf den Einzelfall, die Kasuistik, ist durchweg von bestimmten moralischen Setzungen und Wertungen inspiriert. „Diese werden aber nicht 1:1 umgesetzt, sie werden mitverhandelt als etwas, von dem aus ich prüfe, ob sich damit das Leben verbessert.“ (ebd.)
Thiersch hebt in seinem Modell ganz zentral die Unverzichtbarkeit des individuellen Aushandelns und die Vermittlung auf die unterschiedlichen gegebenen Sachverhalte und Bedingungszusammenhänge hervor:
„Moralisch inspirierte Kasuistik, das meint einen vielschichtigen, aspektreichen Prozeß, in dem sich die in aller traditionellen Moral herrschende Rigorosität einer Entscheidung zwischen gut und böse, mißlungen und gelungen aufhebt in einem Prozeß des Aushandelns und Abwägens, des Prüfens, Vergleichens, des Klärens von Nebenwirkungen und Folgen.“ (ebd. 1995: 23)
Für willensorientierte Soziale Arbeit im Sinne des Fachkonzepts Sozialraumorientierung bedeutet dies, dass Willensentscheidungen des_der Adressat_in in den allgemeinen Horizont von moralischer Orientierung hineinverhandelt werden, ohne diese Orientierungen im Konkreten dogmatisch zurückzuführen. „Prozesse des Abwägens und Vermittelns stehen neben klarer Entschiedenheit, verantwortete Prüfung neben verantworteter Kompromißlosigkeit.“ (ebd.: 24)
Mit einer solchen Grundlegung lässt sich verdeutlichen, dass Selbstbestimmung, die durch Willensorientierung zum Ausdruck kommt, als generell erstrebenswertes Ziel der Sozialen Arbeit anzusehen ist, es aber keine moralische Diktatur geben kann im Sinne von: „Du musst jetzt wollen und deinen Willen klar und reflektiert zum Ausdruck bringen.“
Es bedarf der Akzeptanz, dass bestimmte Menschen in bestimmten Lebensmomenten zuweilen nicht die Kraft haben, klar und eindeutig zu wollen, und keine Autonomie und Mündigkeit im Sinne der „Personwerdung“ anstreben (können und/oder wollen). Das heißt, dass die von Brumlik dargelegten fundamentalethischen Kriterien nicht apodiktisch gelten, sondern einer gewissen Offenheit des kasuistischen Aushandlungsprozesses unterliegen, in dem professionelle Fachkräfte erkennen, wann ein Handeln für meinen Gegenüber angebracht ist.
Ganz in dem Sinne des einleitend dargestellten Verständnisses „[e]ine gute Hilfe ist die, die unabhängig von der Hilfe macht“ (Hinte 2014), gibt es durchaus Verantwortung abnehmende Situationen, um den langfristigen Weg der Eigenständigkeit zu unterstützen. Die Fokussierung auf den Prozess des Abwägens und Vermittelns, für die Thiersch plädiert, ermöglicht somit auch den Brückenschlag zum oben diskutierten Modell der stellvertretenden Deutung. Im Aushandeln liegt die Möglichkeit der punktuellen Verantwortungsabnahme, die allerdings einen möglichst kurzzeitigen Charakter behält, um der „Selbstbestimmung“ als fundamentalem Wert nicht entgegenzustehen (vgl. Nuss 2021).
4. Gesellschaftlich-ethische Dimension: Der Kontext des (Un-)Erlaubten
Auch in der gesellschaftlich-ethischen Dimension dient der Wille nicht in einem radikalen und unbedingten Verständnis als Orientierung für sozialarbeiterisches Handeln. Ein Kontext von Bedingungen muss immer mitgedacht werden.
Geht es in der ersten (individuellen) Dimension primär um den Kontext des (Un-)möglichen („Welche Leitlinien können formuliert werden, wenn Menschen nicht in der Lage sind, ihren Willen zu äußern?“), ist die zweite (gesellschaftliche) Dimension vorrangig vom Kontext des (Un-)Erlaubten geprägt („Was sind Orientierungen, wenn der formulierte Wille ein devianter bzw. delinquenter Wille ist?“).
Eine willensorientiert-sozialräumliche Arbeit ist neben dem Fokus auf die innere Freiheit immer auch davon geprägt, für eine äußere Freiheit, die als „Ökologie der Veränderung“ (Kleve 2005: 87) in Erscheinung tritt, einzutreten. Es geht also um die Gestaltung von Handlungsfreiheiten, also Rahmenbedingungen in der Lebenswirklichkeit der Adressat_innen, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass sie entsprechend ihrer Potenziale und Ziele, die dem eigenen Wollen entspringen, leben können (vgl. ebd.).
4.1 Gesetzeswille und kategorischer Imperativ
In dem Appell nach größtmöglicher Handlungsfreiheit steckt die Vorstellung nach Einschränkung der subjektiven Freiheit durch eine auf Sicherheit basierte öffentliche Ordnung, denn subjektive Freiheit und Willenshandlungen des einen hören da auf, wo das Recht, die Freiheit und der Wille des anderen beginnt. Zum einen bedingen Freiheit und Sicherheit einander. Nur ein Mensch, der über ein ausreichendes Maß an Sicherheit verfügt, kann sich auch frei verhalten. Zum anderen kann auch nur eine freie Person die ihr notwendig und wichtig erscheinenden Lebensumstände, zu denen auch die Sicherheit gehört, frei erhalten. Dieses klassische Spannungsverhältnis zwischen Freiheit einerseits und einer sicherheitsorientierten Rechtsordnung andererseits taucht im Naturrechtsdenken im Zeitalter der Aufklärung auf und ist bis heute ein leitendes rechtliches und politisches Verständnis liberal-demokratischer Staaten (vgl. Pohanka 2009: 7ff.). Im Ansatz des auf subjektive Freiheit angelegten Prinzips der Willensorientierung, müssen also notwendigerweise ethische und leistungsgesetzliche Grenzen – ein „Gesetzeswille“ – mitgedacht werden. Der Gesetzeswille ist nach Immanuel Kant (1724-1804) nichts anderes als praktische, insbesondere moralische Vernunft:
„Handle äußerlich so, dass der freie Gebrauch deiner Freiheit mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen könne.“ (Kant 1986: 24)
Hierin steckt für Kant die „wahre Freiheit“: das Subjekt gibt seine ungezügelte Freiheit auf, um sich dem moralischen Gesetz zu unterwerfen (vgl. ebd.). Grundlegend ist das anthropologische Verständnis, dass der Mensch ein den Naturtrieb überwinden könnendes, Vernunft fähiges und soziales Wesen ist, das leben will. „Will ein solches aber leben, so muß es Gemeinschaft wollen. Will es Gemeinschaft, so muß es Normen wollen. Will es Normen, so will es Sollen.“ (Rehbinder 1995: 61) Hinter diesem „Wollen nach Sollen“, steckt der Wille auf subjektive Freiheit durch Begrenzung, dass mein Wollen nicht durch das Wollen anderer eingeschränkt wird. Für eine willensorientierte Soziale Arbeit ist damit ein klarer rechtlich-ethischer Kontext von Bedingungen formuliert, indem eigene Freiheiten da aufhören, wo andere Freiheiten beginnen.
4.2 „Soziale Kategorie“ von Selbstbestimmung
Dieser rechtliche und ethische Horizont wurde mit der Unterscheidung zwischen der „individualistischen“ und der „sozialen Kategorie“ von Selbstbestimmung in den Diskurs willensorientierter Sozialer Arbeit eingespeist (vgl. Nuss 2017: 19f.). Mit der „individualistischen Kategorie“ ist die rigorose Bedürfnisbefriedigung gemeint, in der die Bedürfnisse der Mitmenschen eine untergeordnete Rolle spielen und einzelne Mitglieder(gruppen) einer Gesellschaft den stärkeren zunehmend unterliegen.
Demgegenüber wird in der „sozialen Kategorie“ gerade nicht das Lossagen von sozialen Bindungen fokussiert. Es geht um die Grenzen gegenüber anderen Menschen – also die Wahrung ihrer Würde – und darum, für die eigenen Handlungen verantwortlich gemacht werden zu können. Der zentrale Unterschied liegt also darin, dass andere Menschen und die Umwelt beim Treffen von eigenen Willensentscheidungen und deren Umsetzung in Handlungen berücksichtigt werden (vgl. ebd.; Theunissen/Plaute 1995: 54). Diese ethische Grundlegung des „Sozialen“ geht über delinquentes Handeln hinaus, schließt deviantes Handeln ein. Nicht jede Art von Freiheitseinschränkungen eines_einer Anderen ist rechtlich fixiert, es benötigt in den Einzelfällen ein „Aushandeln mit Grenzen“ wenn Eigenwilligkeit als Überschreitung wahrgenommen wird (vgl. Lutz 2011).
4.3 „Eigensinn“ und „abgemilderte“ Kontrollfunktion
Die traditionelle „Kontrollmacht“ wird in einer willensorientierten Sozialen Arbeit nicht vollends aufgegeben, aber in abgemilderter Form als Grenzen setzend verstanden, was zu dieser „Auseinandersetzung mit Grenzen“ befähigen soll und eine fortlaufende Normalisierung überwindet (vgl. ebd.).
Sind die Grenzen bei „rechtliche Grenzen überschreitendem Verhalten (Delinquenz)“ wohl wenig diskutabel, so ist, es wie oben angedeutet, bei bloßem „Norm abweichenden Verhalten (Devianz)“ komplizierter. Lebensweltliche und sozialräumliche Perspektiven in der Sozialen Arbeit – und hier gerade die Ansätze, die eine Willensorientierung starkmachen – sehen in den Abweichungen von „Normalnull“ in gewisser Art und Weise gar eine Stärke, die in dem positiv konnotierten Begriff von „Eigensinn“ ihren Ausdruck findet. Respekt davor zu haben, wenn Menschen dem „Sinn des Eigenen“ folgen, gilt als Grundlage für eine Haltung, aus der heraus die jeweils subjektiven und zuweilen eigenwilligen Entscheidungen als Ausgangspunkt für Kooperation, Abstimmung oder auch Auseinandersetzung genommen werden.
Das Verständnis, dass es um so viel Akzeptanz des Willens wie möglich und so wenig bevormundende Eingriffe wie nötig geht, gehört zum Grundton einer willensorientierten Sozialen Arbeit – wie sie im Fachkonzept Sozialraumorientierung proklamiert wird – und korreliert mit dem Verständnis einer abgemilderten Kontrollfunktion. Willenshandlungen und Eigensinn stehen aber auch hier immer im individuellen Kontext von Sozial- und Umweltverträglichkeit und einer individuellen Aushandlung der Anpassung.
„Dein Wille wird ernst genommen – er ist mir nicht Befehl, aber ich will mich ihm mit meinen fachlichen Kompetenzen und den leistungsgesetzlichen Möglichkeiten stellen.“ (Fehren/Hinte 2013: 15)
Der SRO liegt ein reflexives Wissen um die soziale Kategorie von Selbstbestimmung zugrunde. Andere Menschen mit ihren Freiheiten und Willen und die soziale und natürliche Umwelt finden bei der Arbeit mit dem Willen im Fachkonzept Berücksichtigung: der „Wille auf subjektive Freiheit durch Begrenzung“ dient als ethische Orientierung im Kontext der äußeren Freiheit als „Grenze des Erlaubten“.
5. Fazit
Im Willensverständnis des Fachkonzepts Sozialraumorientierung nach Hinte ist das Verständnis eines freiheitsfähigen Menschen fundiert. Trotz einer deutlich erziehungskritischen Grundlegung und der unterstützenden Haltung für eigenwillige Lebensentwürfe handelt es sich nicht um ein anbindungsloses, sozialunverträgliches Freiheitskonzept. Willensorientierte Handlungen platzieren sich stets innerhalb eines Rahmes von ethischen Orientierungen, Leitlinien und Begrenzungen, die hier als „Grenzen des Möglichen“ und „Grenzen des Erlaubten“ expliziert wurden.
Das Verständnis aufnehmend, dass das Fachkonzept ein Ansatz in ständiger Weiterentwicklung und Überarbeitung ist, wurde mit diesen Ausführungen ein Impuls gesetzt, das Willensprinzip kritisch weiterzudenken. Um die erkenntnistheoretischen und ethischen Leitlinien weiter zu beleben, liegt dem Autor dieses Artikels ein fachlicher Diskurs jenseits vorhandener Koalitionen, die sich in ein angriffslustiges „Für und Wider“ des Fachkonzepts SRO aufspalten, am Herzen. Durch die angedeuteten, aber nicht weiter ausgeführte Gedanken zur „Ethik der Achtsamkeit“ oder der „unterstützenden Entscheidungsfindung“ (vgl. Röh 2019) würde der Diskurs beispielweise weitere wichtige Impulse erhalten, genauso wie durch den Umstand, die beschriebenen Impulse durch sozialraumorientierte Sozialarbeiter_innen aus den unterschiedliche Handlungsfeldern auf ihre Praxistauglichkeit hin zu prüfen und diese Erfahrungen in den Diskurs zurückzubringen.
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Fußnoten
[1] Ausführlich zur Sammlung von kritischen Argumenten am Willensansatz des Fachkonzepts SRO und einer fachlichen Erwiderung der Kritik, vgl. Nuss 2021: 193ff.
[2] Die folgenden Gedanken dieses Artikels sind Auszüge aus dem Buch „Willensorientierte Soziale Arbeit. Der Wille als Ausgangspunkt sozialräumlichen Handelns“ (Nuss 2021).
[3] „Seinen_ihren Willen äußern können“ und „einen Willen haben“ wird fälschlicherweise häufig als ein und dasselbe bezeichnet. Auch Menschen sind mit einem Willen ausgestattet, die zwar nicht die Möglichkeit auf explizite Äußerung dessen haben. Dennoch sind sie als Träger_innen eines autonomen Willens anzuerkennen, wie im Folgenden aufgezeigt wird.
[4] Die Zuordnung zu der Kategorie „Noch-Nicht-Person“ und „Unmündig“ fordert die kritische Nachfrage heraus, ob nicht alleine durch die Zuordnung ein Nachteil entstanden ist, der schwer wieder aufzuholen ist.
[5] Für „Niemals und Nicht-mehr-Personen“ hat der erste Imperativ keine Gültigkeit. Wenn sicher scheint, dass die hilfsbedürftigen Menschen niemals (wieder) den Zustand der Personalität erreichen werden, so spricht Brumlik von „caritativem Handeln“ (2017: 196; 225f.). Obwohl Brumlik nicht genauer auf den Aspekt des „caritativen Handelns“ eingeht, ist davon auszugehen, dass hier der Fokus auf die Aufrechterhaltung der Menschenwürde durch körperliche Integrität (zweiter Imperativ) gelegt werden sollte.
[6] Auch wenn dies von Brumlik nicht angeführt wird, hat dies auch selbstredend Geltung für radikal autoritäre Erziehungskonzepte.
[7] Anders als in Brumliks Ausführungen wird im Fachkonzept keine Unterscheidung in Bezug auf Würde zwischen Subjekt und Nicht-Subjekt gemacht und es lassen sich auch keine Hinweise auf Unterschiede von mündig und unmündig finden, was nicht zuletzt auf die Speisung durch die Humanistische Psychologie und Carl Rogers Verständnis‘ der Konstruktivität und Vertrauenswürdigkeit zurückzuführen ist (vgl. Rogers 1981). In seinem Vorwort zur 2017er Ausgabe schreibt Brumlik zwar, dass die kategorische Unterscheidung von „mündig“ und „unmündig“ eine Vereinfachung ist und er diese für „unterbestimmt“ (Brumlik 2017: 7ff.) hält. Dennoch bleibt sie, ebenso wie die kategorische Unterscheidung von „Mensch“ und „Person“, der legitimatorische Unterbau seiner advokatorischen Ethik. Wie Liebel in seiner Rezension richtig bemerkt, markiert diese Unterscheidungen „ein eindeutig hierarchisches Verhältnis zwischen denen, die erziehen, und denen, die erzogen werden“ (Liebel 2018).
[8] Kommunikation auf Augenhöhe und wechselseitiges Lernen werden in Brumliks Ausführungen nicht mitgedacht, er nimmt keinen Bezug auf pädagogische Ansätze, die dialogisch konzipiert sind (vgl. Liebel 2018). Ein fundamentalethisches Modell muss dies sicher auch nicht liefern, dennoch bleibt bei aller Herausstellung des emanzipatorischen Grundsatzes die Gefahr, dass dadurch einer vermehrten Erziehungskultur unter dem Deckmantel des Paternalismus die Tür geöffnet wird.
Zitiervorschlag
Nuss, Felix Manuel (2021): Begrenzter Wille?. In: sozialraum.de (13) Ausgabe 2/2021. URL: https://www.sozialraum.de/begrenzter-wille.php, Datum des Zugriffs: 21.11.2024