Schlussfolgerungen aus 20 Jahren Quartiersmanagement

Joachim Barloschky

Das Quartier Tenever wurde Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre in verdichteter Bauweise als Satellitenstadt am Bremer Stadtrand gegründet. Es wurde damals als wegweisendes Wohnquartier für den modernen Menschen konzipiert. In den letzten vier Jahrzehnten hat sich im Quartier viel verändert. In Tenever wohnen gut 6.000 Menschen aus 88 Ländern. Etwa 70 Prozent der Bewohner/innen sind Migranten/innen: Gut ein Drittel Aussiedler/innen (mit deutschem Pass), ein weiteres Drittel Ausländer/innen; der Rest sind deutsche Staatsbürger/innen.
Die meisten Bremer/innen setzen den Stadtteil mit dem Begriff „sozialer Brennpunkt" gleich. Sie meinen ihn zu kennen, obwohl ihn viele nur als Silhouette von der Autobahn A 27 betrachtet haben. Mit Tenever verbindet sich das schwer zu korrigierende Vorurteil eines menschenfeindlichen Stadtteils: Hier am Rande Bremens leben diejenigen, die die Gesellschaft ausgegrenzt hat!
Dem gegenüber zeigt sich, dass sich in Tenever gut funktionierende Initiativen als Vertretungsorgane der Bewohner/innen gebildet haben. Und die Bewohner/innen wissen die Vorzüge ihres Wohnorts durchaus zu schätzen. Tenever ist ein Ortsteil, in dem Bewohnerbeteiligung auf allen Ebenen praktiziert oder angestrebt wird. Politik, Wohnungsbaugesellschaften wie die Gewoba, die Polizei, die sozialen Einrichtungen – sie alle beherzigen den Grundsatz, dass BewohnerInnen die "ExpertInnen" ihres Lebensumfeldes sind. Die Projektgruppe Tenever betreibt Projekt- und Quartiersentwicklung und fungiert als Geschäftsführung der Stadtteilgruppe. Der Bewohnertreff Tenever, die lokale Selbstorganisation der Bewohnerschaft, lädt alle Teneveraner/innen jeden zweiten Montagabend im Monat ein, um gemeinsam die Ereignisse im Stadtteil zu diskutieren und Prozesse der Stadtentwicklung und Sanierung für alle offen und gemeinsam zu gestalten.

Erste Vorbemerkung

Der vorliegende Text gibt eine Abschlussrede wieder, die ich im Sommer 2011 nach 30 Jahren Tätigkeit (Vorbemerkung: (10 Jahre als Bewohner-Aktivist und 20 Jahre als Quartiermanager) bei der Bremer Arbeitnehmerkammer gehalten habe. Meine Idee war, zum Abschluss nicht nur eine Tenever-Feier zu machen, sondern auf einer Konferenz von WissenschaftlerInnen, PraktikerInnen und BewohnerInnen und weiteren Akteuren kritische Bilanz zu ziehen. Dabei waren die Arbeitnehmerkammer Bremen, die Gewoba, die Senatorin für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales, der vdw-Niedersachsen/Bremen, das bisa+E – Bremer Institut für Soziale Arbeit und Entwicklung und die Projektgruppe Tenever aktiv involviert.

Zweite Vorbemerkung

Da ich in Tenever noch voll am Agieren bin, wird es im Folgenden keine Altersweisheiten oder tief durchdrungene Gedanken geben, sondern 10 Schlussfolgerungen, die ich Sonntagabend niedergeschrieben habe; etwas, was für mich ja nicht typisch ist, da ich lieber frei rede – aber die knappe Redezeit erfordert es.

1. „Oh, Sie arbeiten in Tenever, das ist ja bestimmt sehr schwer" - Ich möchte nicht tauschen, es gibt keine vielfältigere Arbeit, konkret, mit Menschen, immer beachtend die Dialektik von Befriedung und Befreiung – das gilt im übrigen nicht nur für die Gemeinwesenarbeit, sondern für alle Soziale Arbeit).
„Aber die ganzen Ausländer!" - Welch Menschenbild! Es gibt ein gewöhntes, akzeptiertes Neben- und Miteinander in Tenever; bei den Kindern und Jugendlichen wie selbstverständlich gelebt. Wir diskutieren in diesem Hochhausquartier mit 75% Migrationshintergrund nicht „Wer integriert hier wen in was?" Wir sagen: international ist die Zukunft! Und die biologistisch-reaktionären Positionen eines Sarrazins wird man in 30 Jahren vergessen haben – unsere Bewohner/innen in Tenever sagen, bezogen auf meinen Auftritt gegen Sarrazin bei Herrn Jauchs stern.tv aktuell nur: Klasse Barlo, dass Du da voll gegengehalten hast. Du hältst zu uns.
Und wenn es ganz hart kommt (aus etablierten Kreisen) dann heißt es: „die sozial Schwachen". Bitter – ich verbitte mir die BewohnerInnen benachteiligter Quartiere als „sozial schwach" zu bezeichnen, so als fehle ihnen die „soziale Ader". (Ich widerspreche nicht dem Bedürfnis von Soziologen, Politikern und überhaupt, eine Analyse von Potenzialen und Problemen vorzunehmen.)
Aber „sozial schwach" sind für mich eher die „Entscheider", die Reichen, die „Schmarotzer in Nadelstreifen", die „Eliten", die ihre Boni erhalten fürs „Betuppen" bzw. fürs optimale Mitwirken im kapitalistischen Systemzusammenhang – und damit Verantwortung tragen für Massenentlassungen, Löhne, von denen man keine Familie ernähren kann und immer stärker von Teilhabe ausgegrenzt wird, sowie die Verächtlichmachung von Benachteiligten durch Bezichtigung „spätrömischer Dekadenz". Da fällt mir dann immer wieder nur Tschechows Erkenntnis ein:

„Sattheit enthält, wie jede andere Kraft, immer auch ein bestimmtes Maß an Frechheit, und diese äußert sich vor allem darin, dass der Satte dem Hungrigen Lehren erteilt."

Und sozial schwach sind für mich die Politiker, die mit Hartz IV (und erst recht dem Hohn der 5+3 € Erhöhung) die soziale Spaltung der Gesellschaft weiter vorantreiben und gleichzeitig durch Steuersenkungsorgien für die Reichen in den letzten 13 Jahren die öffentliche Armut zementiert und verstärkt haben und so die Mittel rauben, die zur Kompensation von Benachteiligung und sozialem und ökologischem Umbau der Gesellschaft dringend gebraucht würden.
Und sozial nicht stark und unsolidarisch verhalten sich schließlich die, die krampfhaft bei den Debatten um Schulreformen ihre bzw. ihrer Kinder Bevorteilung aufrechterhalten wollen (siehe Hamburg oder der starke Anstieg von Privatschulen und ideologisch das „Elitegerede").
Lange Rede, kurzer Sinn: Nicht nur für Quartiermanger/innen kommt es auf das Menschenbild an; auf Haltung! Wertschätzung! Ernstnehmen! Einmischen!

2. Die soziale Spaltung unserer Gesellschaft und damit einhergehend die Spaltung unserer Städte (durch Segregations- und Gentrifizierungsprozesse) ist ein gesellschaftlicher und politischer Skandal!
Das ist mein Ausgangspunkt. Und nicht die zu beobachtende Tendenz, die Benachteiligung zu individualisieren durch das Schicksal oder Defizite und dann die Benachteiligten anzupassen (gar durch „WiN – Wohnen in Nachbarschaft" finanziert.). Denn dieser Skandal der gesellschaftlichen Spaltung ist nicht vom Himmel gefallen. Er ist kapitalistisch systembedingt und wird politisch gemacht.
Da werden innerhalb von Tagen und Stunden Hunderte Milliarden für die „systemrelevanten" Banken auf Kosten der Steuerzahler mobilisiert und andererseits braucht man monatelang und einen großen Bürokratie-Aufwand um benachteiligte Kinder mit 10 € monatlich für Kultur und sinnvolle Freizeit abzuspeisen.
So gesehen sind gute Quartiersmanager immer aufgerufen, Unterstützer der (kämpferischen) Interessensvertretung Benachteiligter und ihrer Quartiere zu sein. Sie müssen immer tanzen auf dem schmalen Grat zwischen täglichem Reformismus und grundsätzlicher Kritik der gesellschaftlichen Ursachen und Zustände.

3. Wenn man sich die Situation in den benachteiligten Gebieten anschaut, dann fällt mir immer gleich Bertolt Brechts „Die große Decke" ein:

Der Gouverneur, von mir befragt, was nötig wäre / Den Frierenden in unsrer Stadt zu helfen / Antwortete: Eine Decke, zehntausend Fuß lang / Die die ganzen Vorstädte einfach zudeckt.

Ich bin froh und stolz, dass Bremen keine „große Decke" ausspannt über die benachteiligten Quartiere – sondern sich u.a. mit dem wunderbaren WiN-Programm (und den ergänzenden Programmen Soziale Stadt und LOS) der Verbesserung der Wohn- und Lebensbedingungen in diesen Quartieren stellt. Das reicht natürlich bei weitem nicht die gesellschaftlichen Ausgrenzungsprozesse zu stoppen, geschweige umzukehren, hat aber dazu beigetragen, dass Kräfte und Akteure in den Quartieren mobilisiert werden und Dinge in die eigene Hand nehmen. Es werden Armut kompensierende Projekte initiiert und heiß diskutiert – von den lokalen Akteuren und aus der Bewohnerschaft. So kann ein Quartier seine Würde zurück gewinnen, Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeit entfalten und das Leben lebendiger machen und den sozialen Zusammenhalt zumindest in seinem Quartier stärken.
ABER: Skandalös ist es, wenn die Bundesregierung z.B. das Programm Soziale Stadt drastisch kürzt und deutlich macht, dass sie es eigentlich gar nicht haben wollen, weil Benachteiligte nicht auf ihrer Agenda stehen – da sollte man lieber schnell Hotelbesitzer werden.
Und Herr Röwekamp von der CDU treibt es in Bremen auf die Spitze, wenn er die Ausgaben für das Programm WiN für „unnötig" erklärt. (Weserkurier 19.03.2011) – welch gesellschaftspolitischer Zynismus
Angebrachter wäre eine Erhöhung der Mittel für Programme wie WiN, oder zumindest die Überführung von bewährten Projekten in die Regelfinanzierung. Denn diese Tendenz ist nicht zu verkennen, dass immer mehr Ressorts ihre Finanzsorgen durch WiN / Soziale Stadt kompensieren.
Allerdings: Für die meisten Bundesländer in Deutschland müsste man erstmal durchsetzen, dass es solche Programme wie WiN überhaupt gibt. Denn WiN hat den entscheidenden Vorteil, dass es nicht nur investive Ausgaben finanziert wie die Soziale Stadt, sondern auch konsumtive Ausgaben für Personal und Programmaktivitäten.
Nur: Viel, viel entscheidender als mehr WiN-Gelder ist eine Verbesserung der Regelversorgung: Wir brauchen die besten bzw. bestens ausgestatteten Schulen in den benachteiligten Gebieten. Und es ist doch eigentlich auch ein Skandal, dass für die Integration der Kinder gerade in den benachteiligten Quartieren bei weitem nicht genug Kita-Plätze für 0-3jährige bereitstehen. Und dann wird über Integration und Spracherwerb von (nicht nur) Migrantenkindern gejammert.

4. EXKURS zum Stadtumbau

Nicht nur in Bremen, sondern wie die Besuche von Wohnungsgesellschaften, PlanerInnen und Universitäten aus Deutschland und auch Europa zeigen, hat sich herumgesprochen, dass sich das Demonstrativbauvorhaben Tenever von einer städtebaulichen Sünde in menschenwürdige Wohn- und Wohnumfeldbedingungen entwickelt hat.
Damit ist der praktische Beweis angetreten, dass ein von „sozial schwachen" Eigentümern runter gewirtschaftetes Quartier mit katastrophalem Image und bis zu 1000 Leerständen gewandelt werden kann in gute menschenwürdige Wohnverhältnisse. Heute gibt es Warteschlangen und die besser situierten Unkenrufer aus der Stadt („da werden Perlen vor die Säue geworfen") sind widerlegt.

Was waren die Bedingungen für den erfolgreichen STADTUMBAU in Tenever:

  1. Entscheidend ist ein entsprechender politischer Wille in der Stadt.
    Im August 2000 fasste der Bremer Senat einen entsprechenden Grundsatzbeschluss und legte eine auch von der Stadtteilgruppe Tenever mitentwickelte städtebauliche Konzeption vor. Und er kündigte an, den Umbau mit ca. 30 Mio. € zu unterstützen.
    In den Jahren 2003 und 2004 wurden 62 % der Tenever-Wohnungen von der Gewoba aus Zwangsversteigerungen erworben. Im Mai 2004 startete der Abriss von ca. 950 Wohnungen und begann gleichzeitig die tipp-topp-Sanierung der anderen Wohnungen. Mittlerweile ist die Sanierung fast abgeschlossen bzw. noch zu sanierende Blöcke werden in diesem und im nächsten Jahr planmäßig saniert. Und alle hoffen, dass die beiden verbliebenen Hochhäuser Neuwieder Str. 1 und 3 mit 180 WE, die in den Händen von internationalen Finanzkonzernen sind, ebenfalls noch in den Sanierungsprozess mit einbezogen werden können
    Aber wie geht Politik? Wie kommt der politische Wille zustande? Das geht nur mit dem Schaffen eines entsprechenden öffentlichen Klimas. Also, das braucht Druck, Lob, Fakten, Skandalisierung der menschenunwürdigen Wohnbedingungen, Briefe (1993 schrieb ich erstmals in einer Bilanz des Nachbesserungsprozesses für den Bausenator von der Notwendigkeit, dass Tenever neben dem Wirken der Stadtteilgruppe mit den Nachbesserungsprojekten eine „Groß-Sanierung" Gesamt- Tenevers notwendig ist), Appelle, Versammlungen, Einladungen an Bürgermeister, aber auch Bau- und Sozialsenatoren und vor allem Aktionen (in Tenever und in der Stadt), Öffentlichkeitsarbeit. So ist eine Gesamteinsicht in der Stadt entstanden, dass die Stadt hier Verantwortung hat, grundsätzlich einzugreifen. Dieses Klima muss dann nur noch mit entsprechenden Programmen/Maßnahmen aus der Verwaltung und Politik unterfüttert werden.
  2. Es braucht eine städtische Wohnungsgesellschaft – wie die Gewoba! (und ihre Schumanns!)
    Denn die ermöglicht hunderttausenden Menschen unserer Stadt ordentliche Wohnverhältnisse und garantiert der Stadt Einflussnahme auf städtebauliche Entwicklungen, insbesondere der Quartiere.
    Was passiert, wenn man den ausschließlich an Profit orientierten Finanzgesellschaften, Spekulanten und Geldwäschern das „Menschenrecht" auf Wohnen überlässt, haben wir in Tenever leidvoll erfahren. Und erleben es heute noch in den beiden Hochhäusern Neuwieder Str. 1 und 3 (Babcock-Holding). Gewoba und Bauressort allerdings waren schlecht beraten, die Möglichkeiten des Erwerbs (Vorkaufsrecht der Stadt) der Neuwieder Str. 1 und 3 in 2005 nicht zu nutzen.
    Und auch die Menschen in Gröpelingen, Wohlers Eichen und der Grohner Düne und die Mieter bei der (ehemals städtischen) Bremischen erleben es tagtäglich: Instandsetzungs- und Modernisierungsstaus und Stress!
    Und wenn die CDU und die FDP die Gewoba verscherbeln wollen, spricht das nur für ihre persönliche Gutsituiertheit, Ferne zum realen Leben – und die Quittung wird folgen bei der nächsten Bürgerschaftswahl am 22.05. 2011.
  3. Die gesamte Sanierung braucht engagierte Bewohnerbeteiligung, die in Tenever durch die Stadtteilgruppe erfolgte. Das geht vom Kampf für die Sanierung bis hin zu permanenter Information und Diskussion der Stadtteilgruppe über das städtebauliche Konzept, die Details wie bei den Conciergen und dem Farbkonzept über die gleichberechtigte Mitwirkung in den OTe-Arbeitsgruppen (Technik, Freiraum, Umzugsmanagement) der Sanierung, Bewohner- und Sanierungsversammlungen etc.etc.
    Durch die regelmäßige Information der BewohnerInnen (auch als Voraussetzung der Teilhabe und Einflussnahme) sowie die Beteiligungsmöglichkeiten in öffentlichen Versammlungen und Foren und Seminaren wurden die Planungen deutlich qualifiziert und das gesamte städtebauliche Konzept sogar gegen Widerstände verteidigt!
  4. Die baulich-steinige Sanierung wurde flankiert durch die Arbeit mit den Programmen WiN, Soziale Stadt und LOS – mit denen so wichtige Einrichtungen wie die Halle für Bewegung, der Kinderbauernhof, die Internationalen Gärten und unzählige kleine Projekte zur Verbesserung der Wohn- und Lebensbedingungen geschaffen wurden.
  5. Und schließlich: Die Sanierung muss ressortübergreifend flankiert werden. Auf der Basis des oben beschrieben „politischen Willens" haben die verschiedenen Ressorts nicht nur die Bremer Mitfinanzierung des Stadtumbaus mitgetragen, sondern zum Teil eigenständige Beiträge zur Verbesserung der Gesamtsituation Tenevers geleistet.
    So wurden bzw. werden aktuell durch den Bildungssenator u.a. alle Schulen baulich saniert – das wurde vor Ort auch immer eingefordert und zugespitzt mit der Losung: Ihr könnt nicht die Wohngebäude alle sanieren und in unseren Schulen regnet es durch.
    Oder ein weiteres Beispiel mit Langzeitwirkung: Die Ansiedlung der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen in der Gesamtschule Ost in Tenever. Und da sei dazugesagt: das war mal eine Initiative, die nicht aus der Stadtteilgruppe kam, aber die wir sofort begeistert begrüßt und genutzt haben. Nächste Möglichkeit, sich von den Wirkungen für die GSO-Schüler und die Schule und das Quartier zu überzeugen: 5. und 6. Mai um 19:30 Uhr auf den durch Abriss freigewordenen Flächen an der Neuwieder Str .

Ich wünsche anderen Sozialräumen wie Gröpelingen und weiteren Quartieren in Bremen und überall solch ein konzentriertes ressortübergreifendes Herangehen und Anpacken
Heute leben wir wie in einem internationalen Dorf in Tenever. Mit menschenwürdigen Wohnverhältnissen – aber immer noch leidend (und bekämpfend) die Spaltung der Gesellschaft in arm und reich. Mit all den Folgen für die öffentliche Armut – und sich daraus ergebenden Kürzungen bei der Arbeitsmarktpolitik, nicht ausreichend ausgestatteten Schulen und Kitas, Kürzungen bei sozialen Leistungen etc.
Deshalb bleiben wir vernetzt, solidarisch, uns wehrend!
Ende des Exkurses!

5. Die Arbeit muss dringend ressortübergreifend erfolgen. Das Programm WiN ist so angelegt. Alle Ressorts zahlen (indirekt) in das Programm ein – und haben auch teil. Auch wenn man sich da bei dem einen oder anderen Ressort (Wirtschaft) mehr wünschen würde.
Als Bremer und als öffentlich Bediensteter der Stadt verstehe ich meine Arbeit als Quartiersmanager als „dem Volke dienen" und denke gar nicht ressortunterteilt, sondern ganzheitlich für die Menschen unserer Stadt und ihrer Quartiere.
Umso mehr verwundern mich Ressortkonkurrenzen und Eitelkeiten, die dann ggf. auch noch auf dem Rücken der Quartiere bzw. ihrer Bewohner ausgetragen werden.

6. Und noch ein Satz zur Fairwaltung.
Wir haben den Vorteil, dass das Programm WiN wenig bürokratische Hürden aufweist. Die WiN-Anträge sind leicht auszufüllen und leicht abzurechnen. Es gibt eine gute kooperative Zusammenarbeit mit den handelnden Kollegen – und es gibt überhaupt viele engagierte KollegInnen in den Verwaltungen.
Allerdings ist nicht immer eine Basis- bzw. Projektorientierung vorhanden, sondern die Ressort/Ämtervorschriften rücken manchmal in den Mittelpunkt – und damit die Menschen aus dem Blick.
Und muss das sein, dass für ein solch bescheidenes kleines Programm (max. 150.000 € WiN pro Gebiet) eine Evaluations- und vor allem Steuerungs-Bürokratie ausbricht? Den Kolleginnen und Kollegen in den Quartieren und auch den Projektträgern geht die Zeit verloren: für Basisarbeit, Beziehungsarbeit und Bewegungsarbeit.
Und wer mit „steuern" will, der sollte einfach mehr in die Stadtteilgruppen oder in die Projekte kommen. Wir freuen uns über Mithilfe – und man lernt dabei auch noch – das reale Leben; und nicht das der Hochglanzbroschüren!

7. Es ist ein Segen, dass bei unseren Programmen WiN / Soziale Stadt / LOS Bewohnerbeteiligung zentraler Bestandteil ist. Denn um sie geht es: die BewohnerInnen!
Möglichkeiten gibt es viele. Haus-Versammlungen, Sanierungsplanungssitzungen, NutzerInnenbeteiligung, Workshops und Versammlungen zu thematischen oder Zielgruppenschwerpunkten, Aktivierende Befragungen, Feste, Praktisches Anpacken. Entscheidend ist immer: die Information (Öffentlichkeits- und Pressearbeit) als Grundlage für Interessen und Einmischung.
Ganz entscheidend ist das Modell der Stadtteilgruppen. Das klappt nun in Tenever auch wirklich ganz besonders gut. 60 – 120 Leute besuchen die monatlichen Sitzungen. Es ist ja mittlerweile europaweit bekannt, dass die Stadtteilgruppen über das Quartiersbudget entscheiden. Das heißt: Die Bewohner/innen und alle Akteure äußern ihre Interessens-Prioritäten, beraten und entscheiden gemeinsam schließlich im Konsens (oder auch mal nicht) über 500 € oder 10.000 € oder auch mal 150.000 € für größere oder kleine Projekte zur Verbesserung der Wohn- und Lebenssituation.
Ich halte für mindestens genauso wichtig die Rolle der Stadtteilgruppe als gesellschaftliches Ereignis in unseren Quartieren: Dort wird der Quartierdiskurs übers Große und Kleine geführt. Da erhält das Quartier eine Stimme, die bis in die Stadt hinein gehört werden kann, etwa bei Auseinandersetzungen um den Erhalt des Hallenbades und der Stadtteil-Bibliothek oder Konflikten um Müll, Dramen auf dem zweiten Arbeitsmarkt, Aktivitäten gegen Rassismus etc.)

8. Der vorige Redner, Professor Yoshikoto Nawata (Hosei-Universität Tokio), hat bereits zu rechtphilosophischen Fragen des Konsens-Prinzips gesprochen.
Wir haben in Tenever sehr gute Erfahrungen mit diesem Prinzip gemacht.
Ich mache nur zwei kritische Anmerkungen:
Erstens ist solch ein Prinzip als Entscheidungsform nur sehr kleinräumig anwendbar, Tenever hat 10.000 Einwohner, im Hochhausviertel, dem Schwerpunkt 5.000.
Zweitens darf das Konsens-Prinzip nicht dazu beitragen, die Widersprüche zu verkleistern. Die unterschiedlichen Positionen müssen deutlich ausgefochten werden. Die Ursachen der Probleme müssen immer benannt werden können. Das kann man bei uns in der Stadtteilgruppe. Und das exerzieren wir auch durch bei der Unterstützung der MieterInnen der Neuwieder Str. 1 und 3 gegen die internationalen Finanzkonzerne, die kaum Geld ausgeben für Instandsetzungen und Modernisierungen, sondern nur immer eifrig Miete kassieren.

9. Geht ordentlich mit Euren QuartiersmanagerInnen um. Pflegt sie. Sie sind diejenigen, die ganz nah dran sind am realen Leben, die vernetzen können, die Potentiale des Quartiers kennen, die anschieben und powern – im Interesse des Stadtteils. Auch wenn es die Politik und die Verwaltung öfters nervt. Dort in den Quartieren ist die Basis und die Wahrheit!
Es ist doch ein Unding, dass sich drei unserer Quartiersmanager nach 9 Jahren befristeter Beschäftigung erst einklagen mussten und jetzt wieder Probleme gesehen werden, alle Quartiere mit einer vollen QM-Stelle auszustatten. Dabei wären zwei QuartiersmanagerInnen eigentlich notwendig, das leite ich aus den Überstunden meiner KollegInnen ab. Außerdem: Wenn der öffentliche Dienst mehr Migranten einstellen würde, würden wir da auch noch ein Stück weiter vorankommen.
Allerdings: Es ist goldrichtig und löblich, dass Bremen Quartiersmanagement als Aufgabe des öffentlichen Dienstes versteht. Das ist soziale Daseinsvorsorge und ein entschiedener Beitrag zur Skandalisierung der Spaltung der Gesellschaft und ihrer Überwindung.

10. Politik
WiN fördern! Dieses quer zu den üblichen Verwaltungsstrukturen funktionierende Programm produziert und fördert das Neue! Nicht das übliche weiter so.
Aber entscheidend wäre für die Politik die Hauptaufgabe anzugehen: Es muss eine Wende zum Sozialen eingeleitet werden. Profitmacherei mit Wohnungen muss unterbunden werden.
Jede Senatsvorlage sollte zum Schluss enthalten: Was trägt diese Maßnahme, dieses Programm zur Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung bei? Wie erhöht es Chancengleichheit?

Der Staat sollte vorzüglich für die Ärmeren sorgen, die Reichen sorgen leider nur zu sehr für sich selbst. Johann Gottfried Seume


Zitiervorschlag

Barloschky, Joachim (2011): Schlussfolgerungen aus 20 Jahren Quartiersmanagement. In: sozialraum.de (3) Ausgabe 1/2011. URL: https://www.sozialraum.de/schlussfolgerungen-aus-20-jahren-quartiersmanagement.php, Datum des Zugriffs: 21.11.2024