Partizipative Sozialraumforschung im Kontext sozialpädagogischen Ortshandelns: Zur Weiterentwicklung der Methode der Autofotografie im Anschluss an Paulo Freires Prinzip von Kodierung/Dekodierung
Michael May
1. Zu unterschiedlichen sozialräumlichen Perspektiven auf sozialpädagogisches Ortshandeln
Der folgende Beitrag sucht im Kontext partizipativer Sozialraumforschung die Methode der Autofotografie im Anschluss an Paulo Freires Prinzip von Kodierung/Dekodierung weiterzuentwickeln, um unter Bezug auf Henri Lefebvres Raumanalytik raumbezogene Interessenorientierungen der Nutzenden von Arrangements sozialpädagogischen Ortshandelns (Winkler 1988) zu rekonstruieren. Dass er dabei exemplarisch immer wieder auf das Feld Offener Jugendarbeit zurückgreift, begründet sich daraus, dass in diesem Sozialraumorientierung in besonderer Weise sowohl in konzeptioneller als auch analytischer Weise schon seit geraumer Zeit im Fokus steht.
So haben Böhnisch und Münchmeier in ihrem Buch „Wozu Jugendarbeit?“ ihren Vorschlag begründet, sich konzeptionell darauf zu verständigen, dass „Jugendliche eigenverfügbare Räume zu ihrer personalen und sozialen Entfaltung brauchen“ (1987, S. 26). Schon vorher war in DFG-Projekt „Zum Handlungsraum von Jugendlichen als Teil ihrer Lebenswelt“ (Becker et al. 1984) empirisch untersucht worden, in welcher Weise Heranwachsende – wenn überhaupt – auch sozialpädagogisch zur Verfügung gestellte Orte entsprechend ihrer je eigenen sozio-kulturell geprägten Interessenlagen aneignen. Da dies relativ unabhängig von dem zu erfolgen scheint, welche Programmatiken dort im Rahmen eines sozialpädagogischen Ortshandelns von den dort tätigen Fachkräften verfolgt werden, wurden in diesem Forschungsprojekt auch die dadurch sich ergebenen Spannungsverhältnisse rekonstruiert. Und ebenso wurden in diesem auch die Konflikte und Kompromisse untersucht, die sich an solchen Orten dadurch ergeben, dass unterschiedliche (Gruppierungen von) Jugendliche(n) dort ihre jeweils spezifischen Interessen zu verwirklichen trachten. Herausgearbeitet werden konnte so auch, wie die entsprechenden Orte auf diese Weise eine ganz spezifische Funktion im Geflecht deren sehr viel weiter ausgreifender Handlungsräume gewinnen. Und so waren solche unterschiedlichen Nutzungsformen auch ein zentraler Grund für den von Böhnisch und Münchmeier unterbreiteten und begründeten Vorschlag, Offene Kinder- und Jugendarbeit als Infrastruktur zu legitimieren.
Ulrich Deinet hat in diesem Zusammenhang vor dem in der Praxis häufig vorzufindenden „Missverständnis“ (2011, S. 169) gewarnt, dass eine solche Infrastruktur von Heranwachsenden quasi automatisch angeeignet werden könnte. Wie schon das DFG-Projekt „Zum Handlungsraum von Jugendlichen“ gezeigt hat, können Fachkräfte der Offenen Jugendarbeit über ihre Funktion als „Raumwärter“ solche Aneignungsmöglichkeiten sehr stark einschränken. Auch „[r]äumliche Strukturen, wie die Größe, die Ausstattung und Lage einer Einrichtung im Stadtteil, die potentiellen Möglichkeiten, Räume zu verändern, die ‚Offenheit‘ und Zugänglichkeit des Eingangsbereiches, die Gelegenheit, verschiedene Zugangsoptionen zu schaffen bzw. generell die verfügbaren Ressourcen“ (Krisch 2009, S. 171) beeinflussen sowohl die Zugangs- wie Aneignungsmöglichkeiten massiv.
Zwar versteht sich der Ansatz einer „sozialräumlichen Jugendarbeit“ vermittels der „Anwendung vielfältiger partizipativer Methoden einer qualitativen Lebensweltanalyse auch als Form einer in der Jugendarbeit notwendigen Konzeptentwicklung sowie als Ansatz einer Praxisforschung“ (Deinet 2011, S. 162). Im „Entwurf einer mehrdimensionalen Theorie der Jugendarbeit – Modell zur Integration ‚raumorientierter‘, ‚pädagogischer‘ und anderer Ansätze“ hat Burkhard Müller jedoch darauf hingewiesen, dass Sozialraumorientierung als analytische Perspektive im Hinblick auf eine „schärfere […] Realitätswahrnehmung nicht zwingend an ein Konzept gebunden [ist], das Raumaneignung […] als Medium pädagogischen Handelns in den Mittelpunkt rückt“ (1998, S. 39). Über den „konzeptionellen Entwurf“ (ebd.) einer „sozialräumlichen Jugendarbeit“ (ebd.) hinausgehend, zielt diese analytische Perspektive auf deren „theoretisches Fundament“ (ebd.).
Freilich gelten diese Überlegungen nicht nur für den Bereich der Offenen Jugendarbeit, sondern für jegliches sozialpädagogisches Ortshandeln. Und so lässt sich der hier skizzierte Ansatz einer Weiterführung der sozialräumlichen (Untersuchungs-)Methode der Autofotografie im Anschluss an Freires Prinzip von Kodierung/Dekodierung – wie diese in ihrer klassischen Form – sowohl unter einer rein analytischen Perspektive als partizipative Sozialraumforschung auch auf sozialpädagogische Arrangements beziehen, die konzeptionell nicht „Raumaneignung […] als Medium pädagogischen Handelns in den Mittelpunkt“ (ebd.) rücken. So ist doch aus der Perspektive Michael Winklers „Theorie der Sozialpädagogik“ für jegliches „sozialpädagogisches Denken in pragmatischer Absicht“ (Winkler 1988, S. 278) die Frage konstitutiv, „wie ein Ort beschaffen sein muß, damit ein Subjekt an ihm leben und sich entwickeln kann“ (ebd., S. 278 f.). Der hier skizzierte methodische Ansatz lässt sich jedoch auch konzeptionell in ein solch pragmatisches sozialpädagogisches Ortshandeln einbinden, gerade wenn es darüber hinaus das Ziel verfolgt, dass die in seinem Rahmen vorstrukturierten sozialräumlichen Arrangements von diesem Subjekt auch „als Lebensbedingungen kontrolliert“ (ebd., S. 279) und in einer Weise angeeignet werden sollen, dass es sich mit seiner menschlichen Subjektivität im Zuge einer „dauernden Humanisierung“ (Freire 1975, S. 76) zu verwirklichen vermag.
2. Zentrale Kategorien einer Raumanalytik
Als Grundlage einer solchen analytischen Perspektive habe ich (May 2016a; 2017a) die auf Henri Lefebvre (1991) zurückgehende Unterscheidung zwischen einer Repräsentation des Raumes und Räumen der Repräsentation vorgeschlagen. Als Repräsentation des Raumes bezeichnet Lefebvre (ebd., S. 38) jene Dimensionen eines Ortes, wie er architektonisch-planerisch in der Gleichsetzung von Erlebten und Wahrgenommenen mit dem Entworfenen konzeptionalisiert wurde. Meiner Ansicht nach lässt sich dieser Begriff darüber hinaus auch gut auf das beziehen, was Michael Winkler sozialpädagogisches Ortshandeln bezeichnet hat.
Mit dem Begriff von Räumen der Repräsentation hingegen fasst Lefebvre (1991, S. 39), wie die physische Beschaffenheit eines Ortes von Nutzenden symbolisch in Gebrauch genommen wird und die mit dem Ort verbunden Symbole und Images durch diese erlebt werden. Diese Aneignung von Orten im Rahmen mehr oder weniger kohärenter Systeme nonverbaler Symbole kann – wie er vermerkt – durchaus unterschiedlich sein. Deshalb halte ich diese Kategorie auch für sehr geeignet, um zu untersuchen, wie eine im Rahmen sozialpädagoischen Ortshandelns kreierte ortsbezogene Raumstruktur als entsprechende Repräsentation des Raumes – die neben der physikalischen Örtlichkeit und ihrer Möblierung auch die dort geltenden Regelungen sowie deren soziale Durchsetzung und Kontrolle umfasst – durch bestimmte (soziokulturelle Gruppen von) Jugendliche(n) als Raum der Repräsentation ihrer jeweils spezifischen Erfahrungen, Lebensentwürfe und Interessen angeeignet werden kann und auch angeeignet wird.
Im schon erwähnten DFG-Projekt „Zum Handlungsraum von Jugendlichen“ (Becker et al. 1984) wurde mit dem Begriff raumbezogene Interessenorientierungen analysiert, mit welchen Strategien Heranwachsende die von ihnen auf eine spezifische Weise interpretierten dinglichen, kulturellen und sozialen Objekten einer ortsbezogenen Raumstruktur ihren Bedürfnissen entsprechend zu beeinflussen oder zu verändern suchen. Der Begriff der raumbezogenen Interessenorientierungen bezieht sich dabei auf einen „Bereich, der zwischen Menschen qua Menschen liegt, [...] also den Zwischenraum, in dem Menschen sich bewegen und ihren jeweiligen, objektiv-weltlichen Interessen nachgehen. Diese Interessen sind im ursprünglichen Wortsinne das, was ›inter-est‹, was dazwischen liegt und die Bezüge herstellt, die Menschen miteinander verbinden und zugleich voneinander scheiden“ (Arendt 2010, S. 224).
Solche Ansätze von Jugendlichen, sich in der Vernetzung entsprechender raumbezogener Interessenorientierungen einen Rahmen von Sozialraum zu schaffen, um der Repräsentation ihrer spezifischen Erfahrungen und Lebensentwürfe innerhalb einer konkreten ortsbezogenen Raumstruktur Geltung zu verschaffen, wurden in diesem Projekt auch als eine Willenskundgebung rekonstruiert, wie ein solcher Rahmen als Bedingung der Möglichkeit auszusehen hätte, um eigene Bedürfnisse erst einmal entfalten und in der Aneignung dann auch befriedigen zu können sowie darüber vermittelt schließlich ihre eigene Subjektivität zu verwirklichen.
Im Hinblick auf die Aneignung von Orten als Räume der Repräsentation im Rahmen mehr oder weniger kohärenter Systeme nonverbaler Symbole hat Alfred Lorenzer jedoch darauf hingewiesen, dass selbst bei einer „Übereinstimmung [...] von (sichtbaren) Symbolen, dem, wofür sie stehen und der »inneren Struktur« der Gruppenmitglieder (ihrem Ich-Ideal)“ (1979, S. 81), „noch nichts über die Art der Anpassungs- und Veränderungsprozesse gesagt [ist] – ob und inwieweit Ideale und Symbole [...] den einzelnen in seiner personalen Eigenart bestätigen oder inwieweit sie ihn unter das Joch eines mehr oder minder aufgezwungenen, relativ ich-fremden Systems beugen“ (ebd.).
Dieses Problem betrifft auch die Autofotografie als eine Methode partizipativer Sozialraumforschung (Deinet/Krisch 2009). In deren Rahmen werden Nutzende eines bestimmten Sozialraumes aufgefordert, selbst unter einer spezifischen Thematik Fotos von diesem anzufertigen. Durchaus können dabei sozialräumliche Arrangements, wie sie im Rahmen eines sozialpädagogischen Ortshandelns konzeptionalisiert wurden, fokussiert werden. Zweifellos lässt sich auf diese Weise „[d]urch die Auswahl der fotografierten Objekte, wie auch durch die Form der Abbildung [...] eine Sammlung von Eindrücken“ (ebd.) im Rahmen der einzelnen Fotoreihen gewinnen, was an der entsprechenden sozialpädagogischen Repräsentation des Raumes die jeweiligen (Gruppierungen von) Nutzenden „selbst in ihrem sozialräumlichen Bezug wichtig finden“ (ebd.) und wie sie diese „bewerten“ (ebd.). Insofern spezifische soziale Inszenierungen der Nutzenden dieser Arrangements sozialpädagogischen Ortshandelns fotografiert werden, lassen sich sogar ansatzweise Einblicke gewinnen, wie verschiedene Nutzungsgruppen sich diese als Raum der Repräsentation ihrer eigenen Erfahrungen und Lebensentwürfe sozialräumlich anzueignen versuchen.
Um aber zu untersuchen, ob die Aneignung einer im Rahmen sozialpädagogischen Ortshandeln konzeptionalisierten Repräsentation des Raumes als Raum der Repräsentation im Rahmen eines mehr oder weniger kohärenten Systems nonverbaler Symbole deren jeweilige „personale Eigenart“ bestätigt und darüber eine Verwirklichung menschlicher Subjektivität in dieser spezifischen Form befördert, scheint es notwendig, die Methode der Autofotografie weiter zu entwickeln. Einerseits weisen Deinet und Krisch darauf hin, dass das „Medium der Fotografie [...] noch einmal neue Möglichkeiten [eröffnet], gerade für Kinder und Jugendliche, die sprachlich weniger gewandt sind und anstatt einer guten Beschreibung hier interessante Fotos machen“ (ebd.). Problematisch erscheint dabei jedoch nicht nur die soziokulturell höchst unterschiedlich verteilte Kompetenz, fotografische Techniken als persönliches Ausdrucksmittel zu nutzen. Sehr viel gravierender wirkt sich in verzerrender Weise die unbewusste mediale Einsozialisierung in ganz bestimmte Perspektiven aus. So verfügt die Mehrzahl der Mädchen, die sich in ihren „Selfies“ für entsprechende sogenannte „Soziale Medien“ von oben fotografieren ebenso wenig über ein Bewusstsein bezüglich dieser Perspektive, wie die Jungs, die sich in umgekehrter Weise von unten ablichten. Vor diesem Hintergrund liefert eine gewöhnliche Autofotografie nicht unbedingt Hinweise auf die jeweilige „personale Eigenart“.
Auf der anderen Seite betonen Deinet und Krisch, dass erst dann wenn die Fotografierenden „die von ihnen gemachten Fotos erklären und beim gemeinsamen Anschauen ihre Interpretationen und Wahrnehmungen kommunizieren können“ (ebd.), die Methode der Autofotografie „im Rahmen einer Sozialraumanalyse einen eigenen Wert“ (ebd.) erlangt. Sie begnügen sich in diesem Zusammenhang jedoch mit dem Verweis auf die „in der qualitativen Sozialforschung vielfach übliche Gruppendiskussion“ (ebd.). Vor dem Hintergrund, dass in dieser Weise die Fotos wie eine Kodierung fungieren, die dann in einer solchen Gruppendiskussion dekodiert werden, bietet sich zur methodischen Konkretisierung bzw. Schärfung ein Anknüpfen an Paulo Freires Prinzip von Kodierung/Dekodierung an.
3. Zur methodologischen Begründung des Prinzips Kodierung/Dekodierung
Freire hat das dialogisch-dialektische Prinzip von Kodierung/Dekodierung im Rahmen seines Konzeptes einer thematischen Untersuchung als „einem gemeinsamen Bemühen“ (1975, S. 89) von Forschenden und Betroffenen, „die Wirklichkeit ebenso wie sich selbst wahrzunehmen“ (ebd.), entwickelt. Dabei geht er davon aus, dass „die gleiche konkrete Tatsache unterschiedliche Komplexe generativer Themen [...] erzeugen“ (ebd.) kann. Generativ nennt Freire Themen – „was immer sie auch enthalten und welche Aktion auch immer sie hervorrufen mögen“ (ebd.; S. 84 Anm. 19) – weil sie „die Möglichkeit enthalten, in viele mögliche Themen weiter entfaltet zu werden, die ihrerseits nach der Durchführung neuer Aufgaben verlangen“ (ebd.).
Von besonderer Bedeutung für Freire sind in solchen generativen Themen enthaltene Grenzsituationen, die wiederum umgekehrt solche Themen provozieren (vgl. ebd., S. 84f.). Ursprünglich geprägt wurde der Begriff der Grenzsituation von Karl Jaspers (1990) als ein existenzphilosophischer im Hinblick auf Situationen, in denen der Mensch endgültig und unausweichlich an die Grenzen seines Seins stößt. Aufgegriffen hat Freire ihn jedoch im Sinne von Álvaro Vieira Pinto (1960, S. 284), der Grenzsituationen „nicht mehr als Grenze zwischen Sein und Nichts“ (Freire 1975, S. 85), sondern als reale „Grenze zwischen Sein und Menschlicher-Sein“ (ebd.) begreift. Vor diesem Hintergrund sieht Freire „Menschen [...] als Wesen «in einer Situation», in zeitlich-räumlichen Bedingungen verwurzelt, die sie kennzeichnen und von denen sie auch gekennzeichnet werden“ (ebd.: S. 91).
Entsprechend stehen sozialräumliche Aspekte in Freires Begriff von Grenzsituation immer mit im Fokus. Allerdings bilden Widersprüche als Ausdruck eines „dialektischen Konflikt[s] zwischen entgegengesetzten Sozialgruppen“ (ebd., S. 33 Anm. 2), für Freire „die eigentlichen Grenzsituationen, sie schließen Themen ein und weisen auf Aufgaben hin“ (ebd., S. 94). Deshalb gilt es für ihn auch – „obwohl die Grenzsituationen objektive Realitäten sind, die im einzelnen Bedürfnisse erzeugen“ (ebd.), weil in ihnen ein Mangel zum Ausdruck kommt – „mit diesen einzelnen ihre Ebene der Wahrnehmung dieser Situation [zu] untersuchen“ (ebd.).
Nun sieht Freire den „grundlegenden Widerspruchskern“ (ebd.) im „dialektischen Konflikt“ (ebd., S. 33 Anm. 2) zwischen Unterdrücker und Unterdrückten. Diese Begriffe erscheinen im Hinblick auf das Feld pädagogischen Ortshandelns und der Offenen Jugendarbeit zu starke Kategorien. Doch auch hier lassen sich Widersprüche ausmachen, die in Unterdrückung umschlagen und zwar nicht nur zwischen unterschiedlichen (Gruppierungen von) Nutzenden, sondern durchaus auch im Zusammenhang mit dem sozialpädagogischem Ortshandeln selbst. So werden darin häufig nicht nur bestimmte, als sozial unerwünscht erachtete Lebensäußerungen und die sich darin ausdrückenden Eigenschaften und Vermögen – mehr oder weniger pädagogisch legitimiert – unterdrückt. Noch sehr viel gravierender wird Unterdrückung indirekt durch den Entzug der Verwirklichungsbedingungen für bestimmte Eigenschaften und Vermögen wirksam, worauf u.a. auch der Capability Approach (vgl. Otto 2010) fokussiert. Angesichts des Ausmaßes und der Ausdruckformen von Unterdrückung, mit denen Freire in Lateinamerika und später dann auch anderen Ländern des geopolitisch „globalen Südens“ konfrontiert war, scheint vor diesem Hintergrund vielleicht der von Dewe und Otto (2012, S. 205) im Anschluss an Negt und Kluge (1981) verwendete Begriff von Blockierungszusammenhängen etwas angemessener.
Als Teil solcher Blockierungszusammenhänge verweist der Entzug von Verwirklichungsbedingungen auf spezifische (sozial-)räumliche Strukturen, die ja gesellschaftlich (vgl. Lefebvre 1991) und nicht zu Letzt auch gezielt im Rahmen eines sozialpädagogischen Ortshandelns entsprechend produziert werden. Im Hinblick auf eine raumanalytische Perspektive im Anschluss an Lefebvre lässt sich Freires Grenzsituationen-Begriff in einem etwas weiteren Sinne dann auch auf die Frage beziehen, inwieweit sich eine konkrete, über sozialpädagogisches Ortshandeln konzeptionalisierte Repräsentation des Raumes für bestimmte Nutzungsgruppen als blockierend für die Verwirklichung ihrer menschlichen Subjektivität erweist und sie hindert, diese konkrete ortsbezogene Raumstruktur als einen Raum der Repräsentation ihrer spezifischen Lebenserfahrungen und -entwürfe sozialräumlich anzueignen.
Nun werden Blockierungszusammenhänge von den Betroffenen jedoch nicht unbedingt immer als Grenzsituationen symbolisiert. Freire geht davon aus, dass diese in dem Maße beginnen, „auf ihre eigene «Situationalität» [...] zu reflektieren, in dem sie von ihr dazu herausgefordert sind, an ihr zu handeln“ (1975, S. 85) und in diesem Zusammenhang „anfangen können, sie als objektive problematische Situation zu begreifen“ (ebd.). Das gilt ebenso für die sozialräumlichen „Bezüge [...], die Menschen miteinander verbinden und zugleich voneinander scheiden“ (Arendt 2010, S. 224). Auch solche sozialräumlichen Konstellationen treten in ihrer Situationalität, „[e]inmal von Menschen als Schranke begriffen, [...] reliefartig aus dem Hintergrund heraus und offenbaren ihr eigentliches Wesen als konkret historische Dimension einer gegebenen Wirklichkeit“ (Freire 1975, S. 82), die herrschaftlich – oder wie Freire sagen würde – von Unterdrückung durchsetzt ist.
Freirepostuliert in diesem Zusammenhang, dass wenn Betroffene Grenzsituationen in dieser Weise als Herausforderung begreifen, ihrer eigenen Humanität zu verwirklichen, sie auch damit beginnen, „ihre zunehmend kritischen Aktionen darauf abzustellen, die unerprobte Möglichkeit, die mit diesem Begreifen verbunden ist, in die Tat umzusetzen“ (ebd., S. 85). Dazu aber müssen zunächst zumindest einzelne der situativen Faktoren eines sich eben auch sozialräumlich manifestierenden Blockierungszusammenhangs von den Betroffenen nicht nur als praktisch relevant, sondern darüber hinaus als grundsätzlich veränderbar erachtet werden. An anderer Stelle habe ich gezeigt (vgl. May 2005, S. 157 ff.), wie in dieser Weise erst im Zusammenhang mit der Antizipation eines – wie Bloch (1979, S. 264ff.) es nennt – sachhaft-objektgemäß Möglichen entsprechende blockierende bzw. begrenzende Faktoren und raum-zeitlich eingegrenzte Situationen, in denen diese wirksam werden, für die Betroffenen als Herausforderung wahrgenommen werden können, die eine Antwort auf der Ebene von Handeln erfordern. Denn erst so eröffnen sich für diese neue Handlungs-Möglichkeiten. Erscheinen diese im Rahmen eines – wie Freire (vgl. 1977) es nennt – symbolvermittelnden Handeln als tragfähig, kann der nun erst als Grenzsituation symbolisierte, situativ sich manifestierende Blockierungszusammenhang einen solchen Herausforderungscharakter gewinnen, dass die Betroffenen in entsprechenden Grenzakten das für sie in dieser Situation objektiv-real Mögliche (Bloch 1979, S. 271 ff.) zu verwirklichen suchen.
Mit dem dialogischen Prinzip von Kodierung / Dekodierung sucht Freire Menschen, die in der Verwirklichung ihrer menschlichen Subjektivität als Kern ihrer Humanität bisher unterdrückt bzw. blockiert wurden, didaktisch darin zu unterstützen, entsprechende Situationen zu symbolisieren, in denen sich solche Blockierungszusammenhänge manifestieren. In Freires aufwendigem Konzept von thematischer Untersuchung wählen in einem interdisziplinären Wissenschaftsteam Forschende auf der Basis einer aufwendigen Ethnographie selbst schon in einem iterativen Verfahren von Kodierung und Dekodierung „einige Widersprüche aus, damit sie die Kodierungen entwickeln können“ (Freire 1975, S. 95), die dann letztendliche durch die Betroffenen selbst dekodiert werden. Eine entsprechende Kodierung einer Grenzsituation „besteht in einer solchen Repräsentation dieser Situation, die einige ihrer konstitutiven Bestandteile in ihrer Interaktion zeigt“ (ebd., S. 87 Anm. 21). Freire hat dabei auch schon auf die Form „einer Fotografie, die durch Abstraktion zur Konkretheit der existentiellen Realität führt“ (ebd., S. 88) zurückgegriffen.
Kodierungen müssen von daher nicht nur „so weit wie möglich Widersprüche re-präsentieren [...] «inklusive» anderer, die miteinander das System der Widersprüche bilden“ (ebd., S. 97), in der die entsprechende Gruppe involviert ist, sondern vor allem auch erlauben, dass „das Subjekt sich im Objekt wiedererkennt (die kodierte, konkrete, existentielle Situation) und das Objekt als die Situation erkennt, in der es sich selbst mit anderen Subjekten zusammenfindet. Wenn die Kodierung gelungen ist, dann führt diese Bewegung […] vom Abstrakten zum Konkreten, die in der Analyse einer kodierten Situation entsteht, zur Überwindung der Abstraktion durch die kritische Auffassung des Konkreten, das damit bereits aufgehört hat, eine festgefügte, undurchdringliche Wirklichkeit zu sein“ (ebd., S. 87).
4. Zur Vermittlung des Prinzips Kodierung/Dekodierung mit einem weiterentwickelten Ansatz von Autofotografie
Nun stehen ja selbst im Wissenschaftskontext im Rahmen von Drittmittelforschung in den seltensten Fällen die Ressourcen für ein solch aufwendiges Verfahren zur Verfügung, wie Freire sein Konzept von thematischer Untersuchung angelegt hat. Und für die Frage nach den raumbezogenen Interessenorientierungen von Nutzenden sozialräumlicher Arrangements sozialpädagogischen Ortshandelns und ob es diesen gelingt, solche konkrete Formen einer sozialpädagogischen Repräsentation des Raumes im Zuge der Vernetzung dieser Interessenorientierungen als Raum der Repräsentation ihrer je spezifischen Lebenserfahrungen und -entwürfe sozialräumlich anzueignen, scheint dies auch nicht unbedingt erforderlich. Vor dem Hintergrund, dass auch Freire schon im ersten Teil seines Konzeptes einer thematischen Untersuchung im Rahmen der Dekodierung der als Kode fungierenden ethnographischen Berichte in der interdisziplinären Forschungsgruppe Freiwillige aus dem Kreis derjenigen einbezogen hat, auf deren Erleben von Widersprüchen und Grenzsituationen und den damit verbundenen generativen Themen sich die Untersuchung bezieht, bietet es sich in diesem Fall an, gleich mit Freiwilligen, welche die verschiedenen Nutzungsweisen der interessierenden sozialräumlichen Arrangements sozialpädagogischen Ortshandelns repräsentieren, gemeinsam Kodierungen zu produzieren.
Freilich wäre dazu die klassische Methode der Autofotografie wegen den angesprochenen Verzerrungen aufgrund soziokultureller Kompetenzunterschiede in den fotografischen Ausdrucksmöglichkeiten – vor allem aber seitens der Überformung durch unbewusst einsozialisierte mediale Perspektiven – suboptimal. Um diesen Verzerrungen entgegenzuwirken könnten die Nutzenden von sozialräumlichen Arrangements sozialpädagogischen Ortshandelns durch Fachkräfte angeleitet werden, die für sie bedeutsamen Orte, deren Möblierung und präsentativen Symbole sowie ihre eigenen Nutzungsformen – vor allem im Rahmen sinnlich-symbolischer Interaktionsformen (Lorenzer und Görlich 2013) – aus ganz unterschiedlichen Perspektiven, wie Totale, Halbtotale oder Nahaufnahmen aus verschiedenen Richtungen, und – wenn entsprechende Kameras zur Verfügung stehen – auch mit weiteren fotographischen Akzentuierungen, wie Blende oder Belichtung, aufzunehmen.
Der Beitrag der fachlichen Anleitung / Begleitung hat sich bei dieser Form der Kodierung in jedem Fall auf Hinweise zu beschränken, unter welch unterschiedlichen Perspektiven und welchen Kammeraeinstellungen ein von den Nutzenden ausgewähltes Motiv fotografiert werden kann. Um subtile inhaltliche Beeinflussungen zu vermeiden, wäre es von daher sinnvoll, dass diese fototechnische Anregung und Unterstützung nicht von denjenigen vorgenommen wird, die selbst solche sozialräumlichen Arrangements in ihrem sozialpädagogischen Ortshandeln mit dem „Anspruch einer strukturierenden Kompetenz“ (Deinet 2011, S. 169) konzeptionalisiert haben und entsprechend zu ordnen versuchen.
Wichtig ist darüber hinaus, dass möglichst viele verschiedenen Perspektiven und Effekte für die unterschiedlichen, von den Nutzenden ausgewählten Motive ausprobiert werden. Um das an einem einfachen, für die Offene Jugendarbeit aber geradezu klassischem Beispiel zu erläutern, wäre der Tischkicker nicht einfach bloß – wie vermutlich im Rahmen einer herkömmlichen Autofotografie – aus einer Totalen oder Halbtotalen zu fotografieren. Vielmehr sollten auch Nahaufnahmen der konzentrierten Gesichter oder der Hände an den Griffen realisiert werden und auch Aufnahmen des Spielfeldes mit einer langen Belichtungszeit sowie eine Perspektive von unten zwischen den gespreizten Beinen hindurch etc. etc..
Der Dekodierungsprozess beginnt dann bereits damit, dass diejenigen, welche in dieser Weise ein bestimmtes Motiv aus unterschiedlichen Perspektiven fotografiert haben, verständlicherweise daran interessiert sind, welchen Bildeffekt sie auf diese Weise erzeugt haben. Wenn sie dabei die Resultate der verschiedenen Kameraeinstellungen vergleichend – auch in ihrer Wirkung – diskutieren und abwägen, um schließlich bestimmte Perspektiven zu präferieren, geht es dabei nicht allein um ästhetische Maßstäbe. Vielmehr werden hier die Motive der Einzelnen bzw. Gruppe deutlich, welche sich an solche sozialräumlichen Arrangements mitsamt ihrer präsentativen Symbolik wie auch an ihre spezifischen Nutzungsformen binden. Die Doppeldeutigkeit des Wortes Motiv als Bildthema und Handlungsinteresse verweist auf diese Beziehung. So werden vielleicht einige das Motiv der konzentrierten Gesichter bevorzugen, andere das des Spielfeldes mit einer langen Belichtungszeit und wieder andere die Aufnahme zwischen ihren gespreizten Beinen hindurch.
In solchen Motiven, die sich nicht nur in den interpretativen, sondern dann auch den handelnd-strategischen Bezügen auf ein bestimmtes, im Rahmen sozialpädagogischen Ortshandelns konzeptionalisiertes sozialräumliches Arrangement umsetzen, artikulieren sich deren raumbezogenen Interessenorientierungen jeweils situativ. Für diejenigen, welche die Nahaufnahmen ihrer Gesichter oder Hände bevorzugen, steht beim Kicker wohl die Technikkontrolle im Vordergrund – bei denjenigen, die sich für das mit einer langen Belichtungszeit fotografierte Spielfeld entschieden haben, der Rausch der Geschwindigkeit im Spiel – und bei denjenigen, die sich von der Aufnahme durch ihre gespreizten Beine hindurch fasziniert zeigen, könnten Inszenierungen von Männlichkeit bedeutsam sein.
Zugleich offenbart sich mit den auf diese Weise zunächst erst ansatzweise dekodierten raumbezogenen Interessenorientierungen der Maßstab, auf dessen Grundlage Nutzende sozialpädagogischen Ortshandelns beurteilen, ob es ihnen gelungen ist, das von ihnen auf eine spezifische Weise – welche auch für das Handeln selbst von Bedeutung ist (!) – interpretierte sozialräumliche Arrangement sozialpädagogischen Ortshandelns für sich gebrauchswertförmig nutzbar zu machen. Die am Beispiel der sich auf das Kickerspiel richtenden Motive deutlich werdenden raumbezogenen Interessenorientierungen – welche einmal stärker die Technikkontrolle, bei anderen aber den Rausch der Geschwindigkeit und wieder anderen Männlichkeitsinszenierungen akzentuieren – dürften sich auch darüber hinaus im Hinblick auf die Aneignung sozialräumlicher Arrangements sozialpädagogischen Ortshandelns als bedeutsam erweisen.
Freire (1975, S. 80) hat in diesem Zusammenhang den Begriff der Denksprache geprägt, mit der die Betroffenen „sich auf die Wirklichkeit beziehen, [...] ihre Wirklichkeit begreifen“ (ebd.) als „ihre Sicht der Welt, in der sie ihre generativen Themen finden“ (ebd.). Über diese Denksprache erweisen sich dann auch kodierte Grenzsituationen als „Herausforderung innerhalb eines Gesamtzusammenhangs und als mit anderen Problemen verknüpft“ (ebd., S. 66). Um dies zu rekonstruieren, ist jedoch ein systematischerer Dekodierungs-Prozess von Nöten als bei den spontanen Einzel-Dekodierungen im unmittelbaren Anschluss an die fotografischen Kodierungen. Denn erst durch den dialogisch-analytischen Blick auf die Gesamtheit dieser Kodierungen gewinnt der implizite Zusammenhang entsprechender raumbezogener Interessenorientierungen auch für die Nutzenden selbst Gestalt. Und erst in der dialogischen Selbstvergewisserung ist entscheidbar, ob und inwieweit spezifische, über sozialpädagogisches Ortshandeln konzeptionalisierte räumliche Arrangements, wie sie in möglicherweise ganz unterschiedlichen Kodierungenvon Seiten verschiedener Nutzender re-präsentiert wurden, „den jeweiligen einzelnen in seiner personalen Eigenart bestätigen oder [...] ihn unter das Joch eines mehr oder minder aufgezwungenen, relativ ich-fremden Systems beugen“ (Lorenzer 1979, S. 81), das sich in den entsprechenden sozialräumlichen Arrangements sozialpädagogischen Ortshandeln manifestiert (vgl. May 2017a).
Vor diesem Hintergrund zielt eine systematische Dekodierung im Rahmen partizipativer Sozialraumforschung einerseits auf die dialogische Rekonstruktion entsprechender sozio-kulturell geteilter, übergreifender Muster raumbezogener Interessenorientierungen. Anzustreben ist dabei zugleich auch „eine Einholung“ (Lorenzer und Würker 2013, S. 194) darin zumindest latent enthaltener, „an sich vom öffentlichen Konsens ausgeschlossener, unbewusster Lebensentwürfe“ (ebd.), um diese im dialogischen Prozess der Dekodierung „aus dem Bannkreis privaten Leides“ (ebd.) herauszulösen und „öffentlich“ (ebd.) werden zu lassen.
5. Zur Didaktik einer systematischen Dekodierung aufnahmetechnisch geweiteter autofotografischer Kodierungen
Im Hinblick auf die Vorstrukturierung einer solchen systematischen Dekodierung hat Freire angeregt, dass, vor allem „[u]m mehrere Möglichkeiten der Analyse beim Dekodierungsprozeß anzubieten, [...] die Kodierungen als «thematischer Fächer» angeordnet werden“ (1975, S. 96) sollten. Zudem sollten sie „so weit wie möglich Widersprüche re-präsentieren [...] «inklusive» anderer, die miteinander das System der Widersprüche bilden“ (ebd., S. 97), in das die entsprechenden Gruppierungen involviert sind. Deshalb sollte die erste «wesentliche» Kodierung „den grundlegenden Kern dar[stellen] und [...] sich in einem thematischen Fächer [öffnen], der sich zu «Hilfs-» Kodierungen erweitert“ (ebd., S. 98). Dabei sollte „[n]achdem die wesentliche Kodierung entziffert ist, [...] das projizierte Bild als Bezugspunkt für die Teilnehmer fest[gehalten] und […] dann damit zusammen die Hilfskodierungen“ (ebd.) projiziert werden, um auf diese Weise den Dekodierenden zu erleichtern, „die Beziehung zwischen den von ihnen empfundenen Bedürfnissen und den direkten oder indirekten Ursachen dieser Bedürfnisse“ (ebd., S. 97) – vor allem aber „die unerprobte Möglichkeit zu begreifen, die jenseits der Grenzsituation lag, die ihre Bedürfnisse hervorrief“ (ebd.).
Bezüglich der hier fokussierten sozialräumlichen Fragestellungen könnte es neben / oder anstatt einer solchen thematischen Strukturierung auch sinnvoll sein, dass die Professionellen die Fotos schlicht nach bestimmten Raumsegmenten mit samt den auf sie bezogenen Nutzungsweisen vorsortieren, welche von den Nutzenden in den spontanen Dekodierungen im unmittelbaren Anschluss an die Kodierung als ihre Perspektive am besten wiedergebend ausgewählt wurden. Die thematische oder raumsegmentale Vorsortierung erlaubt ihnen später dann sofort auf das passende Foto zurückzugreifen, um den Prozesses der auf solch implizite Zusammenhänge zielenden dialogischen Dekodierung entsprechend zu unterstützen.
Eine solche vorstrukturierende Funktion kann dabei sowohl von Forschenden wahrgenommen werden, die von außen kommen. Sie kann aber sehr wohl auch von den für die entsprechende sozialpädagogische Repräsentation des Raumes verantwortlichen Fachkräften ausgefüllt werden – vor allem wenn deren „Anspruch einer strukturierenden Kompetenz“ (Deinet 2011, S. 169) ihres sozialpädagogischen Ortshandelns sich daran orientiert, dass „unterschiedliche Settings für Aneignungsprozesse zur Verfügung stehen und auch zwischen unterschiedlichen oder sogar rivalisierenden Cliquen und Gruppen Lernprozesse entstehen, bei denen die[se] [...] Akzeptanz und Fairness lernen können“ (ebd.). So zielt ein solch systematischer Dekodierungsprozess unter Beteiligung der verschiedenen (Gruppierungen von) Nutzenden doch genau darauf. Ideal wäre ein Team aus Forschenden von Außerhalb und den entsprechenden Fachkräften.
In diesem Vorbereitungsprozess einer systematischen Dekodierung wäre dann auch eine Sensibilität dafür zu entwickeln, inwieweit sich in den entsprechenden Aneignungspraxen der im Rahmen sozialpädagogischen Ortshandeln konzptionalisierten sozialräumlichen Arrangements „einerseits eine empirische Organisationsform des menschlichen Lebens“ (Lefebvre 1977 Bd. II, S. 153) der jeweiligen (Gruppierung von) Nutzenden artikuliert, die aber zugleich andererseits durchsetzt ist von einem „Haufen von Repräsentationen, die diese Organisation maskieren“ (ebd.). Diesbezüglich sollten im Hinblick auf Fotos eigener Raumaneignung im Rahmen sinnlich-symbolischer Interaktionsformen der Nutzenden, die sich deutlich an kulturindustriell vorproduzierte Posen und Gesten anlehnen, auch von den Professionellen entsprechende Aufnahmen solcher medialer, klischeehafter Inszenierungsformen vorbereitet werden. Um auf das Beispiel des Tischkickers zurückzukommen, wäre dabei bezüglich der zwischen den gespreizten Beinen hindurch fotografierten Aufnahme auf entsprechende Bilder von Männlichkeitsinszenierungen im Sport oder der Rockmusik zurückzugreifen.
Im Anschluss an Freires vom Allgemeinen zum Konkreten dialektisch aufsteigenden Prinzip von Kodierung/Dekodierung (1975, S. 87), wie es oben skizziert wurde, erscheint es sinnvoll, den systematischen, auf den impliziten Zusammenhang raumbezogener Interessenorientierungen zielende Dekodierungsprozess – wenn nicht ein bestimmtes Thema aufgrund spezifischer Widersprüche entweder zwischen dem sozialpädagogischen Ortshandeln der Fachkräfte und den dieses sozialräumliche Arrangement Aneignenden oder aber auch zwischen verschiedenen Nutzungsgruppen fokussiert werden soll – mit einer Totalen des zentralen Ortes beginnen zu lassen, da diese Perspektive die meisten Ansatzpunkte für einen Einstieg bietet, der die Relevanzstruktur der Nutzenden abbildet. Zu dem Aspekt des Widerspruchs oder eines spezieller fokussierten sozialräumlichen Arrangements und dessen Nutzung, auf den sich die Diskussion als erstes konzentriert, sollte dann das passende Foto in der von Freire (ebd., S. 97f.) geschilderten Form parallel zur Totalen projiziert werden. Auf diese Weise kann dann – dem entsprechenden Verlauf des Dekodierungs-Diskurses folgend – die Analyse des jeweilig thematisch werdenden Aspektes dadurch vertieft werden, dass Fotos, die genau diesen spezifischer fassen, jeweils parallel als Kodierung präsentiert werden.
Falls keine Kodierung vorhanden ist, um die Analyse eines im Dekodierungs-Prozess gerade fokussierten Aspektes zu vertiefen, kann auch einfach auf einem Flipchart ein entsprechender Begriff notiert werden. Freire folgend können solche Kodierungen sogar „mündlich[e] erfolgen. In diesem Fall bestehen sie aus einigen Worten, die ein existentielles Problem beschreiben, worauf die Dekodierung erfolgt“ (Freire 1975, S. 95 Anm. 27).
Des Weiteren fordert Freire dazu auf, von Seiten der professionellen Moderation den Dekodierungsprozess dadurch zu unterstützen, dass von ihr „sowohl die kodierte existentielle Situation als auch ihre Antworten als Probleme formuliert“ (ebd., S. 99) werden. Dazu können auch Fragetechniken, wie sie in systemischen Beratungsansätzen entwickelt wurden, hilfreich sein. Und wenn Freire hervorhebt, dass „[d]urch die reinigende Kraft der Methodologie [...] die Teilnehmer des thematischen Forschungszirkels eine Reihe von Gefühlen und Meinungen über sich selbst, die Welt und andere heraus[stellen], die sie vielleicht unter anderen Umständen nicht zum Ausdruck gebracht hätten“ (ebd.), dann kann diese „Methodologie“ über ein aktives Zuhören und Problemformulierungen hinaus sicher auch Verbalisierungen emotionaler Erlebnisgehalte im Sinne von Rogers (2004) non-direktivem Ansatz umfassen.
Von entscheidender Bedeutung ist in jedem Fall, dass solche Moderationstechniken stets drauf zielen, die Dekodierenden darin zu unterstützen, sich auf ganz eigene Weise den impliziten Zusammenhang der verschiedenen, in der präsentativen Symbolik der jeweiligen Kodierungen ikonographisch ausgedrückten Aspekte ihrer raumbezogenen Interessenorientierungen zu erschließen. Vor diesem Hintergrund erscheint es dann auch sinnvoll, die Moderation der Dekodierung durch Professionelle von außen vornehmen zu lassen. Besonders notwendig ist dies, wenn spezifische Widersprüche zwischen dem sozialpädagogischen Ortshandeln der Fachkräfte und den dieses sozialräumliche Arrangement Aneignenden als spezifische Grenzsituationen thematisch werden sollen.
Um die Analyse subjektiver Relevanzstrukturen und der soziokulturell geteilten Denksprache (Freire 1975, S. 80) im Hinblick auf den Einfluss kulturindustriell vorproduzierter gesellschaftlicher Repräsentationen (Lefebvre 1977 Bd. II, S. 69) zu weiten, gilt es von Seiten der professionellen Moderation an Stellen, in denen Fotos sinnlich-symbolischer Nutzungsformen dies nahe legen, parallel dazu Kodierungen entsprechender, stereotyper, medialer Inszenierungen in den Dekodierungs-Prozess einzuspeisen, wie dies oben bereits am Kicker-Beispiel bezüglich der Gespreizte-Beine-Perspektive angedeutet wurde. Es geht dabei jedoch nicht um irgendwelche Entlarvungen – es sei denn, sie kämen von den Dekodierenden selbst. Vielmehr können durch die Dekodierung solch medialer Ikonographien bisher nicht realisierte Lebensentwürfe thematisch werden, die bisher bloß repräsentiert, jedoch nicht in sinnlich-symbolischen Interaktionsformen in einer Weise verwirklicht wurden, die für „die einzelnen emotional verwurzelt und »ich-gerecht« ist“ (Lorenzer 1979, S. 98) und in dieser Weise „den einzelnen in seiner personalen Eigenart bestätigen“ (ebd., S. 81).
Eine weitere Möglichkeit, den Dekodierungs-Prozess in dieser Hinsicht zu vertiefen, ist, die Dekodierenden selbst noch einmal – in Weiterführung von Ansätzen Boals (2009) „Theater der Unterdrückten“ [1], das an Freires „Pädagogik der Unterdrückten“ anschließt – solche Posen einnehmen zu lassen, damit diese den Effekt nachspüren, den jene auf sie haben. Hier öffnet sich dann auch der Raum für Fragen von Sein und Schein bzw. wie ausgehend von solchen gesellschaftlichen Repräsentationen sich die Dekodierenden eine Öffentlichkeit für ihre Repräsentation in der Gesellschaft (Lefebvre 1977 Bd. II, S. 69) erschließen können.
Auch wenn ein solcher – wie (Freire 1974, S. 96) es nennt – Forschungszirkel durch Professionelle von außen moderiert und strukturiert wird, werden über die in diesem deutlich werdenden generativen Themen so zahlreiche „neue Bildungsinhalte“ (ebd.) angerissen, die es problemformulierend im Hinblick auf darin aufscheinende Grenzsituationen im Anschluss von den Fachkräften der entsprechenden Einrichtung in sogenannten Kulturzirkeln – wie es Freire (ebd.) nennt – weiterzuverfolgen gilt. Dies betrifft dann z. B. die in entsprechenden Orientierungen an kulturindustriell verbreiteten gesellschaftlichen Repräsentationen deutlich werdenden Aufstiegswünsche. So verweisen – um ein letztes Mal auf das Kicker-Beispiel zurück zu kommen – nicht nur das in den entsprechend aufnahmetechnisch erweiterten autofotografischen Kodierungen deutlich werdende Motiv der Männlichkeitsinszenierung, sondern auch das der Technikkontrolle auf Aspekte, die über rein raumbezogene Interessenorientierungen hinausgehen, aber ebenfalls geradezu danach rufen, in solchen Kulturzirkeln, aber eventuell auch neuen Forschungszirkeln in ähnlicher Weise aufgegriffen zu werden.
Darüber hinaus aber liefert ein solcher Dekodierungsprozess, wenn er aufgezeichnet wird, einem Forschungsteam eine reichhaltige Datenbasis, um raumbezogene Interessenorientierungen beispielsweise im Anschluss an die Dokumentarische Methode (Bohnsack et al. 2013) komparatistisch typenbildend zu rekonstruieren, oder auch zu analysieren, wie eine im Rahmen sozialpädagogischen Ortshandelns konzeptionalisierte und strukturierte Repräsentation des Raumes sozialräumlich als Raum der Repräsentation der Lebenserfahrungen und -entwürfe ganz unterschiedlicher Nutzungsgruppen angeeignet wird und wie sich dabei deren menschliche Subjektivität und Humanität zu verwirklichen vermag. Gelingt es dabei über ein theoretical sampling (Strauss und Corbin 2010, S. 11) recht unterschiedliche sozialräumliche Arrangements sozialpädagogischen Ortshandelns und dessen verschiedene Aneignungsweisen zu erfassen, kann sogar noch viel weitergehender, empirisch gegründet, ein zentraler Beitrag zu Burkhard Müllers (1998) „Entwurf einer mehrdimensionalen Theorie der Jugendarbeit“ oder – bei anderen sozialräumlichen Arrangements sozialpädagogischen Ortshandelns – für die entsprechenden Felder Sozialer Arbeit geleistet werden und unabhängig davon, ob dort konzeptionell eine Sozialraumorientierung verfolgt wird.
Literatur
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[1] Zur Weiterführung Boals Ansätze für eine partizipative Sozialraumforschung vgl. May (2017b).
Zitiervorschlag
May, Michael (2018): Partizipative Sozialraumforschung im Kontext sozialpädagogischen Ortshandelns: Zur Weiterentwicklung der Methode der Autofotografie im Anschluss an Paulo Freires Prinzip von Kodierung/Dekodierung. In: sozialraum.de (10) Ausgabe 1/2018. URL: https://www.sozialraum.de/partizipative-sozialraumforschung-im-kontext-sozialpaedagogischen-ortshandelns.php, Datum des Zugriffs: 21.12.2024