Aktivierende Befragung / Aktivierendes Gespräch

Christoph Stoik

Die Aktivierende Befragung gilt als eine zentrale Methode der Gemeinwesenarbeit, die vor allem mit Wolfgang Hinte und Maria Lüttringhaus in Verbindung gebracht wird (vgl. Hinte/Karas 1989, Lüttringhaus/Richers 2003). Ziel ist es, BewohnerInnen eines Gemeinwesens (meist ein Stadtteil oder ein ländlicher Raum) dabei zu unterstützen, sich für die eigenen Interessen zu organisieren, einzusetzen und sich zu solidarisieren.
Ausgangspunkt dabei sind die lebensweltlichen Interessen, die aufgespürt werden sollen. Es geht bei der Aktivierenden Befragung also nicht darum die BewohnerInnen für Themen zu aktivieren, wenn sie keine lebensweltlichen Ursprung haben. Eine Vorannahme ist, dass Menschen sich ohnehin oft für ihre Interessen engagieren, dabei aber zuweilen Unterstützung benötigen: Diese Themen werden oft unangepasst und widerständig zu Verwaltung und Politik sichtbar bzw. formuliert. Daher können diese Interessen oft auch nicht in diese Systeme einfließen. Durch die Organisation der Interessen und Solidarisierung von Menschen wird in weiterer Folge eine Reflexion der Lebenswelt durch die Aktivierende Befragung ermöglicht. Theoretische Quellen sind u.a. die Personenzentrierung nach Rogers und die „Aktionsforschung" (vgl. Hinte/Karas 1989). Aus dem Hintergrund der Aktionsforschung wird davon ausgegangen, dass schon die Erhebung auch zu Veränderungsprozessen führt. „Die Beforschten" werden somit nicht als „Objekte" der Forschung verstanden, sondern als Beteiligte. Wesentliches Ausrichtung der Aktivierenden Befragung ist somit die Veränderung im Gemeinwesen und nicht in erster Linie die Generierung von Daten, obwohl dies einen wichtigen Nebeneffekt darstellt. Der personenzentrierte Zugang hat einen respektierende Haltung den Menschen gegenüber zur Folge, unabhängig von deren Äußerungen und Meinungen.

Die Aktivierende Befragung setzt sich aus mehreren Teilen zusammen, die auch als eigenständige Methoden zum Einsatz kommen:

Am Beginn steht die Recherche und eine Auseinandersetzung mit vorhandenen Wissen über das Gemeinwesen, wie mit demographischen Daten und vorhandenen Forschungen. Dazu muss das Befragungsgebiet definiert werden. Es soll ein zusammenhängendes Gebiet sein, das einigermaßen überschaubar und wo eine Identifikation der BewohnerInnen möglich ist. Befragungsgebiete sollen daher nicht zu groß sein (meist unter 1000 Haushalte), wobei diese Grenze sich auch aus der Bearbeitbarkeit (Anzahl der Gespräche) ergibt.
Als nächster Schritt wird eine „Gemeinwesenbeobachtung'" durchgeführt. Ähnlich einer unbegleitenden Stadtteilbegehung führen die GemeinwesenarbeiterInnen Stadtteilspaziergänge systematisch durch. Dabei werden einerseits subjektive Eindrücke gesammelt und reflektiert, andererseits aber auch erste Beobachtungen festgehalten: Die bauliche und räumliche Situation wird erhoben, die Nutzung des (halb)öffentlichen Raums wird beobachtet, NutzerInnen identifiziert, erste sichtbare Probleme und Ressourcen, die infrastrukturelle Ausstattung erhoben (u.a. Verkehr, Nahversorgung), Hinweise auf spezifische Stadtteilkultur wird gesammelt, sowie Einrichtungen und bestehende BewohnerInnen-Organisationen werden identifiziert.

In einem zweiten Schritt werden ExpertInnen-Gespräche mit „MultiplikatorInnen" geführt (ähnlich einer Institutionenbefragung). Mit EntscheidungsträgerInnen (wie LokalpolitikerInnen und VertreterInnen der Verwaltung) wird ebenso gesprochen, wie mit VertreterInnen von Einrichtungen, als auch mit BewohnerInnen, die wichtige kommunikative Aufgaben im Gemeinwesen übernehmen (MieterInnen-VertreterInnen, HausbesorgerInnen, Vereinsvorsitzende, ...). Diese ExpertInnen-Gespräche haben zwei Funktionen. Einerseits geht es darum MultiplikatorInnen in die Aktivierende Befragung einzubinden, sowie Kooperationsmöglichkeiten in Bezug auf die Aktivierende Befragung und weiterführende Projekte auszuloten bzw. mögliche Widerstände zu identifizieren. Andererseits sollen erste Themen die im Gemeinwesen relevant sein könnten, identifiziert werden und mögliche Hindernisse für die Befragung (z.B. sprachliche Probleme oder negative Erfahrungen der BewohnerInnen mit Partizipationsprozessen).

In einem dritten Schritt, dem Herzstück der Aktivierenden Befragung werden Gespräche mit den BewohnerInnen geführt. Klassischer Weise werden die Befragungen an der Wohnungstür und in den Wohnungen geführt. Es ist aber zu empfehlen, die Methode den lebensweltlichen Eigenheiten entsprechend anzupassen (z.B. Befragung von Jugendlichen im öffentlichen Raum oder in Jugendeinrichtungen; Variierung der Befragungszeiten, um unterschiedliche Alters- und Zielgruppen zu erreichen, etc.). Ziel ist es mit möglichst vielen Menschen im Gemeinwesen darüber ins Gespräch zu kommen, was diese beschäftigen. Eine Haushaltsbefragung wird möglichst schriftlich angekündigt. Die Befragung wird zu zweit durchgeführt - mit möglichst gemischten Befragungsteam (Geschlecht, Alter, kultureller Hintergrund).
Die Gespräche können dabei wenige Minuten, manchmal aber auch mehr als eine Stunden dauern - im Schnitt ist mit 30 Minuten pro Gespräch zu rechnen.Wesentlich dabei ist, dass die BefragerInnen sich den Menschen ernsthaft interessiert zuwenden und orientiert daran sind, die Lebenswelt zu verstehen. Dadurch ist es möglich mit einer großen Anzahl von Menschen ins Gespräch zu kommen, bei Haushaltsbefragungen oft in der Hälfte der Haushalte.
Mit der Formulierung von offenen Fragen werden die Inhalte konkretisiert. Die Themen werden von den jeweiligen GesprächspartnerInnen gewählt und definiert. Gefragt wird danach, was die Menschen in Bezug auf das Gemeinwesen beschäftigt. Dabei können Themen angesprochen werden, die auf der Ebene des Gemeinwesens bearbeitbar sind ebenso wie solche, die auf dieser Ebene nur begrenzt behandelt werden können (z.B. Arbeitslosigkeit), aber durch die Befragung vom privaten in den öffentlichen Bereich gelangen können. Die BefragerInnen wenden sich dabei insbesondere den Inhalten zu, die mit einer hohen Emotionalität verbunden sind, einerseits weil diese bedeutend sein dürften, andererseits, weil sie oft mit viel Veränderungswillen verknüpft sind.
Die BefragerInnen haben dabei nicht den Anspruch geordnete Gesprächssettings zu schaffen, sondern lassen sich auf zumal chaotische Situationen ein, bei denen auch die Befragten das Gespräch wesentlich steuern sollen. Orientierung und Steuerungsmöglichkeit bietet dabei ein Gesprächleitfaden. Die BefragerInnen beginnen mit einem einfach formulierten Türöffner, bei dem sie sich vorstellen, ihren institutionellen Hintergrund und das Ziel der Befragung offenlegen. Danach wird das Gespräch gesucht, in dem es v.a. um Probleme und Stärken im Gemeinwesen geht. Nach möglichst genauer Erörterung eines Problems wird darüber gesprochen, was sich ändern könnte und sollte, wer für diese Veränderung gebraucht wird, und was die GesprächspartnerInnen dazu einbringen könnten. Schließlich werden die GesprächspartnerInnen zur BewohnerInnen-Versammlung eingeladen, bei der die Ergebnisse präsentiert werden und Perspektiven für die Bearbeitung der Probleme erarbeitet werden sollen. Aktivierende offen Gespräche können als Grundmethode auch unabhängig von einer Aktivierenden Befragung angewendet werden, die doch relative Ressourcen-intensiv ist.

Durch diese Befragung werden nicht nur lebensweltlich relevante Themen erhoben, sowie Bearbeitungsperspektiven entwickelt, sondern auch viele Kontakte zu BewohnerInnen geknüpft. Identifiziert werden durch diese Methode auch Menschen, die auch unabhängig von der aktivierenden Befragung angesprochen werden können, sich aktiver ins Gemeinwesen einzubringen. Die erhobenen Themen werden grob kategorisiert, wobei die von den BewohnerInnen verwendete Begriffe möglichst nicht zu stark verändert werden sollten. Diese Kategorisierung ermöglicht einerseits, erste Perspektiven einer Bearbeitung zu entwickeln, aber auch Themen zu dokumentieren, die aufgegriffen und bearbeitet werden sollten, wenn sie in der Folge der Aktivierenden Befragung nicht bearbeitet werden. Andererseits sind die Kategorien die Basis für die Präsentation bei der BewohnerInnen-Versammlung, zu der erfahrungsgemäß ca. ein Viertel der Befragten teilnimmt. Nach dieser Präsentation werden allerdings nur die Themen auf der Versammlung weiter behandelt, die auch von den Anwesenden aufgegriffen werden. Mit ähnlichen Fragen wie bei den BewohnerInnen-Gesprächen wird in der Versammlung nach Bearbeitungsperspektiven gesucht. Meist werden rund um einzelnen Themen und Personen, die sich bei der Versammlung einbringen, Gruppen gebildet, die begleitet und unterstützt von den GemeinwesenarbeiterInnen an den Themen weiterarbeiten. Somit steht die Aktivierende Befragung am Beginn von Reflexions- und Teilhabeprozessen in einem Gemeinwesen.

Literatur

Hinte, Wolfgang; Karas, Fritz: Studienbuch Gruppen- und Gemeinwesenarbeit. Eine Einführung für Ausbildung und Praxis; Frankfurt 1989

Lüttringhaus, Maria; Richers, Hille: Handbuch Aktivierende Befragung. Konzepte, Erfahrungen, Tipps für die Praxis. Bonn, 2003


Zitiervorschlag

Stoik, Christoph (2009): Aktivierende Befragung / Aktivierendes Gespräch. In: sozialraum.de (1) Ausgabe 2/2009. URL: https://www.sozialraum.de/aktivierende-befragung-aktivierendes-gespraech.php, Datum des Zugriffs: 19.03.2024