Sozialräumliche Analyse- und Beteiligungsmethoden im Kontext von Digitalisierung
Michael Fehlau, Anne van Rießen
Der Anlass für diesen Beitrag liegt in Erfahrungen mit einer Sozialraumanalyse, die als Lehrforschungsprojekt im Wintersemester 2020/21 durchgeführt wurde. Ursprünglich war geplant, dass Student*innen der Sozialen Arbeit unter unserer Begleitung ein als ‚benachteiligt‘ geltendes Quartier in einer nordrhein-westfälischen Großstadt im Auftrag einer dortigen sozialen Einrichtung untersuchen sollten. Dabei war angedacht, neben quantitativen Daten zur Bewohner*innen- und Bebauungsstruktur, auch qualitative Analyse- und Beteiligungsverfahren (Deinet 2009a) aus dem sozialraumanalytischen ‚Methodenkoffer‘ umzusetzen, um lebensweltliche Perspektiven von Anwohner*innen verschiedener Altersgruppen einzubeziehen. Dieses Projekt wurde jedoch von den Rahmenbedingungen der Coronapandemie eingeholt. In Folge musste zum einen das Seminar über eine digitale Plattform durchgeführt werden. Zum anderen konnten weder gruppenförmige Stadtteilbegehungen noch sonst eine auf face-to-face-Interaktion mit Anwohner*innen und Expert*innen beruhende Methode realisiert werden.
Um das Projekt trotz der widrigen Umstände durchführen zu können, haben wir – eher improvisierend – auf digitale Medien zurückgegriffen. So wurde beispielsweise keine gemeinsame Stadtteilbegehung mit den Student*innen durchgeführt. Stattdessen filmten sich die Autorin dieses Beitrags und die Leiterin der auftraggebenden Einrichtung bei einem gemeinsamen Spaziergang mit Maske und Abstand durch das Quartier und kommentierten im Sinne eines Walking Interview bestimmte Orte (vgl. Müller/Müller 2018: 139f.). Der Film wurde dann im Online-Seminar ‚eingespielt‘, um auf diesem Wege Eindrücke zu „(unterschiedlichen) Qualitäten“ (Deinet 2009a: 66) zu vermitteln. Dies wurde ergänzt durch eine ‚virtuelle‘ Stadtteilbegehung, bei der auf einer Online-Karte und in Straßenansicht weitere Eindrücke zum Quartier und zu dort eingeblendeten sozialen und weiteren Angeboten gewonnen wurden.
Eine Begehung mit Anwohner*innen war ebenfalls aus Gründen der Kontaktbeschränkungen nicht möglich. Um deren Perspektiven dennoch einzubeziehen, wurden soziale Einrichtungen kontaktiert, die stellvertretend für uns einige Besucher*innen gewinnen konnten, z. B. subjektive Landkarten zu zeichnen und individuelle Infrastrukturtabellen zu führen. Die Fachkräfte der Einrichtungen wurden dazu telefonisch angeleitet und qualifiziert, die unmittelbaren Dateien und Vorlagen wurden ihnen zur Verfügung gestellt. Einige Expert*inneninterviews konnten telefonisch mittels Videokonferenztools geführt werden. Der Versuch, über die Ansprache durch eine Einrichtung Anwohner*innen für die Methode der Autofotografie zu gewinnen, scheiterte jedoch.
Insgesamt blieb unser Eindruck dieses ‚digitalisierten‘ Projekts zwiespältig. Einerseits konnten einige Erkenntnisse zu Handlungsbedarfen gewonnen und u. a. Entscheidungsträger*innen des auftraggebenden Trägers in einer digitalen Konferenz präsentiert werden. Dies führte zu einer Aufstockung personeller Ressourcen für die Quartiersarbeit. Andererseits konnte durch die fehlenden leiblichen Erkundungsmöglichkeiten kein sinnlicher Bezug zum Quartier und auch kein unmittelbarer Austausch mit Anwohner*innen hergestellt werden.
Auch wenn wir hoffen, dass ein Forschen unter diesen Voraussetzungen die Ausnahme bleiben wird, hat uns die geschilderte Situation zur Frage nach dem Stellenwert von Digitalität in sozialraumanalytischen Methoden geführt. In der Fachdebatte gibt es eine Reihe von Überlegungen, u. a. auch in mehreren Beiträgen auf sozialraum.de, die traditionellen Verfahren zu digitalisieren. Diese Überlegungen nehmen wir in diesem Beitrag auf und wagen den Versuch, sie systematisch darzustellen und hinsichtlich ihres möglichen Mehrwerts, ihrer Begründungen und möglichen Risiken zu diskutieren. Wir gehen nicht davon aus, alle Facetten sozialraumanalytischer Verfahren im Kontext von Digitalisierung auch nur annähernd erfassen zu können. Vielmehr soll das enorme Spektrum deutlich werden, das von eher pragmatischen und alltagsnahen Einsätzen von Smartphones und Social Media über voraussetzungsreichere Simulationstechniken bis hin zur Verwendung hochkomplexer Softwaresysteme reicht. Vorab skizzieren wir jedoch die gegenwärtige Relevanz und klären unser Verständnis von Sozialräumen, die sich – wie die von uns aufgeführten – Analysemethoden im digitalen Wandel befinden.
1. Zur Relevanz und zum Verständnis von Sozialraum
Angesichts demografisch und sozialstrukturell absehbarer Veränderungen unserer Gesellschaft setzt sich in Politik und Wissenschaft zunehmend die Erkenntnis durch, dass den damit einhergehenden Herausforderungen vor Ort, in den Stadt- und Ortsteilen und damit im unmittelbaren Wohn- und Lebensraum der Menschen, im Sozialraum, zu begegnen ist (vgl. zur Bedeutung des Nahraums van Rießen/Bleck 2021 i. E.). Somit geraten Sozialräume sowohl in politischen Förderprogrammen und Konzepten als auch in der Sozialen Arbeit – in der Disziplin wie in der professionellen Praxis – aktuell zunehmend in den Fokus. Ein sozialräumliches Verständnis von Sozialer Arbeit stellt individuelle Schwierigkeiten und Unterstützungsbedarf in einen lebensweltlichen und gesamtgesellschaftlichen Kontext. Damit verbunden ist u. a. die Möglichkeit, den Blick für strukturelle Zusammenhänge zu öffnen und nach Ortseffekten zu fragen. Dieser Perspektive folgend geraten somit unmittelbar die ‚Beschaffenheit‘, ‚die Funktion‘ oder auch ‚die Themen‘ der jeweiligen Sozialräume für die dort lebenden Menschen in den analytischen Fokus.
Zugleich ist der Begriff Sozialraum als analytisches Konzept unscharf. Metaphorisch und weit verstanden, bezeichnet er zumeist im Anschluss an Pierre Bourdieu gesellschaftliche Strukturen sozial ungleicher Positionierungen (Kergel 2020: 232). In einem engeren, pragmatischen Sinne sind geografisch lokalisierte Einheiten als ‚gebaute‘ und infrastrukturell ausgestattete Umwelten gemeint, in denen Menschen vorrangig ihren Alltag leben und bewältigen (müssen). Ein vermittelndes raumsoziologisches Verständnis (Löw/Sturm 2019: 15ff.), dem wir uns in diesem Beitrag anschließen, setzt Sozialräume hingegen weder als homogene soziale Einheiten noch als geografisch umgrenzte ‚Container‘ absolut. Vielmehr wird die „physische Konstitution von materiellen Orten“ (Grieser 2018: 90) in Relation zu raumkonstruierenden Bedeutungszuschreibungen und sozialen Praxen verstanden (Ludwig et al. 2016: 10).
Eine sozialraumbezogene Soziale Arbeit zielt auf die Verbesserungen der Lebensbedingungen insbesondere in benachteiligten Stadtteilen und bezieht die Bewohner*innen maßgeblich ein (Stövesand/Stoick 2013). In Rekurs auf das oben skizzierte relationale Raumverständnis werden Sozialräume als von Menschen geprägt und in weiten Bereichen aktiv beeinflussbar verstanden. Sozialraumorientierte Soziale Arbeit sieht Menschen daher als tätige Subjekte, die ihren Lebensraum nach ihren Vorstellungen gestalten wollen. Dieses Menschenbild gilt auch für sozialraumbezogene Analysemethoden, bei denen Anwohner*innen sich gemeinsam mit Wissenschaftler*innen und/oder Vertreter*innen der Praxis Sozialer Arbeit ihre Nahräume forschend aneignen und zugleich Erkenntnisse hervorbringen, die zur Sozialraumentwicklung beitragen können.
2. Überlegungen zu Sozialraumanalysen Sozialer Arbeit im digitalen Wandel
Im Kontext der unter dem Begriff digitale Transformation versammelten gesellschaftlichen Veränderungen erscheinen Sozialräume als eher nahräumlich geordnete Interaktionsmilieus angesichts ihrer Durchdringung mit Informations- und Kommunikationstechniken zunehmend aufgelöst. Mit der Verwendung digitaler Medien treten geografisch entgrenzte „Kommunikationsformen“ (Kergel 2020: 235) hinzu, die als neu- oder andersartige Sozialräume verstanden werden können (ebd.). Gleichwohl verliert der Nahraum im Hinblick auf seine Barrieren und Ressourcen zur Alltagsbewältigung nicht an Bedeutung, vielmehr wirken die gleichfalls sozial strukturierten Kommunikationsräume im Digitalen in die verorteten Lebenswelten zurück (vgl. Kergel 2020; Schroer 2003). Sowohl lokalisierbare als auch eher metaphorisch gedachte digitale Orte – das ‚Digitale‘ ist letztendlich ortlos – sind als gleichsam verschränkte materialisierte und erfahrbare gesellschaftliche Verhältnisse zu denken, die in ihren Ungleichheiten im Handeln von Akteur*innen in unterschiedlicher Weise bedeutsam werden und von diesen sowohl reproduziert als auch verändert werden können. An einem geografisch eindeutig bestimmbaren Ort überschneiden sich so unterschiedliche, auch digital mediatisierte Räume, „je nachdem, welche Bedeutungen, Veränderungen Menschen den Orten verleihen“ (Deinet 2009b: 55).
Methodologisch sind Sozialräume als Forschungsgegenstände somit „nicht absolut bestimmbar“, sondern „abhängig von der Wahl des eingenommenen Blickpunktes“ (Kessl/Reutlinger 2010: 23). Sozialraumanalysen Sozialer Arbeit, die vor allem den Sichtweisen bzw. Perspektiven von Anwohner*innen folgen, um deren subjektive Problemwahrnehmungen und Anliegen zum Ausgangspunkt sozialräumlicher Entwicklungen zu machen, verwenden daher einen ‚Methodenkoffer‘ überwiegend qualitativer Analyse- und Beteiligungsverfahren (Deinet 2009a). Deren Befunde werden zumeist mit quantitativen sozialstrukturellen Daten in Beziehung gesetzt (van Rießen/Bleck 2013).
Solche Forschungsprojekte können mit Alisch und May (2017) als partizipative Praxisforschung verstanden werden, mit denen zum einen ein wechselseitiger Wissenstransfer zwischen Wissenschaft und Praxis verbunden wird (ebd.: 12). Zum anderen sollen die Menschen, um deren subjektiv bedeutsame sozialräumliche Belange es zuvorderst geht, konsequent beteiligt werden, um ihnen Einflussmöglichkeiten zur Mitgestaltung der „eigenen sozialräumlichen Lebensbedingungen zu eröffnen“ (Alisch/May 2008: 19). Das entsprechend grundlegende Forschungsprinzip Partizipation bedingt, dass die erforschten ‚Themen‘ sowie die Auswahl und Ausgestaltung der methodischen Vorgehensweisen den Interessen, Wünschen und Voraussetzungen der teilnehmenden Akteur*innen folgen, nicht umgekehrt (Alisch/May 2017: 12).
Für Sozialraumanalysen steht dafür ein vielfach erprobtes – jedoch nicht kanonisch zu verstehendes – Set an Beteiligungs- und Analyseverfahren zur Verfügung, die in ihrer Konzeption vor allem auf die diskursive Deutung von qualitativen Daten aus z. B. ethnografisch orientierten Beobachtungen, Gesprächen, Interviews oder von bildhaften sowie kartografischen Ausdrucksformen setzen. Einige dieser Verfahren wurden digitalisierungsbedingt abgewandelt oder erweitert und in Projekten umgesetzt. Dies betrifft insbesondere die Methoden der Stadtteilbegehung, Autofotografie und Nadelmethode, die wir deshalb als Ausgangspunkte für die nun folgende Darstellung nutzen. Teilweise verlassen wir dabei den Fachdiskurs zu Sozialraumanalysen Sozialer Arbeit, um auch digitalisierte Verfahren vorzustellen, die z. B. Stadtteilbegehungen technisch simulieren. Andere lassen die herkömmliche Nadelmethode weit hinter sich und öffnen einen ‚Blick über den Tellerrand‘ auf Möglichkeiten zu softwaregestützten mixed-method-Analysen von sozial kontextualisierten raumbezogenen Mustern.
2.1 Stadteilbegehung: Online-Räume, digital dokumentierte Streifzüge und Simulation
Eine Sozialraumanalyse setzt grundlegend voraus, das untersuchte Gebiet in einem ersten Zugang aufzusuchen und in seinen vielschichtigen Qualitäten in Form von Spaziergängen zu erkunden und relevante Beobachtungen zu dokumentieren. Mit einer solchen Stadtteilbegehung (Deinet 2009a: 65ff.) machen sich zunächst Forscher*innen und z. B. Fachkräfte dort ansässiger sozialer Einrichtungen vertrauter mit der Beschaffenheit von Quartieren, in denen sie in aller Regel nicht wohnen.
Bei Stadteil- bzw. Sozialraumbegehungen mit zumeist verschiedenen, auch kontrastierenden Gruppen von Anwohner*innen (ebd.: 68ff.) geht es anschließend darum, die ortsgebundenen Qualitäten aus deren Perspektiven zu erforschen. Insofern lassen sich Forscher*innen auf ihren Routen von ansässigen Menschen als Expert*innen ihrer Lebenswelt leiten, die ihnen das Quartier und seine Orte bei gemeinsamen Spaziergängen zeigen und in den jeweiligen subjektiven Bedeutungen erklären.
Beide Varianten einer Begehung setzen auf die körperlich-sinnliche Anwesenheit im Sozialraum, auf interaktiven Austausch in Bewegung mit dem Ziel, örtlich rückgebundene Erfahrungen, Eindrücke und Interpretationen zu gewinnen und festzuhalten. Diese Prinzipien sprechen eher nicht für eine digitale Mediatisierung der Verfahren. Gleichwohl ist von digitalen Varianten einer Stadtteilbegehung die Rede (z. B. Scheibe 2020), deren Unterschiede darin bestehen, dass erstens statt eines Stadtteils oder Quartiers Räume im Internet erkundet werden. Zweitens kommen Social Media zur Dokumentation von Streifzügen im Sozialraum zum Einsatz. Drittens wird digitale Medientechnik genutzt, um eine Ortsbegehung zu simulieren.
Ein Beispiel, bei dem Räume im Internet Gegenstand der Analyse sind, stammt von Scheibe (2020), der sein Konzept einer Stadtteilbegehung als deren „Übertragung in virtuelle Welten“ versteht (ebd.). Erkundet werden „Online-Orte“ (ebd.). Insofern zielt dieses Vorgehen auf Fragestellungen zur lebensweltlichen Internetnutzung ab und nicht auf die erfahrbaren Strukturen eines Sozialraums im Sinne eines Quartiers oder Stadtteils. Es handelt sich also um ein anderes Verfahren, das eine traditionelle Stadtteilbegehung nicht ersetzt, aber ergänzen kann (ebd.). Ein möglicher Einsatz zur Kombination beider Methoden wäre eine Erweiterung um Fragestellungen zur Nutzung von Nachbarschaftsplattformen (Herlo 2018), Online-Auftritten von Institutionen oder sozialen Einrichtungen als Teil der sozialräumlichen Infrastruktur.
Anders gelagert ist der Vorschlag von Hüttinger et al. (2016), die eine Begehung mit Elementen von Autofotografie und Nadelmethode kombinieren. Hier unternehmen jugendliche Teilnehmer*innen an einem Projekt Rundgänge ohne Begleitung von Forscher*innen oder Fachkräften und posten dazu Bilder, Filme und Kommentare in sozialen Netzwerken. Die geposteten Verläufe sind dann Gegenstand von Gesprächen. Das digitale Instrument dient in diesem Fall der Dokumentation bedeutungsgeladener und interpretationsbedürftiger Inhalte. Ein Vorteil dieses Verfahrens liegt in der Möglichkeit zur Kombination von Texten, Bildern oder auch Filmen zu konkreten Orten, die in der zeitlichen Abfolge eines oder mehrerer Streifzüge dargestellt werden und zugleich eine Brücke zur unten dargestellten Autofotografie und Nadelmethode schlägt. Denn z. B. mit Facebook können Bewegungsprofile erzeugt und kartografisch visualisiert werden. Das vorgeschlagene Verfahren findet vermutlich eher bei jungen Menschen Anklang, ist jedoch mit den Problemen einer unzureichend gewährleisteten Datensouveränität und – bei lückenhaften Sicherheitseinstellungen – der womöglich unerwünschten Einsicht durch andere Nutzer*innen behaftet.
Ein Verfahren, bei dem Bewegungen in Sozialräumen simuliert werden, haben Müller und Müller (2018) als Virtual Urban Walk 3D bezeichnet. Hierbei wird zunächst das „Durchwandern eines Raumausschnitts in Schrittgeschwindigkeit aus der Subjekt-Perspektive“ (ebd.: 141) mit einer digitalen 3D-Kamera aufgezeichnet, um die Aufnahme dann Teilnehmer*innen am Projekt als dreidimensionalen Film mit Stereo-Sound als immersives Erlebnis vorzuspielen. Beim Anschauen werden sie leitfadengestützt zu ihren jeweiligen Empfindungen und Eindrücken entweder einzeln oder in Gruppen interviewt. Weil alle denselben Film unter ‚Laborbedingungen‘ schauen, können bei einer kontrastierenden Gruppenzusammensetzung unterschiedliche Bedeutungszuschreibungen an identische Orte rekonstruiert werden. Mit Blick auf Sozialraumanalysen im Verständnis partizipativer Praxisforschung scheint das Verfahren zwar geeignet, um methodisch validere Erkenntnisse zu generieren. Dafür ist es jedoch technisch äußerst voraussetzungsvoll. Darüber hinaus folgen die Teilnehmer*innen einer durch die Forscher*innen vorab festgelegten Route und Blickrichtung. Ein eigensinniges Umherschauen und Durchwandern von Nebenwegen sind nicht möglich.
An derart simulierte Begehungen lässt sich daher die grundlegende Frage stellen, inwiefern sie noch dem Gedanken von partizipativer Forschung als sozialraumbezogenes Handeln im Sinne einer tätigen Auseinandersetzung mit örtlichen Beschaffenheiten entspricht. Denn, so lässt sich mit Bukow (2016, zit. in Maier 2018: 133) feststellen, hier fehlt „die für die Teilnahme an gelebten sozialen Situationen typische Rückbindung“ an konkret erfahrbare Ortseffekte. Für Menschen, die in ihrer Bewegung zu eingeschränkt für eine Stadtteilbegehung sind, könnte sich mit simulierten Spaziergängen hingegen eine Möglichkeit zur Beteiligung eröffnen.
2.2 Autofotografie und Co.: Vom Bild zum Film zu Multimedia
Zum sozialraumanalytischen ‚Methodenkoffer‘ gehören qualitative Verfahren im Verständnis visueller Sozialforschung (Behnken/Zinnecker 2010: 4), die mit der Deutung von zeichnerischen, fotografischen oder filmischen Ausdrucksformen sozialräumlich bedeutsamer Erfahrungen arbeiten, die von Teilnehmer*innen an Forschungsprojekten angefertigt werden. Dahinter steht die Idee, dass diese kreativen Tätigkeiten und das deutende Sprechen über die jeweiligen Produkte sowohl eine aktive Auseinandersetzung mit Beschaffenheiten der Sozialräume darstellen als auch einen forschungsmethodischen Zugang zu raumbezogenen Wahrnehmungen eröffnen, die sich nicht ohne weiteres verbalisieren lassen. Hier stellt sich vor dem Hintergrund von alltäglich gewordenen digitalen Techniken zur Bilderzeugung, -bearbeitung, -verbreitung und -rezeption die Frage nach der Transformation bereits bestehender Methoden.
Ein etabliertes Verfahren ist die subjektive (Deinet 2009a: 75ff.) bzw. narrative Landkarte (Behnken/Zinnecker 2010), mit der bedeutsame Orte, Wege und Personen gezeichnet, gemalt oder auch collagiert werden und über die bereits im Entstehungsprozess sowie nach Fertigstellung gesprochen wird, um sie zu interpretieren. Von Bedeutung ist vor allem die bildhafte Anfertigung der Karten, die „somit ein eigenständiges, wirkmächtiges Medium der Konstruktion und Aneignung von Welt“ (Daum 2014: 199) darstellt und durch begleitende Erzählungen und Erklärungen ergänzt wird (ebd.). Sowohl die i. d. R. von mehreren Beteiligten jeweils angefertigten Karten als auch die Erzählungen werden ausgewertet und die Ergebnisse miteinander trianguliert.
Im Kontext von Digitalisierung erweitern eine Vielzahl von Kreativtechniken, z. B. Zeichen- und andere Gestaltungsprogramme, die ‚traditionellen‘ – in der Umsetzung weniger voraussetzungsvollen – Ausdruckmittel Stift, Pinsel und Papier. Mit Bezug auf die Verwendung digitaler Instrumente im Verfahren der subjektiven Landkarte finden sich im Fachdiskurs bislang keine Projektdarstellungen und Reflexionen. Mögliche methodische Aspekte wären Potenziale zur Erhöhung oder auch Absenkung des Attraktivitätsgrades für bestimmte Zielgruppen. Weiterhin könnte überlegt werden, ob und inwieweit andere oder auch neue mediale Konstruktions- und Ausdrucksformen möglich werden, die Zugänge zu sozialraumbezogenen Erfahrungen und Wahrnehmungen eröffnen, die ansonsten unsichtbar blieben.
Im Unterschied dazu wäre angesichts der annähernd flächendeckenden Verwendung von Smartphones mit integrierten Kameras eine Auseinandersetzung im Zusammenhang von Verfahren zu erwarten, die mit Fotografien oder Filmen arbeiten. In diesem Kontext weist z. B. Tillmann (2014) auf die gestiegene Bedeutung von medialer Raumaneignung hin. Insbesondere die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen seien im Zuge der digitalen Transformation als mediatisiert zu verstehen (ebd.: 273ff.). Die damit alltäglich gewordene Dimension der Aneignung von Sozialräumen mittels digitaler Aufnahmetechniken berührt entsprechend das sozialraumanalytische Verfahren der Autofotografie (Deinet 2009a: 78f.) bzw. reflexiver Fotografie (Müller/Müller 2018: 138) oder auch Photovoice-Verfahren (Nußer 2020: 57ff.). Bei diesem werden Teilnehmer*innen gebeten, Orte zu fotografieren, die für sie hinsichtlich vorab ausgehandelter Fragestellungen eine subjektive Bedeutung haben. Die Fotos werden anschließend als visueller Gesprächsanreiz in aufgezeichneten oder protokollierten Gruppendiskussionen verwendet. Gegenstand der Auswertung sind wieder die Bilder und die Bedeutungszuschreibungen, die im kommunikativen Austausch in der Gruppe über die jeweils abgebildeten Orte ausgedrückt werden.
Smartphones als konvergente Medientechnik haben nicht nur das Fotografieren, sondern auch das Filmen alltäglich werden lassen. Vor diesem Hintergrund erweitern Abstiens und Hierse (2017) den ‚Methodenkoffer‘ um das Verfahren der Autovideografie. Deren eigenständiges Merkmal sehen sie darin, dass die beteiligten Akteur*innen anstelle statischer Bilder bewegte Filmsequenzen aufnehmen, die als weiteren Bedeutungsträger Ton enthalten können, z. B. Kommentare oder Umgebungsgeräusche. Die Verwendung von Filmmaterial im Kontext von sozialraumanalytischen qualitativen Methoden verspricht damit einen über den Informationsgehalt von Fotos hinausgehenden Zugang zu sprachlich schwer vermittelbaren räumlichen Atmosphären und emotional konnotierten Dimensionen, die zudem über das Medium Film für Andere erfahrbarer werden. Dieser Aspekt lässt sich z. B. in der Ergebnispräsentation nutzen. Genauso wie bei den Bildern der Autofotografie bedürfen auch die Filme bei einem autovideografischen Ansatz der gesprächsförmigen Erklärung und Deutung durch ihre Produzent*innen.
Mit Blick auf die erwartete Thematisierung der medialen Aneignungsdimension bleibt der Aspekt des ‚Digitalen‘ in den Beiträgen zur Autofotografie und Autovideografie eher vage. Smartphones als alltägliche, mobile und daher zumeist unkompliziert einsetzbare Aufnahmetechniken werden i. d. R. pragmatisch vorausgesetzt, jedoch nicht in ihren Unterschieden zu analogen Verfahren reflektiert. Ein wesentlicher Vorteil bei der Verwendung von Smartphones liegt sicherlich darin, dass qualitativ hochwertige Bilder und Filmsequenzen in annähernd beliebiger Anzahl aufgenommen, gespeichert und vervielfältigt werden können. Fotos und Filme können über einen Bildschirm oder ein Projektionsgerät als Bezugsgegenstand von Gesprächen präsentiert werden. Die digitale Datenförmigkeit der Bilder oder Filme erfordert zudem keinen Medienbruch mehr zwischen Aufnahme-, Wiedergabe- und ggf. Bearbeitungstechniken. Das Konzept der Autofotografie wird jedoch durch die digitale Technik nicht wesentlich verändert. Das Verfahren wird vor allem im Umsetzungs- und Kostenaufwand reduziert, vorausgesetzt, alle Beteiligten verfügen über die entsprechenden Geräte und Nutzungskompetenzen. Ähnliches gilt für die Autovideografie, die sich auch mit analoger Aufnahme- und Wiedergabetechnik realisieren ließe.
Ein methodisches Konzept, das explizit die Dimension digitaler Medien sozialräumlich reflektiert, hat hingegen Röll (2009; vgl. Ketter 2014) als vireales Lernen vorgestellt. Er geht davon aus, dass sich in der gegenwärtigen Wirklichkeitswahrnehmung von Kindern und Jugendlichen, und somit auch in ihrem sozialräumlichen Handeln, reale und virtuelle Erfahrungen überlagern. Vireales Lernen zielt auf „Fähigkeiten, kompetent mit und innerhalb der unterschiedlichen Wirklichkeitswelten zu agieren sowie bei der Aneignung von Lebenswelten sowohl virtuelle […] als auch reale Erfahrungen […] miteinander zu verknüpfen“ (Röll 2014: 268). Sein medienpädagogisch unterlegtes Konzept überschreitet zwar den Handlungsbereich der Sozialraumanalyse, lässt sich jedoch auch dafür fruchtbar machen. Das Konzept sieht vor, dass eine Gruppe von Jugendlichen sich erweiterte Kenntnisse ‚ihres‘ Sozialraums u. a. durch Fotografieren und Filmen aneignet und sich in diesen „ästhetischen Erfahrungen“ (Röll 2009: 271) reflektiert. Die verschiedenen Aufnahmen werden in einem kollektiven Prozess unter Verwendung einer Multimedia-Software zu einem Gemeinschaftsprodukt (CD-ROM oder Webauftritt) entwickelt. In ein solches Gesamtprojekt ließen sich sozialraumanalytische Elemente wie Autofotografie und -videografie integrieren. Weiterhin könnte darüber nachgedacht werden, inwieweit sich ein multimediales Gesamtwerk in Gestalt verknüpfter Bilder, Filme, Ton, Grafiken und Textelementen als Prozess und Ergebnis im Sinne einer ‚dichten Beschreibung‘ kollektiver sozialräumlicher Bedeutungen mit den Autor*innen auswerten und öffentlich präsentieren ließe.
2.3 Nadelmethode: Digitale Erweiterung und Verfahren computergestützter Mustererkennung
Eine aktivierende und niederschwellige Methode, die Deinet (2009a) vor allem zum Einstieg in eine Sozialraumanalyse empfiehlt, ist die Nadelmethode (ebd.: 72ff.; vgl. auch van Rießen/Bleck 2013; van Rießen 2021: 118ff.). Hier begeben sich die Forscher*innen mit einer Karte des interessierenden Quartiers in den Sozialraum und bitten darum, Orte mit Blick auf bestimmte Fragestellungen (z. B. nach informellen Treffpunkten, positiv und negativ besetzten Orten), differenziert nach unterschiedlichen Merkmalen, mit verschiedenfarbigen Stecknadeln zu markieren. Dieses zunächst quantitativ anmutende Verfahren wird durch die dabei entstehenden Anlässe zu Gesprächen und Interviews als qualitativ verstanden. Gleichwohl weist Deinet (2009a: 75) auf die eher geringe Erkenntnistiefe zu Qualitäten der genadelten Orte hin.
Diese Einschränkung und die durch die Verwendung einer Papierkarte unumgängliche Begrenzung des nadelfähigen Gebiets begründen eine Reihe von Weiterentwicklungen der analogen Nadelmethode hin zu Verfahren, die Kartendienste im Internet und erweiterte Möglichkeiten zur computergestützten Auswertung nutzen. So verlagern Dummer et al. (2015) ihre „Nadelmethode 2.0“ in den virtuellen Raum. Die Teilnehmer*innen an einer Sozialraumanalyse erhalten Zugriff auf eine entsprechend vorbereitete und passwortgeschützte Arbeitsoberfläche mit einer skalierbaren Karte und/oder Straßenansicht und können dort verschiedene farbige Markierungen mit hoher Tiefenschärfe setzen. Zusätzlich ist es möglich, Fotografien und Kommentare zu markierten Orten einzubinden und so den qualitativen Informationsgehalt zu erhöhen. Weiterhin ist ein Austausch mit anderen Beteiligten über Kommunikationsfunktionen möglich. Eine computergestützte Auswertung ist nicht vorgesehen, vielmehr dienen die individuell oder kollektiv bearbeiteten Karten als Grundlage für interpretierende Gespräche.
Im Unterschied dazu existieren Auswertungs- und Visualisierungsverfahren, die die technischen Potenziale von digitalen Informationssystemen nutzen, um eine hohe Anzahl quantitativer und qualitativer Datentypen – die zunächst erhoben werden müssen – verwalten und unter verschiedenen sozialräumlichen Fragestellungen miteinander in Beziehung zu setzen. Ziel ist, individuelle und kollektive Muster nach ausgewählten Merkmalen sichtbarer zu machen. So hat bspw. Rohrauer (2014) ein digitales Nadeltool entwickelt und erprobt, das zusätzlich erlaubt, qualitative Interviewdaten mit markierten Orten zu verknüpfen, definierte „Themencluster“ und „selektive Raumauswertungen“ (ebd.: 122) abzufragen und die Daten auch quantitativ auszuwerten. Dazu mussten jedoch die zunächst im Sinne der klassischen Nadelmethode erhobenen Daten, erweitert um solche aus leitfadengestützte Interviews, aufwändig in das Tool übertragen werden.
Digitaltechnisch avancierte Methoden mit einer sozialraumanalytischen Perspektive, die kaum noch an die Nadelmethode erinnern, verknüpfen Kartendienste mit datenbankbasierten Softwaresystemen zur Auswertung und grafischen Visualisierung von u. a. qualitativen und Ortsdaten, die mittels Global Positioning System (GPS) in ihren zeitlichen Veränderungen aufgezeichnet werden können. Hier lassen sich primär US-amerikanische Forschungsansätze verorten, die qualitative Geografische Informationssysteme (GIS) verwenden mit dem Ziel, „marginalisierten räumlichen Perspektiven und Bedeutungszuschreibungen“ Sichtbarkeit zu verschaffen und sozialräumlich benachteiligte Gruppen zu empowern (Bittner/Michel 2018: 152).
Mit Fokus auf Mobilität und frequentierte Aufenthaltsorte in einer deutschen Großstadt haben Hannapel und Jakobs (2018) in einem Projekt zur Aktionsraumforschung qualitative Daten zu Lebensstilen von Student*innen mit ihren Bewegungsdaten verknüpft, die mittels einer Tracking-App auf Smartphones digital aufgezeichnet, aggregiert und auf einer Karte visualisiert wurden. Über eine Triangulation wurden sozial segregierte räumliche Bewegungsmuster rekonstruiert. Den Vorteil eines solchen methodischen Vorgehens gegenüber retrospektiven Datenerhebungen (z. B. Interviews oder Tagebücher) sehen die Autoren in der Möglichkeit, konkrete Bewegungsmuster und häufig frequentierte Orte des Aufenthalts in Relation zu soziostrukturellen Merkmalen zu erfassen. Entsprechend identifizierte Hotspots des Aufenthalts, die nicht auf ein geografisch begrenztes Quartier bzw. einen Stadtteil beschränkt bleiben müssen, können zudem dahingehend untersucht werden, wie sozial homogen bzw. heterogen die jeweiligen Gruppen der Anwesenden zusammengesetzt sind. Daran anschließend lässt sich nach jeweils bedingenden qualitativen Merkmalen der Anwesenheitsorte fragen.
Der Unterschied zu den anderen skizzierten Verfahren liegt im Fokus auf der Fragestellung nach bevorzugten Orten des Aufenthalts. Gemiedene Orte werden lediglich als ‚leere Flecken‘ sichtbar, die jedoch keine Auskunft zu ihren negativ besetzten Qualitäten geben. Deutlich sichtbarer werden hingegen sozial strukturierte Ausdehnungen von Aktionsräumen und Mobilitätsmustern, auch solche, die über Quartiergrenzen hinausgehen. Ein weiteres Beispiel dafür bieten Gebhardt und Oostendorp (2021), die Mobilitätspraktiken der PKW-Nutzung in Berlin typisierend untersucht und dazu soziostrukturelle Daten, Interviews und eine digitalisierte Form der Nadelmethode mittels Tablet verwendet haben.
Die hier skizzierten digitalen Weiterentwicklungen und deutlichen Überschreitungen der klassischen Nadelmethode sind vermutlich alle geeignet, andere oder auch tiefergehende Erkenntnisse zu sozialraumbezogenen Fragestellungen zu generieren. Dazu zählen z. B. die Rekonstruktion und Visualisierung von sozial kontextualisierten (Nicht-)Aufenthalts- und Bewegungsmustern, die jedoch zum ersten einen erheblich erscheinenden technischen und personellen Aufwand benötigen, der sich in Praxisforschungskontexten Sozialer Arbeit wohl nur in interdisziplinären Kooperationen mit entsprechend ausgestatteten Hochschulen realisieren lässt.
Mit Blick auf das Arbeitsprinzip konsequenter Partizipation, die eine aktive Beteiligung am und Transparenz über den gesamten Forschungsprozess bis hin zur Auswertung und Ergebnispräsentation vorsieht, stellt sich zum zweiten vor allem an die Verfahren mit komplexen Informationssystemen die Frage nach Risiken wissenschaftlicher und technischer Rationalitäten, die sich in die Konzeption, Programmierung und Verwendung der Systeme einschreiben, tendenziell intransparent bleiben und die eigensinnigen Perspektiven der Anwohner*innen, aber auch die der Praxis Sozialer Arbeit, unangemessen dominieren könnten.
Zum dritten tritt bei allen Verfahren, auch bei denen, die der klassischen Nadelmethode noch sehr nahe sind (Dummer et al. 2015), das ethische Problem der Datensicherheit in besonderer Schärfe hervor (vgl. Kutscher 2020). Dies gilt ebenfalls für die oben dargestellte Verwendung von sozialen Netzwerken wie Facebook zur Sozialraumanalyse, die Hüttinger et al. (2016) zur Kombination mit der klassischen Nadelmethode vorschlagen. In allen Fällen – darauf weisen die Autor*innen auch unisono hin – werden vielfältige personenbezogene schutzwürdige Daten erhoben bzw. Datenspuren hinterlassen. Hier bleibt fraglich, ob sich dieses sowohl forschungsethisch als auch datenschutzrechtlich relevante Problem allein mit einer empowernden Forschungsabsicht (vgl. Kergel 2020: 236ff.), durch kritische Aufklärung und informierte Einwilligung der Teilnehmer*innen tatsächlich lösen lässt, wenn riskante Nebenfolgen letztlich unkalkulierbar bleiben.
Vor allem die Aufzeichnung von personalisierten Bewegungsprofilen in Kombination mit sozialen Merkmalen und deren Zuordnung zu informellen Aufenthaltsorten erscheint hoch brisant, wenn mit Gruppen wie z. B. Jugendcliquen oder wohnungslosen Menschen geforscht wird, die ohnehin von Ausgrenzung im öffentlichen Raum bedroht sind. Hier ist im potenziellen Kontext ordnungspolitischer Begehrlichkeiten nach entsprechenden Informationen und Kontrolltechnologien zu reflektieren, inwieweit Räume im Unsichtbaren verbleiben sollten. Denn das sozialraumanalytische Ziel, u. a. marginalisierte Perspektiven und benachteiligende Strukturen sichtbar zu machen, kann auch zur „Falle“ werden (Foucault 2013: 257).
3. Diskussion und Fazit
In der Gesamtschau nehmen die vorgestellten digitalisierten Methoden drei unterschiedliche Perspektiven auf Sozialräume ein. Sie werden entsprechend verschieden begründet und halten teilweise eigene Risiken bereit.
Die Mehrzahl der dargestellten Verfahren hat weiterhin den Nahraum mit seinen subjektiv bedeutsamen materiellen Orten und sozialen Ressourcen im Blick. Digitale Techniken werden zum einen als Instrumente zur Erfassung bild- und filmförmiger, multimedialer sowie kartografischer Repräsentationen subjektiver ortsgebundener Qualitäten verwendet. Zum anderen kommen softwaregestützte Auswertungsverfahren zum Einsatz, die hohe Fallzahlen und unterschiedliche Datentypen verarbeiten sowie sozialräumlich skalierbare Muster grafisch visualisieren können. Unterschiede zeigen sich entsprechend in den Begründungen zum ‚digitalen Mehrwert‘. Argumentiert wird zum einen eher pragmatisch, wenn auf die Alltäglichkeit von Medientechniken und -affinitäten – vor allem von jüngeren Zielgruppen – hingewiesen wird (z. B. bei der Verwendung von Smartphones oder Social Media). Zum anderen werden in digitalen Techniken deutlich erweitere Potenziale zur informationsdichteren Datenerhebung, -auswertung und Ergebnisdarstellung gesehen. Das Spektrum reicht von (immersiven) Simulationen örtlicher Anwesenheiten (z. B. Kartendienst- oder 3D-filmbasierte Begehungen) bis hin zu mixed-methods-Auswertungen, die digitale Informationssysteme nutzen, um qualitative, sozialstatistische und georäumliche Daten zu triangulieren. Risiken zeigen sich im Kontext von Datensicherheit und -souveränität sowie – vor allem bei den avancierten softwaregestützten Verfahren – der Überformung des normativen Grundprinzips einer partizipativ verstandenen Praxisforschung „von unten“ (van Rießen 2021: 115) durch potenziell dominierende wissenschaftliche und technische Rationalitäten sowie ordnungspolitisch und kontrolltechnologisch gerahmte Enteignungen der Verfahren und Befunde.
Eine andere Perspektive fokussiert Nutzungs- und Aneignungsweisen von Online-Medien, die als Sozialräume eigener Qualität verstanden werden (z. B. bei Scheibe 2020). Die Argumentation baut i. d. R. darauf auf, dass zunehmend mehr Menschen immer mehr Bereiche ihrer Lebenswirklichkeit (z. B. kommunikativer Austausch, Alltagsorganisation, Konsum, Unterhaltung, Bildung, Arbeit) im ‚Internet‘ realisieren (müssen), dem damit ein bedeutsamer Stellenwert zur gesellschaftlichen Teilhabe zukommt. Problematisiert werden in diesem Zusammenhang soziale Ungleichheiten als Kontexte unterschiedlicher Verfügbarkeiten über digitale Techniken sowie der Aneignung und Nutzung digitaler Räume (Iske/Kutscher 2020; Zillien 2009). Der Mehrwert einer sozialräumlich gedachten analytischen Perspektive auf digitale Räume liegt aus unserer Sicht in ihrem Potenzial, ein auf unmittelbare Lebensumgebungen begrenztes Sozialraumverständnis zu erweitern und um Einsichten zu Ressourcen und Barrieren digitaler Infrastrukturen für die Alltagsbewältigung zu ergänzen. Neben dem virulent werdenden Datenschutzproblem könnte eine Schwäche entsprechender Verfahrenskombinationen darin liegen, ihre jeweiligen Gegenstände nicht hinreichend miteinander in Beziehung zu setzen.
Verfahren mit einer entsprechend relationalen Perspektive reflektieren hingegen explizit die Dimension digital mediatisierter sozialräumlicher Aneignung vor dem Hintergrund, dass „Medienräume an bereits vorhandene Wahrnehmungs- und Handlungsräume anschließen und eine Ergänzung bzw. eine Erweiterung der Raumkonstitution darstellen“ (Ketter 2014: 300). In diesem Sinne eröffnen digitale Infrastrukturen auch soziale Handlungsmöglichkeiten zur Gestaltung von Lebensbedingungen im Nahraum. Das hier einzuordnende Konzept virealen Lernens (Röll 2009) ist zwar eher als medienpädagogisch gerahmte Methode in der sozialraumorientierten Jugendarbeit zu verstehen, mit der eine selbsttätige und reflektierte Medien- und Raumaneignung gefördert werden soll. Gleichwohl lässt es sich sozialraumanalytisch um- und weiterdenken, z. B. mit Fragestellungen zur Bedeutung, Aneignung und Nutzung mediatisierter Hilfsangebote im Kontext partizipativer Quartiersentwicklung. Solche Ansätze institutionalisierter Nachbarschaftshilfen (Henke/van Rießen 2021) finden sich z. B. in Modellprojekten, mit denen digitale Plattformen (Herlo 2018) bzw. Quartiernetzwerke (Diepenbrock et al. 2018) unter aktiver Beteiligung älterer Menschen eingerichtet wurden, die als weniger ‚digitalaffin‘ gelten. An Projekte dieser Art ist jedoch die kritische Anfrage nach den Bedingungen ihrer Verstetigung zu richten, da sie neben dem Engagement von Anwohner*innen und institutionellen Akteur*innen auch dauerhafte personelle, finanzielle und technische Ressourcen benötigen.
Letzteres ist mit Blick auf den Mehrwert digitalisierter Verfahren in Sozialraumanalysen ein grundsätzlich ‚wunder Punkt‘. Zwar lassen sie sich, wie wir gezeigt haben, je nach Fragestellung und Zielsetzung analytisch gewinnbringend einsetzen. Zugleich erhöhen sie jedoch teilweise die Anforderungen an technische Ausstattung und Nutzungskompetenzen aller Beteiligten erheblich. Insofern möchten wir abschließend darauf hinweisen, dass die Verwendung digitaler Medien und Instrumente aus selbstzweckhaften Innovationsgründen oder als Bedingung für eine Teilnahme nicht den Prinzipen partizipativer Praxisforschung entspricht. Die Auswahl sozialraumanalytischer Methoden und deren gemeinschaftliche Umsetzungspraxis werden vielmehr von den Voraussetzungen, Wünschen und Interessen der Menschen abhängig gemacht, um deren eigensinnige Belange es stets in erster Linie geht. Die digitalen Verfahren bereichern daher den sprichwörtlichen ‚Methodenkoffer‘, ersetzen jedoch nicht die bereits vorhandenen und bewährten Methoden.
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Zitiervorschlag
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