Sozialraumanschluss unter dieser Nummer – Telefonische Recherche nach Möglichkeiten für eine sozialraumorientierte Zusammenarbeit am Beispiel eines Jugendkulturbahnhofs

Katrin Valentin

Der Einbezug von sozialräumlichen Aspekten für die Konzeption einer Einrichtung ist in der Regel mit sehr viel Aufwand verknüpft. Sozialraumorientierung – hier im Sinne eines Fachkonzeptes „zur besseren Entwicklung und Steuerung von Angeboten“ (Spatscheck 2009, S. 33) – erfordert das Analysieren oder doch wenigstens das Portraitieren eines Lebensraumes, das sowohl die materielle Struktur als auch das Aneignungsverhalten seiner Subjekte berücksichtigt. Es ist nicht verwunderlich, dass so manches Vorhaben aufgrund der zu befürchtenden Arbeit auf der Strecke bleibt. Bei dem hier vorzustellenden Projekt wurde versucht, mit möglichst geringem Aufwand den sozialräumlichen Aspekt bei der Neukonzipierung eines Jugendkulturbahnhofes mit zu berücksichtigen. In Erfahrung gebracht wurden dabei lediglich Ansichten von erwachsenen Akteuren der Kinder- und Jugendarbeit. Ein durchdringendes Verständnis für die Eigentümlichkeiten des konkreten Sozialraumes kann auf diesem Wege freilich nicht entstehen. Es zeigte sich jedoch, dass bereits durch die Auswertung der Äußerungen der befragten Personen sehr viel Weiterführendes in Erfahrung gebracht werden konnte und dies äußerst gewinnbringende Impulse für die Weiterentwicklung der Angebotspalette des Jugendkulturbahnhofs mit sich brachte.

Der Jugendkulturbahnhof ist – wie der Name schon sagt – ein ehemaliger Bahnhof, der durch viel ehrenamtliches Engagement zu einer Einrichtung der Kinder- und Jugendarbeit des Dekanats Büdingen der Evangelischen Kirche Hessen-Nassau (ekhn) wurde. Er liegt in einer ländlichen Region Hessens, in der Nähe von drei kleineren Orten. Die zuständige Gemeindepädagogin Ulrike Martin nahm an dem Modellprojekt „jugendarbeit weit und breit – konzeptionelles Arbeiten in ländlichen Räumen: subjektorientiert und sozialraumorientiert“ teil. Das Projekt fand unter der Leitung von Ulla Taplik (Grundsatzreferentin Fachbereich Kinder und Jugend des Zentrums Bildung der ekhn) und Dr. Katrin Valentin statt (Gesamtdokumentation siehe Beitrag in der Rubrik „Projekte“). Für Frau Martin war der Anlass für die Teilnahme die anstehende Überarbeitung des Konzeptes für den Jugendkulturbahnhof, aber auch die Feststellung, dass zu wenig Kinder und Jugendliche an den Angeboten interessiert zu sein scheinen. Um dem zu begegnen, sollte der Jugendkulturbahnhof besser mit anderen Akteuren des Sozialraums vernetztet werden.

Dazu wurden folgende Vorannahmen getroffen: Man ging davon aus, dass die geringe Teilnahme von Kindern und Jugendlichen mit deren Berührungsängsten mit einer ihnen fremden Einrichtung zu tun hat und dass überdies der geringe Bekanntheitsgrad bei anderen Akteuren der Jugendarbeit zu diesem Fremdheitsgefühl beiträgt. Darüber hinaus war man der Auffassung, dass die Haltung der Akteure der Jugendarbeit gegenüber den jungen Menschen die Erwartungshaltung dieser vorstrukturiert. Je nachdem, wie die Jugendlichen von diesen Akteuren behandelt werden, erwarten sie auch Ähnliches von den Verantwortlichen des Jugendkulturbahnhofs. So erhoffte man sich von dem direkten Kontakt mit anderen Akteuren der Jugendarbeit nicht nur die Initiation von Kooperationsgelegenheiten, sondern auch die Aufdeckung von sozialraumspezifischen Perspektiven auf Jugend, um die Reaktionen der Jugendlichen auf die neue Einrichtung besser nachvollziehen zu können.

1. Vorbereitung und Durchführung

Zunächst wurde der Sozialraum des Jugendkulturbahnhofs grob abgesteckt. Als Veranstalter ist man leicht dazu geneigt, ein sehr großes Einzugsgebiet zu veranschlagen. Deshalb wurden mehrere Faktoren einschränkend in den Blick genommen: Die Wohnbereiche der bereits teilnehmenden Kinder- und Jugendlichen, der direkte fußläufige Streifraum in der Umgebung und die über den Busverkehr oder über kurze Autofahrten erreichbaren Wohngebiete. Für dieses Gebiet wurde nach Akteuren der Kinder- und Jugendarbeit im Internet recherchiert. Interessant waren dabei vor allem die Pfarrämter der angrenzenden Gemeinden und Personen, die mit Jugendlichen zu tun haben, aber auch z.B. die Jugendfeuerwehr.

Im Blick auf die oben dargestellten Ziele und Vorannahmen wurde ein kurzer Leitfaden für ein telefonisches Einzelinterview erstellt, der in erster Linie als Gesprächsanlass dienen sollte und der Anruferin dabei behilflich sein sollte, die wichtigsten Gesichtspunkte nicht zu vergessen. Er wurde bewusst sehr einfach gehalten, um Raum für informelle Gesprächsteile zu ermöglichen. Die Frageformulierungen wurden in Anlehnung an die Checkliste von Bortz/Döring überarbeitet und getestet (Bortz/ Döring 2006, S. 244). Er erstreckte sich über fünf Schritte. 1: Gesprächseröffnung mit Vorstellung und Anlass; 2: Was brauchen Jugendliche heute am dringendsten von Jugendarbeit? 3: Kennen Sie den Jugendkulturbahnhof? 4: Welche Angebote der Kinder- und Jugendarbeit finden bei Ihnen statt? 5: Bedankung und evt. Vereinbarung für weiteres Gespräch. (Leitfaden siehe Dokumentation in der Rubrik Projekte)

Insgesamt wurden 14 Gespräche durchgeführt, vornehmlich mit Pfarrern und Pfarrerinnen aus der Region. Die Gesprächspartner(innen) waren zumeist gut zu erreichen und bis auf zwei Ausnahmen waren alle gewillt, sich mit der Gemeindepädagogin zu unterhalten. Es zeigte sich schnell, dass die Situationen in den Gemeinden äußerst unterschiedlich bewertet werden: bezogen auf den Blick auf die jungen Menschen, die Angebotslandschaft und die Erfolgsaussichten für jugendarbeiterische Unternehmungen.

2. Auswertung

Bei allen Gesprächen wurden die wichtigsten Informationen auf einem dafür vorgesehenen Bogen stichpunktartig protokolliert. Die Auswertung dieser Kurzprotokolle bezog sich nicht nur auf das bloße Zusammenstellen möglicher Kooperationsgelegenheiten. Die Gespräche verliefen derart interessant, dass auch weiterführende Fragen verfolgt werden konnten, die sich induktiv aus dem Material ergaben: Wie reden die Befragten über junge Menschen? Welche Vorstellungen von jugendlichem Leben spiegeln sich darin? Welche Befürchtungen äußern die Befragten, bezogen auf Formen der Zusammenarbeit mit anderen Akteuren der Jugendarbeit? Welche Impulse für die Gestaltung des Angebots des Jugendkulturbahnhofes ergeben sich? Im Folgenden sollen die zentralen Ergebnisse kurz dargestellt werden.

2.1 Verhältnisse zwischen den Akteuren von Jugendarbeit

Sehr deutlich wurde in den Gesprächen eine Konkurrenzangst zwischen den Anbietern von Jugendarbeit bzw. eine Grundhaltung, die die ausschließliche Betrachtung der eigenen Situation zulässt. Frau Martin interpretierte dies als ein „Kirchturmdenken“. Das heißt, kaum einer der Angerufenen zeigte einen Bezug zum Sozialraum, sondern war ganz auf die Bewältigung der innersten Angelegenheiten „direkt vor der Tür“ fixiert. Im Falle der Vereine macht dies vor dem Hintergrund Sinn, dass die Teilnehmerzahlen ausreichen und subjektiv kein Anlass für eine sozialräumliche oder netzwerkende Jugendarbeit besteht. Im Fall der Pfarrerinnen und Pfarrer nahm Frau Martin bei manchen schlicht auch Überforderung aufgrund von Personalmangel wahr. Auch das Verhältnis zwischen Dekanatsebene und Gemeindeebene schien von den Befragten problematisch empfunden zu werden. Der Jugendkulturbahnhof wurde von Einzelnen eher als Konkurrenz zu den eigenen Angeboten empfunden (selbst wenn diese gar nicht stattfanden) und nicht als Katalysator für eine Aktivierung von Jugendlichen. Dennoch signalisierten zahlreiche Gesprächspartner(innen) große Offenheit für eine prinzipielle Zusammenarbeit. Die Gespräche hatten in dieser Hinsicht zum Teil geradezu aufklärerischen Charakter. Sie ermöglichten den Angerufenen eine neue Haltung zu den möglichen Auswirkungen von gemeinsamen Bemühungen zu entwickeln. Damit wurde ein wichtiger Grundstein für etwaiges Zusammenarbeiten gelegt.

2.2 Das Bild von Jugend

In den Gesprächen wurde deutlich, dass die Perspektiven auf die jungen Menschen auffallend unterschiedlich waren. Manche Gesprächspartner(innen) sahen die Jugendlichen gut aufgehoben und ins dörfliche Leben eingebunden, geradezu mit übermäßig viel Freizeitangeboten überfrachtet; manche fanden, dass sie sehr schwer zu erreichen oder zu motivieren sind und es nicht genügend Angebote für sie in dieser ländlichen Gegend gibt – auch weil die jungen Menschen nicht „irgendwo außerhalb“ hingehen wollen. Von Seiten der Pfarrerinnen und Pfarrer wurde relativ häufig formuliert, dass Kirche wohl in den Augen der jungen Menschen „uncool“ ist und die Vermutung geäußert, dass das ein Grund für eine mangelnde Teilnahme an Angeboten ist. Die Gründe für diese unterschiedlichen Wahrnehmungen liegen wohl in zwei Sachverhalten: Zum einen scheint es innerhalb des veranschlagten Sozialraumes Gegenden mit einem Überangebot und solche mit einem Unterangebot für Freizeitbeschäftigungen zu geben. Zum anderen scheinen die subjektiven Erfahrungen der Befragten mit dem Gelingen der eigenen Maßnahmen zur Belebung von Jugendarbeit für die Interpretation der Situation der jungen Menschen ausschlaggebend zu sein. Das heißt, die Zufriedenheit mit der eigenen Situation ist entscheidend dafür, ob ein eher positiver oder ein eher resignierter Blick auf die jungen Menschen geworfen wird.

2.3 Möglichkeiten für eine Zusammenarbeit

Die Auswertung bezogen auf den vordergründigen Anlass der Telefonate war sehr ertragreich. Im Rückblick können drei Kategorien bestimmt werden: Formen der Zusammenarbeit, die direkt aus den Gesprächen resultierten, Möglichkeiten, die sich erst aus dem Ensemble der Anrufe ergeben und Anfragen von Seiten der Angerufenen, die später im Nachgang zu den Telefonaten an den Jugendkulturbahnhof gerichtet wurden. Die meisten Auswirkungen hatten – und das ist ja gerade die Stärke von Sozialraumorientierung – die Impulse, die sich in der Gesamtschau der Berichte der Angerufenen ergaben.

Einige der bereits umgesetzten Impulse und konzeptionellen Schlussfolgerungen sollen hier kurz genannt werden:

3. Reflexion des Vorgehens

Das Vorgehen als solches ist einfach und recht leicht zu bewältigen. Die Auswertung der Gespräche hingegen erfordert ein gewisses Geschick darin, die Interpretationsebenen nicht zu vermischen. Es besteht die Gefahr, die Ansichten der Angerufenen als objektive Beschreibung des Sozialraums zu interpretieren. Der Sozialraum einer Einrichtung ist jedoch gerade dadurch charakterisiert, dass er sich durch verschiedene Perspektiven konstituiert und in dieser Hinsicht nicht objektivierbar ist. In diesem Fall steht (mindestens) die eigene Perspektive neben der der Angerufenen und der der Jugendlichen (diese wurden sowohl im Vorlauf des Projektes als auch bei den Entscheidungen zu den Konsequenzen aus dem Erfahrenen beteiligt). Es kam also darauf an, immer wieder die Sichtweise der Angerufenen als Resultat ihres persönlichen Erlebens und ihrer Entscheidungen im Umgang damit zu interpretieren und nicht als „objektive“ Beschreibung des Sozialraumes anzusehen. Auch das Filtern der vielen Informationen, die man erhält, bedarf einer klaren Ausrichtung auf eingeschränkte Themenstellungen. Allzu schnell kann man sich in den vielen Aussagen, Möglichkeiten und Impulsen verlieren. Eine interkollegiale Zusammenarbeit bei der Auswertung ist dabei unerlässlich. Im Austausch mit den haupt- und ehrenamtlichen Kolleg(inn)en des Jugendkulturbahnhofs entstanden die tragfähigsten Ideen und Reflexionen.

Die persönliche Kontaktaufnahme – in Abgrenzung zu einer schriftlichen bzw. online-durchgeführten Befragung – hat sich sehr ausbezahlt. Man hätte zwar auf anderem Wege mit geringerem Zeitaufwand mehr Personen erreichen können, doch war die Entstehung eines persönlichen Kontakts ja bereits Teil des Zweckes eines solchen Vorgehens. Denn beim Zusammenarbeiten im Bereich der Jugendarbeit ist die Sympathie zwischen den Akteuren ein nicht zu unterschätzender Faktor für das Gelingen größerer Vorhaben (vgl. Valentin 2013). Der Grund liegt darin, dass Projekte mit Pioniercharakter oft vor mannigfaltige Schwierigkeiten gestellt sind und ein gewisses Passungsverhältnis der Hauptverantwortlichen eine Basis ist, auf der diesen Herausforderungen wesentlich leichter begegnet werden kann. Im Zuge der persönlichen Telefonate war leicht und schnell absehbar, ob gewisse Grundeinstellungen übereinstimmen (sozusagen „die Chemie stimmt“) auf Basis derer eine Zusammenarbeit oder Kooperation denkbar wäre. Im Nachgang zu der telefonischen Recherche sind die Verantwortlichen des Jugendkulturbahnhofs mit mehreren Akteuren des Sozialraums im Gespräch – es sieht danach aus, dass noch weitere Vorhaben umgesetzt werden können.

Literatur

Spatscheck, Christian 2009: Theorie-und Methodendiskussion. In: Deinet, Ulrich (Hrsg.): Methodenbuch Sozialraum. VS Verlag für Sozialwissenschaften. Wiesbaden, S. 33-44

Valentin, Katrin 2013: Die Zusammenarbeit zwischen Schule und Theater. Empirische Ergebnisse für die Fachdebatte und hilfreiche Reflexionen für die Praxis. Waxmann. Münster

Bortz, Jürgen, Döring, Nicola 2006: Forschungsmethoden und Evaluation für Humanwissenschaftler. Springer Medizin Verlag. Heidelberg


Zitiervorschlag

Valentin, Katrin (2014): Sozialraumanschluss unter dieser Nummer – Telefonische Recherche nach Möglichkeiten für eine sozialraumorientierte Zusammenarbeit am Beispiel eines Jugendkulturbahnhofs. In: sozialraum.de (6) Ausgabe 1/2014. URL: https://www.sozialraum.de/sozialraumanschluss-unter-dieser-nummer.php, Datum des Zugriffs: 21.11.2024