Mehrgenerationenhäuser im sozialräumlichen Kontext
Jörn Dummann
1. „Lebenswelt-Schnittstellen“ herstellen und gestalten
Die insgesamt 550 (2007-2011) bzw. 450 (2012-2014) durch das BFSFJ geförderten Mehrgenerationenhäuser (Informationsseite des BMFSFJ: www.mehrgenerationenhaeuser.de) verstehen sich konzeptionell als Treffunkte unterschiedlicher Generationen, nicht als Wohnprojekte. Oftmals entstanden diese in Anlehnung an bereits bestehende Angebotsstrukturen unterschiedlicher Trägerformen. Ob Gemeindezentren mit Offener Kinder- und Jugendarbeit und einer KiTa unter einem Dach oder Familienhilfe mit einem Seniorenbüro unter einem Dach – derartige Konstrukte boten bei diversen Trägern vorher bereits Angebote für unterschiedliche Generationen an. Die Kunst der intergenerativen Arbeit besteht allerdings darin, die Alterssäulen aufzubrechen und gemeinsame Angebotsstrukturen anstelle primär paralleler Angebote zu entwickeln. Ein gemeinsamer Hauseingang macht noch keine intergenerative Arbeit aus.
Die Problematik, unterschiedliche Lebenswelten und -ansichten unterschiedlicher Generationen zu vereinen, soll hier nicht weiter thematisiert werden. Für Kritiker des intergenerativen Bildungsansatzes und ausschließlich auf Peergroupsozialisation versierte Fachkräfte sei allerdings der Hinweis auf den perspektivisch breit gefächerten Bildungsansatz gegeben, welche Peergroupsozialisation und -bildung durchaus mit einbezieht. Mehrgenerationenhäuser bieten demzufolge einen Baustein zum lebenslangen (sozialen) Lernen, insbesondere im Setting nonformaler und informeller Bildungsprozesse.
Eine weiterreichende Herausforderung stellen die unterschiedlichen Lebenswelten der Besucher/innen dar. Erscheint es schon schwer genug, als erwachsene Fachkraft die Lebenswelt von Jugendlichen wahr- und vor allem ernst zu nehmen, gilt es nun, die Lebenswelten mehrerer unterschiedlicher Generationen fachlich zu erfassen. Selbst wenn sich die Fachkräfte unter Berücksichtigung des sozialpädagogischen Charakteristikums der emotionalen Handlungsregulation ein Verständnis zu den unterschiedlichen Lebenswelten der Generationen aneigneten, gilt es darüber hinaus, die Schnittmengen zwischen den Generationen aufzuzeigen. Erst entlang einer Lebenswelt-Schnittstelle können neue intergenerative Angebote als Basis für die weiterführende Arbeit konstruiert werden. Beispielhalf seien hier Angebote in den neuen Medien benannt, welche von Jugendlichen als „digital natives“ und älteren Menschen als „digital immigrants“ wahrgenommen werden.
Es geht in ersten Angeboten bei Berücksichtigung der Lebenswelt-Schnittmengen nicht darum, ontogenetische Gewinne, also z.B. Wissensbestände für eine Berufsausbildung o.ä. zu erlangen. Vielmehr sind situative Gewinne als Basis für weitere intergenerative Angebotsformen vollkommen ausreichend. Eine intergenerative Situation als Freude bereitende Aktion wahrzunehmen genügt für diesen Einstieg, ohne dass dabei über harte Indikatoren evaluierbare Wissensbestände erreicht werden müssen.
2. Ein Sozialraum-Mix der Generationen und Peer Groups
Fachkräfte im Tätigkeitsfeld intergenerativer Arbeit unterliegen der Gefahr einer strukturellen Überforderung. Lebenswelten und Sozialräume einzelner Generationen zu eruieren stellt, wie erwähnt, eine fachliche Herausforderung dar, welcher sich leider nicht alle Fachkräfte (Sozialer Arbeit) stellen (Budde/Früchtel 2007; Netzwerk SONG 2010). Überfordernd kann in diesem Zusammenhang durchaus wirken, dass für die Berücksichtigung der beschriebenen Sozialraum-Schnittstellen mehrere Lebenswelten und Sozialräume der unterschiedlichen Generationen entdeckt und erkundet werden müssen. Die Komplexität erhöht sich zudem durch die Einbindung der Perspektive der Interkulturalität und der Geschlechter wesentlich. Eine Vernetzung zwischen Arbeitsbereichen wie Kita, Jugend-, Erwachsenen- und Seniorenarbeit ist für eine realistische Umsetzung dabei fachlich obligatorisch.
Der Sozialraum der Generationen überschneidet sich im öffentlichen Leben. Wer sich auf einen Spielplatz stellt, wird mit empathischen Blick für die unterschiedlichen Generationen diverse Sozialraumbezüge entdecken: Kinder eine Sandkiste oder Rutsche; Jugendliche eine Tischtennisplatte aus Stein, auf der es sich nicht nur Tischtennisspielen lässt, sondern auf der man auch abends wunderbar „abhängen“ und „vorglühen/etwas trinken“ kann; Senioren/innen die Bänke, welche eine für sie erforderliche Ausruhmöglichkeit bieten.
Innerhalb einer (Sozial-)Einrichtung werden die Sozialräume häufig ausschließlich auf die Peers ausgerichtet, werden oftmals andere Generationen bewusst (ausschließlich nach einem Peergroupansatz arbeitend) ausgeschlossen. Wie am Spielplatzeispiel angedeutet, kann auch ein Sozialraum-Mix in (Sozial-)Einrichtungen konstruiert werden. Es geht dabei nicht darum, Räume barrierefrei und seniorengerecht herzurichten, um dadurch andere Altersgruppen wie Jugendliche für eine seniorengerechte Raumnutzung zu sensibilisieren. Vielmehr gilt es, in Räumen Elemente zu schaffen, welche unterschiedliche Generationen gleichermaßen ansprechen. Wie beispielsweise ein Tresen oder ein öffentlicher Internetplatz. Gelungene und von unterschiedlichen Generationen angenommene Beispiele in Mehrgenerationenhäusern gibt es zu genüge. Solche Räume schließen keine peergroupspezifischen Einrichtungen/Gegenstände wie einen Billardtisch aus. Sie bieten die Gelegenheit, den Sozialraum einer anderen Generation innerhalb des eigenen Sozialraumes informell wahrzunehmen.
Diese in einem informellen Setting geförderte Wahrnehmung anderer Lebensräume bietet eine Möglichkeit des intergenerativen Kennenlernens. Dieser erste Schritt des Kennenlernens mit „nur“ situativem Gewinn ist erforderlich, um nach diesem intergenerativen, gegenseitigen Kennenlernen weitere intergenerative Angebote verorten zu können.
Fazit: Das gegenseitige intergenerative Kennenlernen kann durch einen Sozialraum-Mix wesentlich gefördert werden. Die Angebote dürfen sich dabei nicht in plumper Gestaltung von Multifunktionsräumen verlieren. Es gilt, geschickt auf die Zielgruppen der Einrichtung bezogen aus den unterschiedlichen Lebenswelten der Generationen Gemeinsamkeiten zu eruieren und den (Sozial-)Raum innerhalb der Einrichtung darauf auszurichten.
3. Mehrgenerationelle Sozialraumanalysen
Ein Mehrgenerationenhaus stellt für eine Sozialraumanalyse unterschiedlicher Generationen diverse Möglichkeiten zur Verfügung. Auf eine Methodendarstellung wird im weiteren Verlauf verzichtet – diese würde nur deskriptiv und wiederholend darstellen, welche Methoden für unterschiedliche Generationen bereits existieren (vgl. auch die Rubrik „Methodenkoffer“ von sozialraum.de). Vielmehr soll hier ein Fokus auf eine bestimmte Haltung bei der Wahrnehmung unterschiedlicher Sozialräume gelegt werden: Wie können verschiedene Sozialräume vergleichend betrachtet werden, ohne dass diese in der jeweils anderen Generation als nicht gesellschaftlich untragbar oder gar bedrohlich angesehen werden.
Wird ein Sozialraum innerhalb eines Mehrgenerationenhauses bewusst in einem Sozialraum-Mix gestaltet (siehe vorhergehendes Kapitel), wirken solche Räume auf jede Generation ungeordnet, teilweise überfordernd, nicht einzig und individuell auf die eigene Altersstruktur abgestimmt. Eine solche „Pflicht-Auseinandersetzung“ bietet allerdings einen sehr guten informellen sozialen Lernrahmen.
Den Sozialraum zu analysieren und zu reflektieren stellt die Lernleistung der Besuchenden dar: Was wird von einer anderen Generation als deren Sozialraum wahrgenommen und wertgeschätzt? Wo erfolgt eine bewusste Abgrenzung vom Sozialraum der anderen Generation? Unterschiedliche Generationen über deren Sozialraum kennenzulernen bietet eine Möglichkeit, die Generationen niederschwellig in Kontakt und Austausch zu bringen.
Fazit: Sozialeinrichtungen können die Chance des intergenerativen Lernens durch die Sensibilisierung der Generationen auf Sozialräume einer jeweils anderen Generation nutzen. Dies widerspricht keinesfalls einem Peergroupansatz; es ergänzt diesen vielmehr, sensibilisiert die Wahrnehmung und fördert das soziale Lernen.
4. Fachliche Vorbereitung auf ein neues Tätigkeitsfeld
Mehrgenerationenhäuser sind weder die Neuerfindung des Rades der Sozialen Arbeit noch sollen sie bestehende Arbeitstheorien der bestehenden sozialpädagogischen Angebotsformen ersetzen (Riedel 2012; Binne et al. 2014). Die intergenerativen Arbeitsansätze sind vielmehr als ergänzende Ansätze zu bestehenden Arbeitsfeldtheorien zu verstehen. Dementsprechend gilt es, dass sich angehende Fachkräfte (z.B. Sozialer Arbeit oder der Pflege) auf die neuen Herausforderungen, z.B. der komplexen Sozialraumanalyse und -gestaltung, einstellen.
Intergenerative Curricula sind für die Fachkräfteausbildung dringend erforderlich, um der seit 2007 bestehenden Praxis intergenerativer Arbeit (Start der Mehrgenerationenhaus-Aktionsprogramme 1 und 2) gerecht zu werden. Beispielhaft sind folgend Ausbildungsinhalte des Curriculums der Fachhochschule Münster aufgeführt:
- Studien-Eingangsphase: Durchschnittlich 200 Studierende der Sozialen Arbeit, aufgeteilt in Kleingruppen zu ca. 8 Studierenden, geben sich pro Semester zwischen einer Studien-Einführungsphase und dem Beginn der laufenden Lehrveranstaltungen für eine Woche in eine Fachrallye zur intergenerativen Arbeit ein. Die Studierenden des Bachelorstudienganges haben eine dreimonatige Praxisphase vor dem Studium zu absolvieren. Da dieses Vorpraktikum in der Regel nur innerhalb einer Säule der Sozialen Arbeit absolviert wird, soll mit der Fachrallye durch die intergenerative Arbeit die Vielfältigkeit der Sozialen Arbeit vor Beginn der ersten Lehrveranstaltungen verdeutlicht werden. Mehrgenerationenhäuser mit ihrer offenen Programmstruktur verstehen sich u.a. als Dienstleistungsdrehscheibe, die in die Professionen von Beratung, Jugendhilfe oder Pflege etc. vermittelt und die Vielfalt der Sozialräume unterschiedlicher Generationen aufzeigt. Dadurch stellt sich die intergenerative Arbeit für Studierende im ersten Semester als Angebotsform dar, welche Kontakte und Kooperationen in sämtliche Bereiche der Sozialen Arbeit und Pflege vorhält. Die Studierenden erhalten die Möglichkeit, diese Bereiche facettenreich in ihren Angebotsspektren wahrzunehmen und zu Studienbeginn nicht nur eine der Handlungssäulen Sozialer Arbeit kennenzulernen. Sie arbeiten mit unterschiedlichen Methoden einer Rallye (kognitiv sowie erlebnisorientiert) fachspezifische Fragen ab. Die an der Rallye beteiligten Fachgruppen sind alle Bezugswissenschaften der Sozialen Arbeit, welche an der Fachhochschule Münster gelehrt werden: Erziehungswissenschaft, Heilpädagogik, Sozialmedizin, Musik und Musikgeragogik, Philosophie, Politikwissenschaft, Psychologie, Recht, Sozialmanagement, Soziologie, Theater- und Bewegungspädagogik.
- Praxisprojekte: In einem Umfang von zwei Semestern werden Studierende theoretisch und praktisch an die arbeitsfeldbezogenen Spezifika intergenerativer Arbeit herangeführt. Das Studienkonzept beinhaltet die Vermittlung theoretischer Wissensbestände (Theorien und arbeitsfeldbezogene Methoden) sowie die Konzepterstellung, Umsetzung und Evaluation in die Praxis. In Kooperation mit vier über das Semesterticket erreichbaren Mehrgenerationenhäusern werden die Fachkonzepte in Kleingruppenarbeit erstellt. Nach dem Raster (1) Eruierung der Rahmenbedingungen inkl. Sozialraumanalyse, (2) Situations- und Problemanalyse, (3) Zielentwicklung, (4) Operationalisierung und Angebotsumsetzung, (5) Evaluation werden die Konzepterstellungen sowie -umsetzungen fachlich durch die Hochschule und die Praxisstellen begleitet. Möglich sind Projekte direkt in Mehrgenerationenhäusern in offener Angebotsstruktur oder als Wohnprojekt durchzuführen. Alternativ erfolgt die Umsetzung in Senioren- und Jugendzentren, Kindertagesstätten, Schulen, Heimeinrichtungen und Krankenhäusern, welche sich intergenerativen Angeboten öffnen möchten.
- Vertiefungsphase: Für den onlinebasierten Studiengang Soziale Arbeit (BASA-online: blended learning mit 75% Online- und 25% Präsenzzeit) wird eine auf drei Module ausgerichtete Vertiefung zu intergenerativer Arbeit erarbeitet. Drei aufeinander aufbauende Module mit jeweils 5 ECTS-Credits führen zu einem ganzheitlichen Lehransatz intergenerativer Arbeit. Modul 1: Einführung in die Soziale Arbeit mit unterschiedlichen Lebensaltern, Modul 2: Altersbilder und Peeransätze, Modul 3: Theorieansätze, Lebensweltorientierung, Sozialraumarbeit und Methoden intergenerativer Arbeit. Die 15 ECTS (450 Arbeitsstunden) umfassende Vertiefungsphase bietet durch ihren hohen Umfang die Möglichkeit, intergenerative Arbeit als neue Domäne der Sozialen Arbeit in einem Theorie-Praxistransfer intensiv zu vertiefen.
Keines der dargestellten Beispiele für Lehrcurricula, nicht einmal das Vertiefungsmodul mit 15 ECTS, vermag als Ausbildungslogo „Fachkraft für intergenerative Arbeit“ für sich zu beanspruchen und einzulösen. Erste Vernetzungen zwischen Hochschulen sowie ein Austausch über intergenerative Arbeitsfeldtheorien lassen perspektivisch jedoch Bedarfe bzw. durchaus optimistische Schlüsse für die Weiterentwicklung intergenerativer Curricula zu.
5. Fazit
Die intergenerative Arbeit bedient sich der bestehenden Sozialraumzugänge und Verfahren der Sozialraumerkundung zu den bestehenden Arbeitsfeldern. Eine zu beachtende Herausforderung hierbei stellt die Gefahr einer strukturierten Überforderung von in der intergenerativen Arbeit tätigen Fachkräften dar. Denn sie haben sich als Vernetzungskräfte zu verstehen zwischen verschiedenen Arbeitsfeldern, um Gemeinsamkeiten zwischen den Sozialräumen der unterschiedlichen Altersgruppen herauszufinden. Innerhalb von Mehrgenerationenhäusern entstehen dadurch neue Sozialräume aus bestehenden Ansätzen der Peergrouparbeit. Dass dies kein leichtes Unterfangen ist, zeigen die letzten sieben Jahre des Aktionsprogrammes Mehrgenerationenhäuser (2007-2013). Dass dies allerdings auch kein unmögliches oder praxisfernes Unterfangen ist, zeigt selbiges Aktionsprogramm ebenso.
Intergenerative Ansätze sind nicht als Bedrohung, sondern als Erweiterung von bestehenden Ansätzen zu verstehen in einer sich ändernden (Lebens-)Welt, deren Pendel demografiebedingt in den nächsten Jahrzehnten in Richtung alternde Gesellschaft schwingen wird (Brandt 2009; Kruse 2012; Künemund/Szydlik 2009). Es liegt nun u.a. an den Professionen (z.B. Soziale Arbeit und Pflege), sich diesem Demografiewandel durch zusätzliche innovative Ansätze zu öffnen.
Literatur
Binne, H./Dummann, J./Lange, A./Teske, I. (Hrsg.) (2014): Handbuch Intergeneratives Arbeiten. Opladen, Berlin & Toronto.
Brandt, M. (2009): Hilfe zwischen Generationen - Ein europäischer Vergleich. Wiesbaden.
Budde, W./Früchtel, F. (2007): Sozialraumorientierung. In: Deutscher Verein (Hrsg.): Fachlexikon der Sozialen Arbeit, (6. Aufl.). Baden-Baden, S. 908.
Kruse, A. (2012): Die Potenziale intergenerationeller Beziehungen für Individuum und Gesellschaft. Ruperto Carolina, Heft 1.
Künemund, H./Szydlik, M. (2009): Generationen – Multidisziplinäre Perspektiven. Wiesbaden.
Netzwerk SONG (Soziales neu gestalten) (Hrsg.) (2010): Zukunft Quartier – Lebensräume zum Älterwerden, Band 3; Soziale Wirkung und „Social Return“ – Eine sozioökonomische Mehrwertanalyse gemeinschaftlicher Wohnprojekte. Gütersloh.
Riedel, B. (2012): Neue Orte der Begegnung. In Familienzentren und Mehrgenerationenhäusern können sich Alt und Jung treffen. Aber findet der Austausch der Generationen wirklich statt? DJI Impulse, 97(1).
Zitiervorschlag
Dummann, Jörn (2013): Mehrgenerationenhäuser im sozialräumlichen Kontext. In: sozialraum.de (5) Ausgabe 1/2013. URL: https://www.sozialraum.de/mehrgenerationenhaeuser.php, Datum des Zugriffs: 21.11.2024