Bewegte Räume: Potenziale von Videographie und Film als Methoden der qualitativen Sozialforschung

Lena Abstiens, Lin Hierse

Digitale Medien sind heute weit verbreitet und zugänglich, und ermöglichen so die (erneute) Erprobung von visuellen Methoden in der qualitativen Sozialforschung. Die Autovideographie weist dabei aufgrund einer erhöhten Darstellungsnähe und Zugänglichkeit sowie vielschichtiger Informationsebenen besonderes Potenzial für die Erforschung räumlich und emotional konnotierter Themen auf. Auch in der Ergebnisdarstellung soll zu einer vermehrten Nutzung bewegtbildlicher Medien wie dem wissenschaftlichen Film angeregt werden. Die Arbeit mit Bewegtbildern kann zudem demokratisierende Effekte auf den Forschungsprozess haben und diesen durch erhöhte Zugänglichkeit und Transparenz der Forschungsergebnisse partizipativer gestalten. Mit Rückgriff auf Erfahrungen mit diesen visuellen Methoden, die im Rahmen eines Forschungsprojektes zu Konzepten und Strategien zu Zuhause gemacht wurden, werden in den folgenden Abschnitten die Potenziale und Herausforderungen für video- und filmbasierte Ansätze in der qualitativen Sozialforschung skizziert.

1. Einleitung

Digitale Kommunikation ist allgegenwärtig und hat substantiell an Relevanz gewonnen. In Zeiten der Digitalisierung zeigen unter anderem bildbasierte soziale Plattformen wie Instagram, Tumblr, Snapchat und Youtube die Bedeutung von (Bewegt-)Bildern im Alltag und in gesellschaftlichen Diskursen. Diese Nutzung und Kraft von Bildern wirkt nicht (mehr) nur in eine Richtung: Smartphones sind für weite Teile der Gesellschaft zugänglich und ermöglichen es ihren Nutzer_innen, selbst Bild- und Tonaufnahmen zu erstellen und zu bearbeiten. Technische Infrastrukturen sorgen für die Verbreitung derselben in den (sozialen) Netzwerken. Diese Beeinflussung der Art und Weise, wie Individuen kommunizieren und ihre Meinungen, Einstellungen und Eindrücke darstellen, lässt sich auch für qualitative Forschung aufgreifen. Der visual turn und die Hinwendung zum Bewegtbild in den Sozialwissenschaften hat gerade heute mehr Aktualität denn je: Zugänglichkeit und Verbreitung digitaler Medien ermöglichen auch die Erprobung neuer methodischer Ansätze mit Bewegtbildern.

Dem entsprechend stellt die Arbeit mit Bewegtbildern in der qualitativen Sozialforschung eine zeitgemäße Methode dar. Doch wie genau können Video und Film für Forschungsprozess und Ergebnisdarstellung nutzbar gemacht werden? Der Anteil an Forschenden, die diese Medien für ihre wissenschaftliche Arbeit nutzen, ist bislang noch recht gering und auch in der spezifischen Literatur zeigt sich die Sonderrolle dieser Methode (Jewitt 2012: 2). Der vorliegende Beitrag zeigt deswegen am Beispiel der Autovideographie auf, welches Potenzial Bewegtbilder als partizipative Methode insbesondere für die Erforschung räumlich und emotional konnotierter Themen haben.

Dabei geben wir zunächst einen Überblick der Verwendung visueller Methoden in der qualitativen Sozialforschung und speziell in der (Sozial)Geographie. Anschließend soll mit Bezug auf ein Beispielprojekt verdeutlicht werden, wie Datenerhebung, Datenauswertung und die Ergebnisdarstellung in Form eines wissenschaftlichen Films visuell funktionieren können. Es werden Herausforderungen diskutiert, die sich in der wissenschaftlichen Arbeit mit und Verarbeitung von Bewegtbildern stellen und schließlich die Potenziale dargestellt, die eine Integration visueller Methoden in den Forschungsprozess mit sich bringt.

2. Bewegte Räume in der qualitativen Sozialforschung

Die Beschäftigung mit Räumlichkeiten und den Beziehungen sowie Interaktionen zwischen Mensch und Raum sind von wesentlichem Interesse in vielen Disziplinen der Sozialforschung. Gängige Methoden zur Erfassung dieser Beziehungen arbeiten dabei traditionell wort- und textbasiert: qualitative Interviews werden mithilfe von Audioaufnahmegeräten aufgezeichnet und transkribiert, Surveys erfragen Informationen der Zielgruppe auf Textbasis und nicht zuletzt bleibt das wissenschaftlich anerkannte Medium der Ergebnispräsentation in der Regel ein verschriftlichter Forschungsbericht in Form einer Monographie, eines Sammelbandes oder eines Artikels zur Publikation in einem Journal. Auch seitens eher experimentell und explorativ gelagerter Forschungsmethoden fungiert Text als „Übersetzungsmedium”, beispielsweise zwischen teilnehmenden Beobachtungen und der Datenanalyse und Codierung des Gesehenen.

In der Auseinandersetzung mit Räumlichkeit und einem heutzutage vorherrschenden relationalen, dynamischen Raumverständnis (Löw 2001) wird jedoch eine Diskrepanz zwischen diesen zumeist textbasierten Methoden sowie Darstellungsweisen und dem Forschungsgegenstand an sich deutlich. Räume sind mehrdimensional und veränderlich, in ihnen spielen physische und atmosphärische Momente zusammen, die von unterschiedlichen Menschen verschieden wahrgenommen und bewertet werden können. Diese Vielschichtigkeit ist allein durch wort- und textbasiertes Forschen und Darstellen selten hinreichend abbildbar, denn wie in jedem sprachlichen Übersetzungsprozess (Temple/Edwards 2002; Caretta 2014: 3) werden auch bei der Übertragung von räumlichen zu schriftlichen Daten Informationen unterschiedlich ausgelegt und in die „Zielsprache” transferiert. Gleichzeitig zeigen jüngere Forschungszweige wie die Emotionale Geographie ein erhöhtes Interesse an Emotionalität, Atmosphären und Affekt auf, wodurch Unvorhersehbarkeit sowie Momenthaftigkeit als raumwirkende Elemente in den Vordergrund rücken (Anderson/Smith 2001; Smith et al. 2009). Wie lässt sich also dieser Diskrepanz zwischen Forschungsgegenstand und -methode begegnen?

Bereits in den 1990er Jahren sprachen sich Forschende im Rahmen des visual turn (auch pictorial oder iconic turn) für eine Rückbesinnung der sozialwissenschaftlichen Forschung auf die ihr im Grunde eigene Bildhaftigkeit aus (Mitchell 2013; Schlottmann/Miggelbrink 2009). Die Forderung nach einer stärker bildgestützten Arbeit gewann im Zuge dessen zwar an Popularität – aufgrund des relativ hohen finanziellen und organisatorischen Aufwandes bei der Erstellung und Bearbeitung insbesondere videobasierter „Produkte”, blieben diese Ansätze für die praktische Forschung jedoch oft relativ folgenlos.

Mittlerweile lassen sich Bewegtbilder deutlich einfacher für qualitative Sozialforschung nutzen. Bei der Untersuchung von besonders emotional konnotierten Forschungsgegenständen bieten sich (bewegt)bildliche Medien in Ergänzung zum Text an. Smartphones sind ständige Wegbegleiter und ermöglichen mit geringen Zugangsbarrieren die Aufnahme und in Teilen sogar die Bearbeitung von Videomaterial. Durch die zunehmende Popularität (bewegt-)bildbasierter Informationsvermittlung und -aufnahme ist es für Forschende zudem einfacher geworden, Zugang zu „natürlichen” Videodaten außerhalb „künstlicher” Interviewsituationen zu erhalten (Jewitt 2012: 2). Die Digitalisierung ermöglicht als prägende Rahmenbedingung unserer Zeit neue methodische Zugänge und eine videobasierte Erweiterung des Methodenkoffers. Trotz der heute niedrigeren Zugangs- und Nutzungsbarrieren ist wissenschaftliches Arbeiten mit videobasierten Methoden und Ergebnisformaten bisher eine Randerscheinung geblieben (Jewitt 2012: 2). Forschende nehmen sich vorrangig dem Einfluss der Digitalisierung auf Mensch und Gesellschaft an, transferieren Erkenntnisse dieser Analysen aber nur selten in die eigene Arbeitsweise. In diesem Beitrag möchten wir uns daher dafür aussprechen, eine Verknüpfung zwischen text- und videobasiertem Arbeiten in der Wissenschaft zu wagen und so beispielsweise partizipative Potenziale des Forschens mit Bewegtbildern nutzbar zu machen.

3. Arbeit mit Bewegtbild in Erhebung, Auswertung und Darstellung

Die Arbeit mit Videographie hat sich trotz der Verbesserung und Verbreitung der technischen Möglichkeiten aktuell noch nicht gänzlich im sozialwissenschaftlichen Methodenkoffer etabliert und gilt weitestgehend als explorativ und experimentell. Jedoch haben Bewegtbilder Potenzial für räumliche und emotional konnotierte Themen und können insbesondere atmosphärisch mehr vermitteln als der klassische Text. Gerade die in verschiedenen Sozialwissenschaften wichtigen räumlichen Verhältnisse, Raumansichten und -gefüge können durch Bewegtbilder weitaus besser erfahrbar gemacht werden, als dies mithilfe von Fotos oder klassischen, textbasierten Aufzeichnungen möglich wäre. Der folgende Abschnitt konkretisiert, wie Bewegtbilder in der Praxis der qualitativen Sozialforschung genutzt werden können. Dazu werden in drei Schritten zunächst allgemeinere Aspekte der bewegtbild-basierten Datenerhebung, Datenauswertung und Ergebnisdarstellung thematisiert und diese dann jeweils anhand eines bereits abgeschlossenen Forschungsprojektes veranschaulicht.

3.1 Datenerhebung: Autovideographie

Im Rahmen der Datenerhebung können beispielsweise Bewegtbilder genutzt werden, die durch die Forschungsteilnehmenden selbst produziert wurden. Bei diesen sogenannten Autovideographien wird den Teilnehmenden eine Frage oder Aufgabenstellung gegeben, die diese in Form von kurzen Videos beantworten (u.a. Petros et al. 2016; Chan et al. 2012; Belk/Kozinet 2005). Die Videos werden den Forschenden für die Bearbeitung des Forschungsvorhabens als Datenmaterial zur Verfügung gestellt, so dass sie mit Videos arbeiten können, die das beforschte Thema oder die Fragestellung aus Perspektive der Teilnehmenden zeigen. Durch diese autovideographischen Elemente in qualitativen Forschungsprojekten werden die Teilnehmenden selbst zu Autor_innen eigener Videos als Datenmaterial und können so ihre subjektive und möglichst wenig (durch die Forschenden) vorstrukturierte Sicht auf den Forschungsgegenstand ausdrücken. Dies eröffnet die Möglichkeit eines partizipativ angelegten Forschungsprozesses (siehe Abschnitt 4).

In einem Forschungsprojekt, das zur Referenz herangezogen werden soll, wurden Konzepte und Strategien junger Menschen zu ihrem Zuhause untersucht. Dafür wurden in der Datenerhebung und Ergebnisdarstellung Bewegtbilder genutzt (Abstiens/Hierse 2016). Autovideographien wurden hierbei verwendet, um die Aspekte des Konstrukts „Zuhause“ durch die Teilnehmenden abbilden zu lassen. So konnten verschiedene Themen wie Aktivitäten oder Räumlichkeiten erhoben werden, die für die jungen Menschen dabei von Relevanz sind. Den Teilnehmenden wurde neben technischen Hinweisen zu Bild und Ton die folgende Aufgabe gestellt: „Bitte filme, was für dich innerhalb des Wohnraums/der Wohnung Zuhause bedeutet (Video von max. zwei Minuten). Dies könnten z.B. Gegenstände, Aktivitäten, Raumansichten oder auch Personen etc. sein.“ Daraufhin entstanden 20 Autovideographien unterschiedlicher Länge und Art, mit oder ohne sprachliche Erklärung oder Ton und zu diversen Themen. Im eingebetteten Videosind einige Beispiele zu sehen.

Dennoch funktionieren die Autovideographien nicht allein, sie sind erklärungsbedürftig. Die Stärke der Arbeit mit autovideographischem Datenmaterial liegt deswegen insbesondere in der Kombination aus dem Videomaterial der Forschungsteilnehmenden und der gemeinsamen Besprechung der Daten mit den Forschenden. Deswegen findet im Anschluss an die Aufnahme durch die Teilnehmenden und die Sichtung durch die Forschenden ein Erläuterungsgespräch statt, in dem die Teilnehmenden den Forschenden das Bildmaterial erklären, die Forschenden Möglichkeit zur Nachfrage haben und so ein gemeinsames Verständnis über die aufgezeichneten Sequenzen entwickelt wird.

In dem Forschungsprojekt zu Zuhause wurde dabei deutlich, dass gerade diese Erklärungen häufig Themen auf die Agenda setzen, die allein durch das anschließend geführte Interview nicht zutage getreten wären und somit eine eigene Relevanz für den Forschungsprozess entfalten. Die Arbeit mit den Autovideographien ermöglicht es so, Themen durch die Teilnehmenden in das Blickfeld der Forschenden zu rücken, die sonst womöglich unbeachtet geblieben wären. Die Teilnehmenden können durch die Autovideographien selbst ihre (Raum-)Ansichten, Lebenswelten, etc. teilen und damit ihre eigene Perspektive relevant für die wissenschaftliche Bearbeitung machen.

3.2 Datenauswertung: Mehrstufiger Auswertungsprozess

Die Herausforderungen in der Auswertung von Videomaterial und gerade in der Übertragung von Bewegtbild in Text wurden vielfach beschrieben (Moritz 2014; Petros et al. 2016; Reichertz 2014: 55). Die Transformation von Videodaten in Text ist für die wissenschaftliche Arbeit unerlässlich und muss besonders sorgfältig betrieben werden, auch wenn eine Herausforderung darin liegt, dass auch bei einer möglichst deskriptiven textlichen Beschreibung von Video immer eine Interpretation durch die Forschenden existiert (Moritz 2014: 32f.). Umso wichtiger wird die hermeneutische Arbeit, um den dialogischen Bruch zu bewältigen und die Wahrnehmung zu schärfen, die sich offenkundig auch immer unter Maßgabe der Forschungsfrage fokussieren muss (ebd.: 34). 

In Anlehnung an Englert 2014 und die vorgestellte wissenssoziologisch-hermeneutische Videoauswertung wurde für den Umgang mit den Autovideographien zu „Zuhause“ ein Modus entwickelt, der den Herausforderungen der Videoauswertung durch die Arbeit im Team und die einzelne Betrachtung verschiedener Videoebenen in einem mehrstufigen Prozess begegnet.

Nach Abschluss der Erhebungsphase lagen etwa 20 Autovideographien sowie die jeweiligen Erläuterungen dazu vor. Die Videos wurden in einem mehrstufigen Prozess ausgewertet: Zunächst wurden sie transkribiert, dann textlich sowie tabellarisch beschrieben, um die Videos strukturiert auswerten zu können. Dieser Teil sollte möglichst deskriptiv sein und keine Interpretation beinhalten (auch wenn dies nie voll erfüllt werden kann; siehe oben). Im zweiten Schritt wurden die Videos in einen anderen Kontext gebettet und die Frage bearbeitet, ob die Themen des Videos auch im an das Erläuterungsgespräch anschließende leitfadengestützte Interview aufkamen. Hier zeigt sich das Potenzial von Autovideographien hinsichtlich der inhaltlichen Themensetzung durch die Teilnehmenden. Im dritten Schritt wurde der zusätzliche Informationsgehalt der aufgenommenen Bilder herausgearbeitet. Hierbei wurde jeweils der Mehrwert hervorgehoben, der durch die bewegtbildliche Darstellung in Abgleich zur Befragung im Interview entstand. Das Potenzial von Autovideographien zeigte sich hinsichtlich der bildlichen Darstellung beispielsweise für erhöhte Nähe, Emotionalität und Abbildung der Räumlichkeit. Abschließend wurde nach der Interpretation durch die Forscherinnen ein Rückbezug zu den Erläuterungen der Forschungsteilnehmenden hergestellt und so die Ergebnisse der beiden Auswertungsschritte verwoben. Mit dieser mehrstufigen Auswertung wurde so neben inhaltlichen Ergänzungen auch der Frage nachgegangen, was das Bildmaterial der Teilnehmenden mehr leisten konnte als eine rein text- oder sprachbasierte Datengrundlage (Abstiens/Hierse 2016: 39f).

3.3 Ergebnisdarstellung: Wissenschaftlicher Film

Wenn in der Datenerhebung Bewegtbild verwendet wird, so erscheint die Verwendung dieses Mediums in der Darstellung nur als logische Schlussfolgerung, da sich gerade in der Transformation von Bild zu Text Hürden ergeben (siehe Abschnitt 4). Doch ebenso wie die Datenerhebung über Video ist auch die Form der Ergebnispräsentation im wissenschaftlichen Kontext überwiegend textbasiert. Bilder in Form von Abbildungen dienen häufig der Illustration, haben aber selten einen analytischen Charakter. Film benötigt andere Lesarten und Argumentationsmodi. Durch die Aufeinanderfolge von Bildern und Aussagen sowie deren Kontrastierung kann ein visueller Diskurs geführt werden, der gleichzeitig mehr Raum für Assoziationen und Interpretation eröffnet (Ballhaus 1995: 27). Text- und sprachbasierte Analysen sind in der wissenschaftlichen Arbeit ohne Frage präziser, doch auch die filmische Darstellung von Forschungsergebnissen hat ihre Berechtigung. Film kann als ergänzendes Medium zum Text zu größerem Informationsgehalt beitragen, weil er eine erhöhte Darstellungsnähe und emotionale Zugänglichkeit hat (ebd.: 28).

Im Forschungsprojekt wurde neben einer textlichen auch eine filmische Darstellung der Ergebnisse vorgelegt. Durch diesen filmischen Teil konnten gerade bei einem so emotional belegten Forschungsgegenstand wie Zuhause wichtige Brücken zwischen Rohdaten und Rezipient_innen gebaut werden und so zu einem erweiterten Verständnis des Forschungsgegenstandes beitragen. Ein weiterer Vorteil einer filmischen Darstellung liegt in seinem Potenzial, mehrere Ebenen, wie Bewegtbilder, Sprachaufnahmen, Umgebungsgeräusche, Musik und eingeblendeten Text als Informationsträger zur Vermittlung der Aussage heranzuziehen (Sooryamoorthy 2007: 5).

Für Rezipient_innen ergibt sich so ein erweiterter Blick auf die Thematik: Zwar ist der Film ein argumentatives Produkt, das nicht nur Rohdaten präsentiert, sondern als analytisch verstanden werden muss. Jedoch können dabei Stimmungen und emotionale Nuancen der Autovideographien und Interviews erfahrbar werden, die sonst nur durch die Interpretation der Forscherinnen sichtbar gewesen wären. Außerdem soll, im Sinne der Zugänglichkeit wissenschaftlicher Arbeiten für nicht-akademische Zielgruppen, das produzierte Filmergebnis durch niedrigere Zugangsbarrieren ein breiteres Publikum erreichen.

Dabei ist der wissenschaftliche Film von anderen Genres, speziell dem Dokumentarfilm, abzugrenzen. Das Hauptmerkmal zur Unterscheidung liegt hier darin begründet, dass für den gesamten Film wissenschaftliche Qualitätsmerkmale eingehalten werden. So sind, unter anderem, die Entwicklung der Fragestellung, der Vorgehensweise, die Erhebung von Daten methodologischen und methodischen Konzeptionen unterworfen. In den Interviews liegt der Fokus auf einer für alle Beteiligten sicheren und vertrauensvollen Situation, und weniger auf idealen Aufnahmebedingungen oder gut formulierten „Statements”. Auch in der anschließenden Erstellung des Films werden Argumentationsweisen aus der wissenschaftlichen Textarbeit auf die Schnittarbeit übertragen (Ballhaus 1995: 38). Wissenschaftlicher Film ist so nicht nur deskriptiv, sondern theoretisch-analytisch eingebettet und braucht „einen eigenen Standpunkt, Hypothesenbildung und ein klar definiertes Erkenntnisinteresse” (ebd.: 27). Nur mit der wissenschaftlichen Herangehensweise lassen sich soziale Bedeutungen aufdecken (ebd.).

Ein wissenschaftlicher Film impliziert also auch das Bewusstsein darüber, dass die abgebildeten Szenen eine filmische Realität darstellen und nicht ohne die Anwesenheit der Forschenden und Kamera entstanden wären. Dies wurde im Forschungsprojekt über selbstreflexive Momente transportiert, die beispielsweise den Aufbau des Interviewsettings oder die Forscherinnen bei der filmenden Arbeit zeigen. Dadurch wurde mit der filmischen Realität gebrochen und die Autor_innenschaft und das ihr inhärente Narrativ verdeutlicht.

4. Spezifische Herausforderungen bei der Forschung mit Bewegtbildern

In der wissenschaftlichen Arbeit mit Videographie liegen neben einer Reihe von Potentialen auch spezifische Herausforderungen, die im Folgenden kurz dargestellt werden sollen. Sie betreffen auf praktischer Ebene zunächst Fragen des Datenmanagements, der Entkontextualisierung und der Datenselektion (Petros et al. 2016: 419). Im Datenmanagement ergeben sich durch die Arbeit mit Videodateien Herausforderungen in Bezug auf Speicherkapazitäten und die Fülle an (potentiell zu vielen) aufgenommenen Bildern. Die Arbeit mit Bewegtbildern ist zudem ein Handwerk, das auch die Auseinandersetzung mit bestimmter Hardware (Kamera) und Software (Schnittprogramme) erfordert. Forschende müssen somit ein Mindestmaß an Zeit in das Erlernen des Umgangs mit technischen Grundlagen investieren.

Entkontextualisierung beschreibt nach Petros et al. die Tatsache, dass im Auswertungsprozess der Videodaten häufig solche Einflussfaktoren ignoriert werden, die nicht im Videomaterial wiederzufinden sind (2016: 419). Dieser Umstand ist eng mit der Datenselektion verbunden: Häufig liegt die Entscheidungsmacht über Bild und Ton vorrangig bei den Forschenden (ebd.), die in ihrer einflussreichen Autor_innenschaft jedoch häufig unsichtbar bleiben. Auch nach Ballhaus nehmen die Forschenden bzw. Filmenden starken Einfluss auf den Verlauf und das Ergebnis der Forschung, und sollten demnach auch im wissenschaftlichen Film in ihrer richtungsgebenden und selektiven Rolle nicht unsichtbar bleiben (1995: 15). Diesen Herausforderungen lässt sich mithilfe des Videomaterials begegnen, in dem die Beteiligten des Forschungsprozesses auf den Aufzeichnungen sichtbar gemacht werden. Die Kamera kann dabei nicht nur zur Aufzeichnung der Interviews genutzt werden, sondern dokumentiert und beobachtet auch den Aufbau des Interviewsettings sowie Interaktionen der Forschenden mit den Teilnehmenden. Auf diese Weise werden die Forscherinnen ebenfalls „vor die Kamera” geholt, was einen demokratisierenden Effekt auf die Datenerhebung haben kann (Pink 2001: 87).

Die Autovideographie und das gemeinsame Besprechen des Materials mit den Teilnehmenden stellt eine weitere Möglichkeit dar, den Einfluss der research subjects auf die selektive Datenerhebung zu stärken und durch Partizipation dem traditionell ausgeprägten Machtungleichgewicht in der akademischen Wissensproduktion entgegenzuwirken. Herausforderungen liegen dabei insbesondere im Interpretationsprozess sowie bei der möglichen Darstellung der Forschungsergebnisse im wissenschaftlichen Film. Autovideographien schaffen einen neuen Zugang zu den individuellen Wahrnehmungen der Forschungssubjekte, funktionieren in dieser Form allerdings nur dann, wenn den Autor_innen der Bewegtbilder die Möglichkeit zur Erklärung ihrer Aufnahmen gegeben wird. So können Fehlinterpretationen durch die Forschenden vermieden werden. Auch sollte die Subjektivität der Forschenden in der Wissensrepräsentation anerkannt und offengelegt werden (Pink 2001: 19), was in der Arbeit mit Bewegtbildern vorrangig das Darstellungsmedium des wissenschaftlichen Films betrifft. Dieser baut – ebenso wie ein verschriftlichter Forschungsbericht – auf einem Narrativ der Forschenden auf (siehe Abschnitt 3.3). Auch in dieser Form der Ergebnisdarstellung sollten sich daher die gekennzeichneten Autovideographien der Teilnehmenden möglichst unverzerrt durch Veränderungen der Bild- und/oder Tonspur wiederfinden. Methodisch werden auf diese Weise Schnittmengen mit postkolonialen und feministischen Ansätzen deutlich, welche die Relevanz der gemeinsamen Bearbeitung und Deutung des gesammelten Materials mit den research subjects hervorheben (u.a. Büscher/Urry 2009; McFarlane/Robinson 2012; Ren/Luger 2015).

Weiterhin ist bei der Arbeit mit Bewegtbildern in Form von Videodateien eine Sensibilisierung für Datenschutzaspekte seitens der Forschenden und Forschungsteilnehmenden von gesteigerter Bedeutung. Ethische Aspekte und Regeln im Sinne einer „guten Forschungspraxis” müssen bei der Verwendung videobasierter Methoden auf diesen Bereich erweitert werden. Allgemein wird im Ethik-Kodex der Deutschen Gesellschaft für Soziologie das Prinzip der informierten Einwilligung festgelegt (Friedrichs 2014: 81; Deutsche Gesellschaft für Soziologie 2017). Transparenz gegenüber den Forschungsteilnehmenden ist demnach ebenso wie die möglichst umfassende Information über den Forschungsverlauf anzustreben, solange eine umfassende Vorabinformation nicht zu einer Verzerrung der Forschungsergebnisse führt (Deutsche Gesellschaft für Soziologie 2017). In Bezug auf die Arbeit mit videobasierten Daten bedeutet dies konkret, die Teilnehmenden genau über die geplante Verwendung der Videos zu informieren sowie Einverständniserklärungen einzuholen, die Bildrechte und das Löschen, Erhalten oder Verbreiten des Videomaterials gleichermaßen betreffen. Insbesondere bei intimen und emotional-konnotierten Themen muss im Sinne der Vertraulichkeit (Friedrichs 2014: 86) sichergestellt werden, dass die Forschungsteilnehmenden in ihrer Privatsphäre während, aber auch nach Abschluss des Forschungsprojekts geschützt werden.

Abschließend soll hier auch auf die Hürden verwiesen werden, die sich insbesondere für die Publikation und akademischen Anerkennung von bewegtbildbasierten Forschungsarbeiten auftun. Denn obwohl Video und Film als Darstellungsformate weitestgehend in vielen gesellschaftlichen und professionellen Bereichen angekommen sind, beschränkt sich das Gros der (anerkannten) wissenschaftlichen Veröffentlichungsmedien weiterhin auf textliche Darstellungsweisen in Journals und Printpublikationen. Die Aufgabe besteht hier darin, Anreize und Möglichkeiten für das Veröffentlichen von Videos und wissenschaftlichen Filmen zu schaffen, damit diese innerhalb wie außerhalb der Akademia Anerkennung finden können. Erste Onlineformate bieten bereits Optionen zur Einbindung von Videodateien, stellen damit bisher allerdings noch eine Randerscheinung dar. Damit sich die Arbeit mit Bewegtbildern in der qualitativen Sozialforschung gänzlich durchsetzen kann, müssen sich Veröffentlichungsformate, inklusive der hoch gerankten Journals, ebenfalls progressiv in diese Richtung orientieren.

5. Zusammenfassung und Fazit

Zusammenfassend lassen sich die hier vorgestellten Potenziale von Bewegtbildern für die qualitative Sozialforschung in vier Kernaspekten festhalten:

Anschaulichkeit
Zunächst ist es durch Videoaufnahmen besonders gut möglich, Räumlichkeiten und emotionale sowie affektgebundene Fragestellungen zu veranschaulichen. Bei der Arbeit mit Autovideographien wird den Forschungsteilnehmenden ein zusätzliches Medium an die Hand gegeben, durch das sie nicht nur das gesprochene oder geschriebene Wort, sondern eben auch persönliche bildhafte Perspektiven auf einen Raum oder Ort transportieren können. Insbesondere die Kombination der Medien Sprache/Text und Video/Film bietet hier Möglichkeiten einer neuen methodischen Tiefe für die Erforschung von Räumen. Durch die Darstellung der Ergebnisse im Format eines wissenschaftlichen Films lassen sich die erhobenen bildhaften Perspektiven, Emotionalität und Räumlichkeit direkter an ein breites Publikum vermitteln und sind medienkongruent.

Partizipation
Autovideographien haben das Potenzial, Forschungsprozesse (deutungs-)offener zu gestalten, weil sie Themensetzungen durch die Teilnehmenden integrieren kann. Durch diese Methode kann die Deutungsmacht der Forschenden etwas in den Hintergrund rücken und den Teilnehmenden eine korrektive Rolle im Forschungsprozess zuweisen. So können neue Zugänge entwickelt werden, die unter größerem Einfluss von nicht-akademischem Wissen und Erfahrungen stehen. Dies bezieht sich insbesondere auf die Darstellung von Ergebnissen in Form eines wissenschaftlichen Films. Hier können erhobene Daten direkt abgebildet werden und durch ihren vielschichtigen Informationsgehalt den Betrachtenden einen eigenen Zugang ermöglichen.

Zugänglichkeit
Die Arbeit mit Autovideographien erweitert den wissenschaftlichen Methodenkoffer zudem um ein weiteres Medium, was der Zugänglichkeit von Forschungsprozess und Ergebnisdarstellung zugutekommt. Sie bietet eine Alternative zu der häufig rein text- und sprachbasierten Datenerhebung und -darstellung und bedient sich der Möglichkeiten, die der alltäglich gewordene Umgang mit visuellen Medien eröffnen kann. So können im Erhebungsprozess auch solche Personengruppen angesprochen und eingebunden werden, die durch sprachliche und schriftliche Methoden zuvor womöglich schwieriger zu erreichen gewesen wären. Darüber hinaus macht die Darstellungsform des wissenschaftlichen Films die zusammengetragenen und analysierten Forschungsergebnisse sichtbar für ein breites Publikum, das nicht zwingend Expertise im Lesen und Verstehen eines „akademischen Vokabulars” aufweisen muss.

Zeitgemäßheit
Digitale und bildbasierte Kommunikation ist ubiquitär, gesellschaftliche Diskurse werden zunehmend visuell geführt und durch Smartphones ist die Produktion, Verbreitung und Erreichbarkeit von Videomaterial für einen Großteil der Menschen möglich geworden. Gerade in der wissenschaftlichen Zusammenarbeit mit Menschen, die von Bewegtbildern als Medium unserer Zeit geprägt sind, bieten sich diese an, um subjektive Sichtweisen und Perspektiven sichtbar und erfahrbar zu machen.

Für die Ergebnisdarstellung ist das Format des wissenschaftlichen Films in Ergänzung zur textbasierten Analyse aus denselben Gründen vorteilhaft. Wissenschaft, die gesellschaftliche Zusammenhänge erforscht, sollte sich in der Pflicht sehen, auch ihre Forschungsergebnisse möglichst barrierearm für ein breiteres Publikum außerhalb der Akademia zur Verfügung zu stellen. Die Hinwendung unserer Gesellschaften zum Bewegtbild sollte sich deswegen auch in den wissenschaftlichen Methoden zu deren Erforschung wiederfinden.

Literatur

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Zitiervorschlag

Abstiens, Lena und Lin Hierse (2017): Bewegte Räume: Potenziale von Videographie und Film als Methoden der qualitativen Sozialforschung. In: sozialraum.de (9) Ausgabe 1/2017. URL: https://www.sozialraum.de/bewegte-raeume-potenziale-von-videographie-und-film-als-methoden-der-qualitativen-sozialforschung.php, Datum des Zugriffs: 23.04.2024