Netzkarten

Visualisierung von Struktur- und Qualitätsdimensionen nachbarschaftlicher Netzwerke

Antje Sommer, Eva Lingg, Christian Reutlinger, Steve Stiehler

Die Analyse sozialer Beziehungen und Einbettungen, wie sie mit Hilfe der Konzepte Soziales Netzwerk und Soziale Unterstützung hinsichtlich ihrer Strukturen, Qualitäten und Funktionen erfolgen kann, vermag wesentliche Dimension der Lebenswelt in unterschiedlichen Kontexten abzubilden (vgl. Röhrle/Sommer/Nestmann 1998, Bullinger/ Nowak 1998). Der Einbettungsprozess in soziale Netze ist dabei immer eine aktive Handlungsleistung, die die raum-zeitliche Dimension, menschliche und nicht-menschliche Bezüge, die lebensweltliche Dimension sowie mediale Dimension umfasst (vgl. Straus 2002). Mit der Netzwerkperspektive wird die Verbindung von Struktur- und Akteursebene zugänglich, woraus sich u.a. Erkenntnisse zum Verhältnis von Netzwerken, Interaktionen und subjektive Bedeutungszuschreibungen, Normen und Institutionen ableiten lassen. (vgl. Hollstein/ Strauss 2006).
Im Folgenden wird die Netzwerkanalyse mit einem Theoriemodell sozialer Beziehungen von House, Umberson & Landis (1988) verbunden, in dem prozessual-interaktive Konstrukte von sozialer Unterstützung, sozialer Regulation/Kontrolle und sozialem Konflikt als voneinander getrennt operationalisierbare und signifikante Beziehungsdimensionen postuliert werden (vgl. auch House 1981).

Liegt der Fokus von Forschungsarbeiten beispielsweise auf dem Zusammenwirken von territorial-baulicher Nachbarschaft und sozial-gelebten Nachbarschaftsbeziehungen, und steht somit die Frage im Mittelpunkt, welche baulichen Strukturen bzw. Siedlungsformen Kontakte ermöglichen bzw. hemmen und somit die Entstehung nachbarschaftlicher Beziehungen möglich machen bzw. verhindern, so bietet sich die Durchführung themenzentrierter Interviews mit Bewohnerinnen und Bewohnern verschiedener Siedlungsformen eines Quartiers an. Im Rahmen dieser themenzentrierten Interviews können als visualisierende Instrumente durch die zu interviewenden Personen themenzentrierte Netzkarten und egozentrierte Beziehungskreise angefertigt werden. Beide Instrumente erfüllen darüber hinaus eine verbalisierende Funktion, da die Anfertigung durch die zu interviewenden Personen zugleich kommentiert wird.

Diese angewandte Kombination verbalisierter und visualisierter Methoden zeichnet sich u.a. durch eine starke (biographische) Fokussierung auf den Einzelfall aus und eröffnet den Zugang zu der angestrebten Erfassung sozialer Einbettungen und ihrer biographischen Deutung (vgl. Keupp 2000). Individuelle Beziehungsnetzwerke und die Qualität der Beziehungen zu den benannten Personen können mittels Netzkarten bereits während des Interviews visualisiert und im Prozess weiter thematisiert werden. Im Rahmen eines themenzentrierten Interviews können Personen zu funktionalen Merkmalen ihres nachbarschaftlichen Netzwerks befragt werden. Die Interviews beinhalten Fragen zu unterstützenden Funktionen der sozialen Beziehungsform, zu kontrollierend-regulativen Dimensionen des nachbarschaftlichen Netzwerks, wie auch zu belastenden und konflikthaften Aspekten des nachbarschaftlichen Beziehungssystems (vgl. Nestmann et.al 2008, Ross et al. 1995).

Schritt I: Erstellen einer Netzkarte

Die Erstellung der Netzkarte bildet den (visualisierten) Leitfaden des themenzentrierten Interviews (Schorn 2000), um subjektiv wahrgenommene (informelle und instrumentelle) Unterstützungspersonen und -bedarfe sowie Kontroll- und Belastungserfahrungen zu erheben. Das qualitativ offene Verfahren erlaubt es, konkrete Praktiken der Interaktionen und Handlungsvollzüge in sozialen Netzwerken von Subjekten zu rekonstruieren und gleichzeitig individuelle Relevanzsetzungen, Deutungsmuster und handlungsleitende Orientierungen auf der Akteursebene zu erfassen (vgl. Hollstein/Straus 2006). Mittels der Netzkarte können Struktur- und Qualitätsdimensionen des nachbarschaftlichen Netzwerks erschlossen werden. Am Beginn steht eine offene Herangehensweise mittels einer Frage nach Personen, zu welchen eine persönliche Beziehung besteht. Die Eingrenzung erfolgt hierbei über die zwei Dimensionen von Unterstützungs- (grün) und Belastungsfunktionen (rot) in einem festgelegten Zeitraum. Die interviewten Personen können ihre Netzkarten hierbei selbst ausfüllen, Konkretisierungen wie beispielsweise Dauer, Häufigkeit etc. dieser Beziehungen können separat bzw. zur eingetragenen Person hinzugefügt werden.

Netzkarte

Schritt II: Anordnung angegebener Netzwerkmitglieder auf dem Beziehungskreis

Beim Beziehungskreis (Roos/Lehmkuhl/Berger/Lenz 1995) wird die emotionale Nähe bzw. Distanz der befragten Person zu den angegebenen Netzwerkpersonen erfasst. Mittels Beziehungskreis besteht zudem die Möglichkeit zu ermitteln, ob ein Zusammenhang zwischen der Bedeutung der (angegebenen) Netzwerkangehörigen hinsichtlich sozial unterstützender und belastender Funktionen und der emotionalen Nähe bzw. Distanz besteht (vgl. Wehner/ Werner 2008). Durch die Platzierung erfasster Nachbarinnen und Nachbarn auf dem Beziehungskreis gelingt es, die emotionale Nähe bzw. Distanz der Einzelnen/des Einzelnen zu den Mitgliedern ihres/seines nachbarschaftlichen Beziehungssystems deutlich zu machen.

Beziehungskreis

Schritt III: Verschränkung von Nachbarschaft und Nachbarschaftsbeziehungen und Erfassung weiterer Perspektiven

Setzt man dem Fokus auf das Zusammenwirken von baulich-architektonischer und sozial gelebter Nachbarschaft, so gilt es, jeweils diejenigen architektonisch-baulichen Merkmale verschiedener Siedlungsstrukturen zu fokussieren, welche, in Wechselwirkung mit der Qualität nachbarschaftlicher Kontakte, die Gestaltungsmöglichkeiten sozialer Netzwerke beeinflussen und den Aufbau von persönlichen Beziehungen fördern oder hemmen. Dazu zählen beispielsweise die Form der Erschliessung, der privaten und gemeinschaftlich genutzten Aussenräume, der eventuell vorhandenen Gemeinschaftsräume, der Kindereinrichtungen etc. Ziel einer derartigen Befragung ist es, Möglichkeitsräume für (alltägliche) Begegnungen und Kontakte in den Wohnsiedlungen zu bestimmen. Gefragt wird dazu nach der Form von (alltäglichen) Begegnungen in Erschliessungsräumen wie Treppenhaus, Laubengang, Lift, Zufahrt, nach möglichen Konflikten, nach der Nutzung von Freiräumen (Garten, Hof, (Dach-)Terrasse, Balkon, Wiese; private und öffentliche), nach der Nutzung von sonstigen gemeinschaftlich genutzten Räumen (Waschküche, Gemeinschaftsräume, etc.) und wie diese angenommen werden.
Zur Visualisierung können in diesem Schritt Kartenausschnitte zum Einsatz kommen, auf welchen die befragte Person oder auch der oder die Interviewende die Kontaktorte und genannte beeinflussende bauliche Faktoren markieren und dadurch verorten kann.

Schritt IV: Ergebnisdarstellung

Die Ergebnisse können wie folgt dargelegt werden:

  1. eine kurze Beschreibung der baulich-strukturellen Merkmale der ausgewählten Wohnsiedlungen
  2. ein Abriss von Unterstützungen und Belastungen durch persönliche/nachbarschaftliche Beziehungen aus der Sicht der/des jeweiligen Befragten
  3. eine Charakterisierung der Organisation von Nachbarschaft, wobei alle Ergebnisbeschreibungen mit visuellen Darstellungen unterlegt werden.

Anwendungsbeispiel

Reutlinger, Christian/Lingg, Eva/Sommer, Antje/Stiehler, Steve (2010): Neue Nachbarschaften in der S5-Stadt. Von der Metamorphose der nachbarschaftlichen Beziehungen im Quartier. E-Reader. Download ab Oktober 2010 unter www.s5-stadt.ch

Literatur

Bullinger, Hermann/Nowak, Jürgen (1998): Soziale Netzwerkarbeit: eine Einführung für soziale Berufe. Lambertus. Freiburg i.B.

House, James S (1981): Work stress and social support. Reading, MA, Addison-Wesley

House, James S./Landis, Karl R./Umberson, Debra (1988): Structures and processes of social support. In: Annual Review of Sociology 14: 293-318

Hollstein, Betina/Straus, Florian (2006): Qualitative Netzwerkanalyse. Konzepte, Methoden, Anwendungen. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften

Keupp, Heiner (2000): Eine Gesellschaft der Ichlinge? Zum bürgerschaftlichen Engagement von Heranwachsenden, SOS-Kinderdorf. München.

Nestmann, Frank/Günther, Julia/Stiehler, Steve/ Wehner, Karin/Werner, Jillian (Hrsg.) (2008): Kindernetzwerke. Soziale Beziehungen und soziale Unterstützung in Familie, Pflegefamilie und Heim. Tübingen: DGVT-Verlag (Fortschritte der Gemeindepsychologie und Gesundheitsförderung, Bd. 17)

Röhrle, Bernd/ Sommer, Gert/ Nestmann, Frank (Hrsg.) (1998). Netzwerkintervention. Tübingen: DGVT

Roos, Jeanette /Lehmkuhl, Ulrike /Berger, Christina /Lenz, Klaus (1995): Erfassung und Analyse sozialer Beziehungsstrukturen von Kindern in der klinischen Praxis und Forschung: „Soziales Beziehungsverfahren für Kinder (SOBEKI). Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie 23 (4): 255-266

Schorn, Ariane (2000): Das „themenzentrierte Interview". Ein Verfahren zur Entschlüsselung manifester und latenter Aspekte subjektiver Wirklichkeit [20 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung/ Forum Qualitative Social Research [Online Journal], 1 (2). Verfügbar über: www.qualitative-research.net/fqs-texte/2-00/2- 00schorn-d.htm [Zugriff: 13.07.2006]

Straus, F. (2002): Netzwerkanalysen. Gemeindepsychologische Perspektiven für Forschung und Praxis. Wiesbaden

Wehner, Karin/Werner, Jillian (2008): Den Kindern auf der Spur. Sozialwissenschaftliche Forschung auf der Suche nach der Sicht der Kinder. In: Nestmann/Günther/Stiehler/Wehner/Werner (Hrsg.) (2008): Kindernetzwerke. Soziale Beziehungen und soziale Unterstützung in Familie, Pflegefamilie und Heim. Tübingen: DGVT-Verlag: 41-67


Zitiervorschlag

Sommer, Antje, Eva Lingg, Christian Reutlinger und Steve Stiehler (2010): Netzkarten. In: sozialraum.de (2) Ausgabe 2/2010. URL: https://www.sozialraum.de/netzkarten.php, Datum des Zugriffs: 20.11.2024