(Be-)Deutungen von schulisch-organisierten Räumen aus der Perspektive von Kindern

Eine Mixed-Methods-Studie zu Sichtweisen von Kindern auf Ganztagsschule und Sozialräume

Yvonne Gormanns, Laurin Bremerich

In einer Teilstudie des Forschungsprojektes „Die Zukunft des Ganztags an Düsseldorfer Primarschulen“ (Projektlaufzeit: Mai 2022 bis Dezember 2023) wurden die Perspektiven von Kindern auf Ganztagsschule und den Sozialraum erhoben. Der folgende Beitrag beschreibt die zentralen Ergebnisse dieser Teilstudie und unterstreicht die Relevanz, Kinderperspektiven bei der Gestaltung schulischer wie außerschulischer Bildungsräume stärker zu berücksichtigen und Kinder als kompetente Akteur:innen einzubeziehen.

1. Einleitung

Die Anerkennung und Beteiligung von Kindern als Expert:innen ihrer Lebenswelten ist ein zentrales Anliegen der Kindheitsforschung und kindheitspädagogischen Praxis (vgl. Nentwig-Gesemann/Thole 2023). Bei der Forschung mit Kindern werden sie als soziale Akteur:innen adressiert und bringen ihre Perspektiven und Expertisen ein. Im Bereich der Frühen Bildung werden die Perspektiven von Kindern im Sinne einer „fast vergessenen Dimension in der Debatte um Qualität in Kindertageseinrichtungen“ (Simon et al. 2023, 174) inzwischen vermehrt betrachtet. In schulischen Kontexten im Primarbereich sind diese meist nur sehr spezifisch untersucht worden (vgl. Bennewitz/de Boer/Thiersch 2022). Zudem beleuchten bisherige Forschungen das System Schule – respektive die Ganztagsschulen im Primarbereich – noch weniger stark als komplexes Zusammenspiel unterschiedlicher Komponenten und verschiedener Strukturen (vgl. Sauerwein/Graßhoff 2024; Deinet et al. 2018).

Dieses Desiderat greift das Projekt „Die Zukunft des Ganztags an Düsseldorfer Primarschulen“ (Projektlaufzeit: Mai 2022 bis Dezember 2023) auf und schließt an den zum Schuljahr 2026/2027 gültigen Rechtsanspruch auf ganztägige Betreuung über acht Stunden werktäglich für alle Kinder in Primarschulen an (§ 24 KJHG; GaFöG). Darüber hinaus adressiert das Projekt Leerstellen in Forschung und Wissenstransfer in Bezug auf die institutionelle Weiterentwicklung der Ganztagsschulbetreuung. Dabei wird ein Adressat:innenverständnis zugrunde gelegt, welches Kinder nicht nur als Teilnehmende von schulischer Institution, sondern als kompetente Akteur:innen von pädagogischer Praxis und aktive Mitgestalter:innen der Entwicklung von Qualitätsstandards (vgl. Sauerwein/Graßhoff 2024; Simon et al. 2023; Walther/Nentwig-Gesemann/Fried 2021) wahrnimmt.

Ausgehend von der Ganztagsschule als zentralem Ort des Aufwachsens betrachtet der vorliegende Beitrag schulisch-organisierte Räume und deren (Be-)Deutungen aus der Perspektive von Kindern. Dabei lassen sich auf unterschiedliche Weise sozialräumliche Bezüge herstellen, die eine „‚aneignungsorientierte‘ Gestaltung von Schule als Lebensort [Herv. i. O.]“ bestärken (Deinet et al. 2018, 167). In der Auseinandersetzung mit ihren Lebenswelten changieren die Sichtweisen der Kinder zwischen vororganisierten und selbstorganisierten Räumen, in denen sie sich im Kontext von Ganztagsschulen als Schüler:innen bewegen.

Nachfolgend werden zunächst das Projekt sowie das forschungsmethodische Design zur Erfassung der Kinderperspektiven skizziert. Es folgt eine theoretische und empirische Verortung. In Abschnitt 4 werden die dem Beitrag zugrundeliegenden Fragestellungen erläutert. Die Ergebnisdarstellung findet sich in Abschnitt 5 wieder. Im Anschluss finden die Sichtung und Zusammenführung der Ergebnisse in Form einer Meta-Interferenz statt. Der Beitrag schließt mit einem Ausblick.

2. „Die Zukunft des Ganztags an Düsseldorfer Primarschulen“ – die Projektvorstellung

Die in diesem Beitrag zentral gesetzte Studie zu Kinderperspektiven wurde im Rahmen des Forschungsprojektes „Die Zukunft des Ganztags an Düsseldorfer Primarschulen“ umgesetzt und von der Hochschule Düsseldorf unter der Projektleitung von Prof.in Dr.in Irene Dittrich und Prof. Dr. Stefan Brall in Kooperation mit der Stadt Düsseldorf realisiert. Ziel des Gesamtprojektes ist es, empirisches Wissen zu Sichtweisen von Akteur:innen auf schulische und sozialpädagogische Qualitätsmerkmale der pädagogischen Arbeit im Ganztag zu erfassen. Es wird davon ausgegangen, dass im Sinne einer „Heuristik für Qualität in Bildungssettings der Ganztagsschule“ (Sauerwein 2017, 269) schulische und sozialpädagogische Qualitätsmerkmale aus den verschiedenen Perspektiven als wichtig erachtet werden und diese eine Triebfeder für den quantitativen Ausbau des Ganztags wie auch für qualitative Entwicklungsvorhaben sein können. Aus der multiperspektivischen Erfassung der verschiedenen Expertisen von schulischen Akteur:innen, wie bspw. Schulleitungen, OGS-Koordinationen oder Lehrkräften (N = 396), Eltern (N = 230), Kindern (N = 796; N = 184), Trägern der Kinder- und Jugendhilfe (N = 16) sowie Expert:innen des Ganztags (N = 17) ließen sich vertiefende Wissensbestände für eine qualitätsorientierte Weiterentwicklung von Ganztagsangeboten ableiten.

3. Perspektiven von Kindern auf Arrangements der Ganztagsschule – zum forschungsmethodischen Design

Für die Erhebungen der Kinderperspektiven wurde ein Methodensetting im Sinne eines „convergent design“ bzw. „Parallel-Design“ (Kuckartz 2014, 71ff.) angewendet, welches von zwei Forscher:innenteams auf der Basis von einer getrennt durchgeführten quantitativen und einer qualitativen Studie entwickelt wurde, die anschließend analytisch integriert wurden. Die Parallelität des Erhebungsdesigns ermöglichte eine unabhängige Ausgestaltung nach den jeweiligen empirischen Paradigmen auf der Grundlage von miteinander verzahnten Erkenntnisinteressen sowie Forschungszielen. Nach Abschluss der Analysen fand eine Integration der Ergebnisse der beiden Teilstudien in Form einer „Meta-Interferenz“ (ebd., 73) statt. Im Folgenden werden das Forschungsdesign des qualitativen und quantitativen Studienteils erläutert.

3.1 Qualitativer Studienteil

Um ein umfassendes Bild der Lebenswelten von Kindern mit dem Fokus auf Ganztagsschule und Sozialraum zu erhalten, wurde ein Setting aus fünf Forschungsmethoden entwickelt, die unterschiedliche verbale und non-verbale Ausdrucksmöglichkeiten der Kinder berücksichtigen und dabei von einem explorativen, aktivierenden und partizipativen Charakter gekennzeichnet sind. Als Forschungsinstrumente wurden die Nadelmethode (Deinet et al. 2018, 195), die Subjektive Landkarte (vgl. Behnken/Zinnecker, 2010), die Subjektive Schulkarte (Deinet et al. 2018, 202), Fotobasierte Begehungen der Schulen (vgl. Bendix/Kraul 2011) sowie die Zukunftsvision (vgl. Bertelsmann Stiftung 2020) für eine konsistente Methodenkombination weiterentwickelt. Durch dieses Methodensetting wurden unterschiedliche Forschungsdaten, sprich Audioaufnahmen in Form von Transkripten, Fotografien und Zeichnungen erhoben.

Die Auswahl der Schulen erfolgte im Sinne eines Theoretical Samplings (vgl. Glaser/Strauss 1999) anhand vorab festgelegter Kriterien, um eine größtmögliche Maximierung des Samplings und damit einen größtmöglichen theoretischen Erkenntnisgewinn zu erreichen. Die Kriterien beziehen sich auf die Schüler:innenanzahl, die Form des Ganztagsangebotes (Ganztagsklassen, additives Model, Übermittagsbetreuung), die Träger der Kinder- und Jugendhilfe und den Sozialindex NRW (vgl. Schräpler/Jeworutzki 2021). Insgesamt haben im Zeitraum von November 2022 bis März 2023, 184 Kinder im Alter von sieben bis neun Jahren an 414 Erhebungen (? = 2,25) von sechs Schulen teilgenommen. Für eine kommunikative Validierung fand eine Transferveranstaltung mit den teilnehmenden Kindern statt, bei der die Ergebnisse der Teilstudie präsentiert und mit ihnen diskutiert wurden.

Die Auswertung erfolgte induktiv anhand einer kategorienbasierten-inhaltsanalytischen Vorgehensweise (vgl. Kuckartz 2018), sodass methodenspezifisch Kategorien abgeleitet wurden und Kategoriensysteme in Form von Haupt- und Subkategorien entstanden. Es ergaben sich für die Nadelmethode und Subjektive Landkarte sowie für die Fotobasierte Begehung und Subjektive Schulkarte jeweils ein Kategoriensystem mit Varianzen in den Subkategorien. Diese Kombination von zwei Methoden und einem Kategoriensystem wurde durch die Foki der einzelnen Methoden möglich, sodass es gelang, in der Auswertung Symmetrien und Asymmetrien herzustellen, um ein umfassendes Bild von Sichtweisen von Kindern auf beteiligte Sozialräume und außerschulische Aktivitäten (Nadelmethode und Subjektive Landkarte) sowie Ganztagsschule, Gebäude, Räume, Wege und Außengelände (Begehungen und Subjektive Schulkarte) zu erhalten. Zur Auswertung der Zukunftsvision wurde ein weiteres Kategoriensystem entwickelt, um die Inhalte und den Sinngehalt dieser Daten erfassen zu können, die insbesondere schulinterne Strukturen wie Tagesstrukturen, Bedürfnisse, Wünsche und Interessen der Kinder betrachtet. Diese Verzahnungen ermöglichten es, Themen umfassender zu beleuchten, Perspektiven miteinander zu verbinden und so zu einer Erweiterung der Ergebnisse beizutragen.

3.2 Quantitativer Studienteil

Mittels einer quantitativen schriftlichen Befragung in Form einer Paper-Pencil-Survey wurden Perspektiven von Kindern der dritten Klassen von Offenen Ganztagsschulen (OGS) im Zeitraum von März 2023 bis Mai 2023 erhoben. Die Erhebungen erfolgten durch (pädagogisch tätiges) Personal an den Schulen, wobei die Einheitlichkeit der Durchführung durch ein standardisiertes Manual sichergestellt wurde. Die Themenfelder der Befragung umfassen die Qualität im Ganztag, die Verpflegung und Mittagessen, die Hausaufgaben und Lernzeit sowie Räumlichkeiten und Spiel-Orte und -Materialien. Zudem wurden unter anderem das schulische Wohlbefinden sowie etablierte Konstrukte zur Autonomie (vgl. Klieme et al. 2017) und zum subjektiven Interesse (vgl. Nowak/Ennigkeit/Heim 2020) als operationalisierbare Qualitätsmerkmalen des Offenen Ganztags erhoben.

Das Konstrukt Autonomie in der schulischen Umgebung reflektiert das Maß an Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit, das Schüler:innen in ihrem Schulalltag erfahren und basiert auf der Skala „Autonomie Ganztagsangebot” von Klieme et al. (2017), welche drei Items umfasst und auf einer vierstufigen Likertskala (“1” = stimmt gar nicht bis “4” = stimmt genau) beantwortet werden konnte. Ein Beispielitem lautet: „In der OGS kann ich eigene Entscheidungen treffen“. In der aktuellen Befragung liegt der Mittelwert für das Konstrukt Autonomie bei M = 2.94 mit einer Standardabweichung von SD = 0.69. Der Wert der Cronbachs ? Auswertung von .69 weist auf eine akzeptable interne Konsistenz hin.

Das Interesse an Ganztagsangeboten und -aktivitäten wurde durch das Konstrukt Interesse, in Anlehnung an die Subskala „Interesse” der GAINS-AG-Skala von Nowak, Ennigkeit und Heim (2020), gebildet und für den Ganztagskontext umformuliert. Sie umfasst drei Items, welche auf einer vierstufigen Likertskala (“1” = stimmt gar nicht bis “4” = stimmt genau) beantwortet werden konnten. In der aktuellen Stichprobe wurde ein Mittelwert von M = 3.42 mit einer Standardabweichung von SD = 0.61 festgestellt, was auf ein hohes Interesse der Schüler:innen an der OGS hinweist. Der Wert der Cronbachs ? Auswertung von .71 in dieser Befragung deutet auf eine gute Zuverlässigkeit hin.

Die Auswahl der beteiligten Schulen und der Kinder erfolgte auf der Grundlage des Sozialindex NRW (vgl. Schräpler/Jeworutzki, 2021), mit welchem die spezifischen sozioökonomischen Gegebenheiten des Schulstandortes, in denen die Kinder lernen und leben, berücksichtigt und Herausforderungen des schulischen Sozialraums sichtbar gemacht werden sollen (Schräpler/Forell 2023, 62). An dieser Stelle sei angemerkt, dass von den neun Sozialindexstufen in der vorliegenden Stichprobe nur Schulen der Stufe 1-7 vorhanden sind, da die anderen Indexstufen für die Stichprobe nicht gewonnen werden konnten. Die Stichprobe der Studie setzt sich aus 796 Kindern von 28 Regel- und drei Förderschulen zusammen – davon gaben 47,4% der Kinder (n = 379) an, dass sie Jungen sind, während 50,7% (n = 406) sich als Mädchen identifizierten. Eine kleine Gruppe von 1,9% (n = 11) entschied sich dafür, keine Angabe zu dem Geschlecht zu machen, indem sie die Option „Ich mag mich nicht entscheiden" wählten. Der Großteil der Schüler:innen, nämlich 93,7% (n = 749), war zum Zeitpunkt der Befragung acht oder neun Jahre alt (M =8,63; SD = 0,63), wobei das Spektrum der Altersangaben von sieben bis zwölf Jahren reichte. Zum Sprachgebrauch zu Hause wurde angegeben, dass „manchmal bis ganz oft oder immer“ Deutsch gesprochen wird (M = 3,46; SD = 0,89) wohingegen „nur selten bis manchmal“ von den Schüler:innen angegeben wurde, eine andere Sprache als Deutsch zu sprechen (M = 2,41; SD = 1,12). Hinsichtlich des allgemeinen Wohlbefindens in der Schule berichteten die Schüler:innen ein Wohlbefinden im Bereich „gut bis eher gut“ (M = 3,46; SD = 0,69).

4. Zu den Fragestellungen

Zentrales Interesse dieses Beitrages besteht in der Erforschung der Beziehungen zwischen Kindern in Ganztagsschulen und ihren schulischen sowie sozialräumlichen Umgebungen. Zunächst wird konkreter danach gefragt, wie sich die Beziehungen zwischen Kindern und ihren schulischen sowie sozialräumlichen Umgebungen in Ganztagsschulen gestalten. In Anschluss daran wird erörtert, welche Implikationen die Erkenntnisse über Kinderperspektiven auf schulisch-organisierte Räume für die pädagogische Praxis und Schulentwicklung haben. Ziel ist es, herauszuarbeiten, welche (Be-)Deutungen Kinder diesen schulisch-organisierten Räumen als „Sozialraum im Sozialraum“ zuschreiben, wie sie diese erleben und welche Schlussfolgerungen sich für die pädagogische Praxis und Entwicklung von Ganztagsangeboten ergeben. Dieses Sich-in-Beziehung-setzen zu schulisch-organisierten Räumen ist essenziell für die Gestaltung pädagogischer Konzepte für das Aufwachsen von Kindern sowie einer partizipativen Weiterentwicklung von Schule.

5. Theoretische und empirische Verortungen

Ganztagsschule als Ort kann nach Giddens (1979, 207) als ein Schauplatz sozialen Handelns von Akteur:innen von Schule gesehen werden. Darin lassen sich schulisch-organisierte Räume lokalisieren, die von den Akteur:innen einer Schule kontinuierlich (re-)konstruiert werden. Relationale Raumvorstellungen betonen „die Prozesshaftigkeit von Raum“ (Forell 2023, 15) und betrachten diesen unter Berücksichtigung sozialer Phänomene „in der Wechselwirkung von eingeschriebener Struktur und akteur:innenbezogener Handlung“ (ebd.). Raum wird folglich von und in sozialen Prozessen konstruiert, wirkt jedoch auf diese zurück, sodass sich ein transformativer Charakter offenbart. Die Akteur:innen sind stets daran beteiligt, im Alltag schulisch-organisierte Räume herzustellen und diese in sowie mit ihren Handlungen zu transformieren. Kinder treffen in Institutionen auf bereits vororganisierte Strukturen, Wege und Räume und schaffen sich darin selbstorganisierte Mikroräume im Rahmen derer sie sich bewegen (sollen) und die sie sich auf ihre Art aneignen (vgl. Simon et al. 2021).

Die Relevanz der Erforschung von schulisch-organisierte Räumen – hier speziell unter Einbezug der Kinderperspektiven – ergibt sich nicht nur aus ihrer Funktion als Bildungs- und Lernort (vgl. Deinet 2018), sondern auch dadurch, dass Kinder (und Jugendliche) einen Großteil ihres Alltags und damit ihrer Zeit dort verbringen (vgl. Fischer et al. 2011). Schule wird von Kindern als ein Ort von Peerkultur und Freundschaften erlebt und wahrgenommen (vgl. Köhler 2022), demnach Schule als Sozialraum und somit Schauplatz des alltäglichen sozialen Handelns auftritt. Des Weiteren werden Erfahrungen der Aneignung über den familialen Alltag hinaus durch pädagogische Beziehungen und einer Erweiterung des Bildungsraums ermöglicht (Walther/Nentwig-Gesemann/Fried 2021; Deinet et al. 2018), womit Schule im Sozialraum, mit ihren Öffnungsoptionen in das schulnahe Umfeld (Forell 2023, 14), gefasst werden kann. Somit wird diesen empirischen Ergebnissen eine soziologische Sichtweise von Schule als Sozialraum im Sozialraum zugrunde gelegt.

In diesem Zusammenhang wird die institutionelle Entwicklung der ganztägigen Förderung von Kindern im Grundschulalter, von Halb- zu Ganztagsschulen und damit einhergehende Veränderungen im „Schüler*in-Sein“ (Graßhoff/Idel/Sauerwein 2022, 153) als bedeutsam erachtet. Diese spiegeln sich zum einen in pädagogischen Adressierungen von Schüler:innen und zum anderen in Lern- und Schulkulturen wider. Sie wirken sich entsprechend auch auf soziale Beziehungen zu Peers und Pädagog:innen im schulischen Umfeld aus (vgl. ebd.). Ganztagsschulen sind mit weitaus komplexeren Erwartungen verknüpft, die nicht mehr nur Bezug auf schulische Leistungen nehmen, sondern weitere Bildungsinhalte und Lernformen vermitteln, soziale Ungleichheiten angehen sowie den gestiegenen Betreuungsbedarf durch die Vereinbarkeit von Familie und Berufstätigkeit decken (sollen) (vgl. Strietholt et al. 2015).

6. Ergebnisdarstellung des qualitativen und quantitativen Studienteils

Im Folgenden werden die Ergebnisse zu Perspektiven von Kindern auf schulisch-organisierte Räume unter der Betrachtung der Kategorien Schule als Sozialraum, Schule und Sozialraum und Schule im Sozialraum dargestellt.

6.1 Schule als Sozialraum – Zwischen Pflichten, Spaß und sozialem Erleben

Anhand ausgewählter Datenbeispiele aus den qualitativen Methoden der Subjektiven Landkarte, der Subjektiven Schulkarte, der Fotobasierten Begehungen und der Zukunftsvision werden Perspektiven von Kindern auf Schule als Sozialraum dargestellt und erste Interpretationen angeregt. In den Erhebungen verknüpfen die Kinder vermehrt Schule mit Tätigkeiten des Lernens, der Teilnahme am Unterricht und beschreiben Rollenerwartungen sowie Pflichten, die sie in der Rolle als Schüler:innen erleben. „Das ist meine Schule. Ich muss lernen“ (31, L3.7), erklärt ein Kind. Für die Beschreibung der Schule wird das besitzanzeigende Personalpronomen „meine“ verwendet, sodass eine Zugehörigkeit zur Institution Schule deutlich wird. Mit der anschließenden Aussage „Ich muss lernen“ wird eine indirekte Begründung gegeben, weswegen die Schule besucht wird. Zudem wird durch das Hilfsverb „müssen“ eine Zwanghaftigkeit betont, die den Schulbesuch gewissermaßen legitimiert.

Neben der Tätigkeit des Lernens, sprechen die Kinder verschiedene Pflichten und Pflichtthemen an, die es in der Schule zu erfüllen gibt. „Mathe und Deutsch ist natürlich auch Pflicht“ (Z2.2, 46), hält ein Kind fest, nachdem es zuvor von den Fächern „Kunst“ und „Sachunterricht“ spricht und diese als wichtige Bestandteile eines schönen Schultages benennt. Die Unterrichtsfächer „Mathe und Deutsch“ nehmen eine besondere Rolle ein, indem sie als „Pflicht“ deklariert werden – hingegen scheinen die Fächer „Kunst“ und „Sachunterricht“ vielmehr aufgrund subjektiver Interessenbekundungen von Bedeutung zu sein. Zudem geht mit der Verwendung des Füllwortes „natürlich“ eine Erwartbarkeit einher, die die Aussage, dass „Mathe und Deutsch“ als Pflichten zu einem Schultag dazugehören, als selbstverständlich erscheinen lässt.

In einem begleitenden Dialog zu einer Subjektiven Landkarte erzählt ein Kind von Aufgaben, die an die Schüler:innen gerichtet werden und resümiert: „Die Aufgaben in der Schule machen Spaß“ (90, L6.14). Der Spaßfaktor erscheint aus der Sicht des Kindes bedeutsam, wenn es gilt Aufgaben zu erfüllen. Des Weiteren wünschen sich die Kinder explizit: „Dass man zum Beispiel einen spaßigen Unterricht haben kann, und nicht immer nur so, wo man auf den Stühlen stur hocken muss, und man muss schreiben“ (Z4.4, 10). Spaß wird in den Sichtweisen der Kinder als ein relevanter Messwert dargestellt, um vororganisierte Aufgaben und den Unterricht einzuschätzen. Gleichzeitig wird benannt, wie Unterricht nicht sein soll: die Beschreibung „stur hocken, und man muss schreiben“ deutet auf eine monotone Anforderung an Schüler:innen hin, die zudem eine Bewegungseinschränkung („stur hocken“) und eine Zwanghaftigkeit („muss“) mitbringt. Darüber hinaus wird „schreiben“ als zentrale Tätigkeit von Unterricht markiert.

Damit Schule und Lernen in geschützten Räumen stattfinden kann, braucht es aus Sicht der Kinder erwachsene Personen, die insbesondere einer Aufsichts- bzw. einer implizit verborgenen Schutzfunktion nachgehen. Ein Kind antwortet auf die Frage der Forschenden, ob es denn gut sei, dass es erwachsene Personen gibt: „Ja, weil wenn sich ein Kind weh tut oder so, dann kann die Aufsicht kommen. Da ist zum Beispiel gerade jemand, der aufpasst“ (B4.13, 86-87). Bei einer Begehung einer anderen Schule beschreibt ein Kind ebenfalls dessen Sichtweise auf die „Aufpasser“: „Und am liebsten gefallen mir hier unsere Aufpasser. Die passen sehr gut auf uns auf. Die helfen auch, sind halt gut streng. Also nicht zu streng, aber auch nicht zu einfach sag ich mal […] Und halt die passen auf, die (Name) die passt richtig gut auf. […] Halt meistens wünsche ich mir, dass ich mich mal bedanken kann.“ (B2.4, 310-315).

Mit einem wertschätzenden Blick reflektiert das Kind die Bedeutung der „Aufpasser“ und spricht insbesondere eine „Aufpasserin“ an, die „richtig gut aufpasst“. Anhand der beiden Aussagen wird deutlich, dass die Betreuenden in schulischen Räumen stets eine Anwesenheitspräsenz besitzen, die mit spezifischen Rollenerwartungen hinsichtlich einer Aufsichts- und Aufpassfunktion verknüpft wird. Zudem beschreiben die Kinder Lehrkräfte und ihre Wirkungen und Wesensarten als Lehrpersonen und stellen Hilfeleistungen heraus, die sie erhalten: „Und das ist unser Lehrer (Name). Der gibt uns immer Tipps, hilft und sagt uns noch ganz gut auf das gut gemacht haben. Aber er sagt auch zum Beispiel, wenn etwas nicht so gut gelaufen ist.“ (Z3.2, 25).

Darüber hinaus thematisieren die Kinder in ihren Zeichnungen und Aussagen Pausen als schulisch-organisierte Räume und setzen diese insbesondere in Bezug zu ihrer Peerkultur. „Mit zwei (Freund:innen) spiele ich besonders gerne. […] Ich weiß nicht wieso, aber sie sind einfach da.“ (B2.4, Pos. 36), erzählt ein Kind bei einer Begehung. Übergreifend wird die Pause als wichtigster Zeitraum benannt, um den Tätigkeiten des Spielens nachzukommen, Freund:innen zu treffen und Gespräche zu führen (vgl. Abbildung 1).

Kinderzeichnung

Abbildung 1: „Ich habe einen Schulklassentisch gemalt und da steh ich nun mit meinem Freund und wir quatschen." (Z1.6, Pos. 24). (Quelle: Autor:innen).

Sie spielen mit ihren Freund:innen: spielen Fußball, spielen Verstecken, spielen auf dem Klettergerüst, spielen Fangen oder spielen Spiele. Dazu nutzen sie vorhandene Spielgeräte oder Spielmaterialien und erweitern diese zu fantasievollen Spielideen. „Ich mag diese kleine Welt hier. Das sind viele kleine. Das ist ein Wald. Und wir haben da drüben noch einen großen und hier komme ich öfters auch mal mit meinen Freunden hin und wir besprechen hier immer Sachen.“ (B1.5, Pos. 54), berichtet ein Kind und zeigt dabei auf den in Abbildung 2 gezeigten Bereich des Schulhofes, der eine Ecke entlang des Zauns veranschaulicht, wo Sträucher und Bäume wachsen.

Foto von einem Wald

Abbildung 2: „Das ist ein Wald." (B1.5, Pos. 54) (Quelle: Autor:innen)

Die Kinder transformieren Räume des Schulhofes zu Höhlen, Häusern oder Feuerstellen und weisen ihnen im Spiel bestimmte Eigenschaften und Funktionen zu. Im Spiel bekommen die Kinder die Möglichkeit, soziale Räume und fantasievolle Arrangements selbstbestimmt zu schaffen, die ihren Interessen und Bedürfnissen entsprechen. Sie organisieren und schaffen Bildungsmöglichkeiten sowie Aneignungsräume, die sie mit sich und in ihrer Peergroup aushandeln.

6.2 Schule und Sozialraum – Zusammenhänge der Kategorien Autonomie und Interesse mit der Positionierung im Sozialindex NRW

Im Folgenden richtet sich der Fokus auf Zusammenhänge zwischen der erlebten Autonomie und dem Interesse am Ganztag als Konstrukte, welche sich auf das Erleben der Kinder innerhalb der Schule beziehen, sowie dem Sozialindex NRW, als Abbild einer strukturellen sozialräumlichen Komponente, die die Schulen in Beziehung zum Sozialraum setzt. Dieser Ansatz folgt dem Ziel, zu verstehen, inwieweit sozioökonomische Bedingungen – gemessen durch den Sozialindex NRW – Einfluss auf die Autonomieerfahrung und das Interesse der Kinder an Ganztagsangeboten haben. Daraus ergeben sich folgende Forschungsfragen, welche anhand der quantitativen Daten beantwortet werden sollen:

F1: Besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Sozialindexstufe und der erlebten Autonomie von Schüler:innen?

F2: Besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Sozialindexstufe und dem erlebten Interesse von Schüler:innen an Ganztagsangeboten?

Um zu überprüfen, ob es einen Zusammenhang zwischen der Sozialindexstufe (1-7) und der Autonomie von Schüler:innen gibt, wurde eine Rangkorrelation nach Spearman in SPSS berechnet. Es zeigt sich, dass die Sozialindexstufe signifikant negativ mit der Autonomie korreliert (rs = -.099, p = .006, n = 746). Dies deutet darauf hin, dass mit zunehmendem Sozialindex, der eine höhere sozioökonomische Herausforderung markiert, die wahrgenommene Autonomie der Schüler:innen leicht abnimmt. Allerdings ist die Korrelation schwach (rs < .10, Cohen, 1992), was bedeutet, dass der Sozialindex nur einen kleinen Teil der Varianz in der wahrgenommenen Autonomie erklärt.

Ebenfalls soll überprüft werden, ob es einen Zusammenhang zwischen der Sozialindexstufe (1-7) und dem subjektiv erlebten Interesse von Schüler:innen im Offenen Ganztag (und den Angeboten) gibt. Dafür wurde ebenfalls eine Rangkorrelation nach Spearman in SPSS berechnet. Hier zeigt sich keine signifikante Korrelation zwischen der Sozialindexstufe und dem Interesse von Schüler:innen (rs = .006, p = .868, n = 758). Demnach geht ein höherer Sozialindex nicht mit einem gesteigerten Interesse am Offenen Ganztag und den Angeboten in diesem einher.

Die Ergebnisse ergänzen die Aussagen der Kinder aus Abschnitt 6.1, indem sie beleuchten, wie sozioökonomische Bedingungen die Autonomieerfahrung und ihr Interesse an Ganztagsangeboten beeinflussen. Während ein signifikanter, wenn auch ein schwach negativer Zusammenhang zwischen höheren Sozialindexwerten und wahrgenommener Autonomie festgestellt wurde, zeigte sich kein signifikanter Zusammenhang zwischen der Platzierung im Sozialindex und dem Interesse an Ganztagsangeboten.

6.3 Schule im Sozialraum – Eine explorative Auswertungsstrategie

Die Nadelmethode und die Subjektive Landkarte ermöglichten einen besonderen Erkenntnisgewinn bezüglich der Verortung der Schule im Sozialraum. So wurde bei der Nadelmethode nach schönen und unschönen Orten sowie Orten nach der Schule gefragt. Orte, an denen die Kinder Freizeitaktivitäten und -interessen im Kontext von Sport und Bewegung, Musik, Sprache und Religion nachgehen, wurden mit 94 Markierungen am häufigsten genannt – davon 49 positive, 18 negative und 27 Markierungen als Orte nach der Schule. Mit 66 Markierungen, davon 41 positive, 10 negative und 15 Markierungen als Orte nach der Schule, sind Naturräume, wie Wälder, Parks und Wiesen zu vermerken. Darüber ist das eigene Zuhause ebenfalls mit 66 Markierungen, davon 36 positive, 2 negative und 28 Markierungen als Orte nach der Schule; Spielplätze mit 41 Markierungen, davon 26 positive, 7 negative und 8 Markierungen als Orte nach der Schule, als relevante Orte des Sozialraums benannt. Die eigene Schule erhielt 37 Markierungen, davon 26 positive und 11 negative Markierungen.

Im Zuge der Auswertungen der Subjektiven Landkarten, bei der die Kinder ihre Schule und weitere für sie relevante Orte ihrer Lebenswelten zeichneten, wurde je nach Schule (Fall I-VI) eine sehr unterschiedliche Anzahl an Orten auffällig, sodass die qualitativ erhobenen Daten einer weiteren quantitativen Auswertung unterzogen wurden, was zu folgendem Erkenntnisgewinn führte (s. Tabelle 1).

SchuleAnzahl der Subj. LandkartenGesamtanzahl der gezeichneten OrteM (SD) der gezeichneten Orte je Subj. Landkarte
Fall I 9 30 3.3 (2.3)
Fall II 22 117 5.1 (2.1)
Fall III 17 72 4.2 (1.4)
Fall IV 15 78 4.9 (1.9)
Fall V 17 57 3.6 (1)
Fall VI 14 61 4.4 (1.6)
Gesamt 94 415 4.4 (1.8)

Tabelle 1: Übersicht der Anzahl der Subjektiven Landkarten, der Gesamtanzahl der gezeichneten Orte aller Subjektiven Landkarten und Mittelwerte der gezeichneten Orte bei der Methode der Subjektiven Landkarte (Eigene Darstellung).

Es zeigt sich, dass die Kinder, je nach Schule bzw. Fall, eine unterschiedliche durchschnittliche Anzahl an Orten aus ihren Lebenswelten definieren. So werden im Fall I, Fall VI und Fall V deutlich weniger relevante Orte neben der Schule des Fall II, Fall III und Fall IV genannt. Der Mittelwert des gesamten Samples und aller Subjektiven Landkarten beträgt 4,4 (SD = 1.6) Orte – im Durchschnitt zählen also die Kinder in der Stadt Düsseldorf 4,4 öffentliche Orte zu wichtigen Orten neben der Schule in ihren privaten Lebenswelten. Außerdem anzumerken ist, dass die Kinder der Schule mit einem gebundenen Ganztag (Fall II) den höchsten Durchschnittswert von 5,1 (SD = 2.1) Orten zuweisen und die Kinder der Schule Fall I mit einem Mittelwert von 3.3 (SD = 2.3) Orten vergleichsweise weniger Orte benennen.

7. Diskussion und zusammenführende Interferenz der Ergebnisse

In ihren Perspektiven konstruieren die Kinder bezüglich der Kategorie der Ausgestaltung von Schule als Sozialraum ein Bild von Schule, welches diese einerseits mit Bildung, Aufgaben und Pflichten verknüpft und andererseits soziales Miteinander und Peerkultur als relevant setzt (vgl. Köhler 2022). Dazu werden insbesondere Pausen als frei verfügbare Zeiten genutzt, um Freund:innen zu treffen und selbstorganisierte Spielarrangements hervorzubringen. Lehrkräfte und Betreuende stellen die Kinder vor allem als ausführende Akteur:innen von Schule dar (vgl. Abschnitt 6.1). Sie treten in bestimmten – ihnen institutionell zugewiesenen – Rollen auf, übernehmen Aufsichtspflichten und unterstützen bei Lernprozessen. Gleichzeitig werden sie von den Kindern als notwendig für die Umsetzung von Schule und schulisch-organisierten Räumen angesehen.

Schulen stehen dabei vor der Herausforderung, Räume zu schaffen, die nicht nur Lernen im traditionellen Sinne ermöglicht, sondern auch vielfältige Möglichkeiten für die Gestaltung von sozialen Beziehungen, individuelle Entfaltung und aktive Teilhabe am Gemeinschaftsleben bieten (vgl. Walther/Nentwig-Gesemann/Fried 2021, 153ff.). Dabei sind auch weniger pädagogisch aufbereitete Räume wie bspw. Pausen oder Freiarbeit von Bedeutung. Forschungsergebnisse, etwa von Weidel (2015), zeigen dass Kinder in besonderer Weise sozialraumorientiert sind und dazu neigen, selbstständig Orte in ihrer Umgebung aufzusuchen, die ihnen interessant und erlebenswert erscheinen. Diese Orte, die oft keine speziell für Kinder konzipierten Bereiche darstellen, werden zur Basis von Lernerfahrungen (vgl. ebd., 60f.). Diese Erkenntnisse verdeutlichen die Notwendigkeit einer ressourcenorientieren Perspektive auf den schulischen Sozialraum (vgl. Forell 2023, 21) und entsprechende Bildungsangebote, die auf die individuellen Bedürfnisse und Interessen in sozialräumlichen Kontexten der Schulen eingehen.

Die Ergebnisse der Korrelationsanalyse, mit welcher die Forschungsfrage F1 überprüft wurde, deuten darauf hin, dass Schüler:innen an Schulen mit höheren sozialen Herausforderungen möglicherweise weniger Autonomie erleben (vgl. Abschnitt 6.2), was durch verschiedene Faktoren bedingt sein könnte, wie beispielsweise strukturiertere oder stärker geleitete Förderangebote der Ganztagsschule im Sinne ganztagsschulischer Kompensationsleistungen (vgl. Strietholt et al. 2015, 741). Es könnte auch ein Hinweis darauf sein, dass es bei der Gestaltung von Ganztagsangeboten wichtig ist, unter schwierigen sozioökonomischen Bedingungen die Autonomie der Schüler:innen zu berücksichtigen, da diese unter anderem für die persönliche Entwicklung und das Wohlbefinden von Bedeutung ist (vgl. Fischer et al. 2011, 234). Allerdings zeigt die Korrelation keine Kausalität an und andere, nicht untersuchte Faktoren könnten ebenfalls eine Rolle spielen. Weitere Forschung wäre notwendig, um die Ursachen und Wechselwirkungen zwischen sozioökonomischen Bedingungen und Schülerautonomie genauer zu bestimmen.

Ausgehend von den Ergebnissen der Korrelationsanalyse zur Forschungsfrage F2 lässt sich schlussfolgern, dass die Positionierung im Sozialindex NRW keinen signifikanten Einfluss auf das Maß des Interesses der Kinder hat (vgl. Abschnitt 6.2). Dies impliziert, dass Kinder, unabhängig von den sozioökonomischen Gegebenheiten, die ihr schulnahes Umfeld kennzeichnen, einen ähnlichen Grad an Interesse oder Freude an den Ganztagsangeboten haben. Die Erkenntnis, dass die Positionierung im Sozialindex nicht signifikant mit dem Interesse der Kinder korreliert, könnte auch für die Bildungspolitik und Schulentwicklung bedeutsam sein. Sie liefert Anhaltspunkte für die These, dass bei der Planung und Implementierung von Ganztagsangeboten in erster Linie inhaltliche und settingbezogene Aspekte zu berücksichtigen sind, um das Interesse und die Teilnahme der Schüler:innen fördern zu können.

Die von den Kindern als relevant markierten Orte im öffentlichen Sozialraum verdeutlichen, dass der Sozialraum insbesondere nach der Schule an Bedeutung gewinnt (vgl. Abschnitt 6.3). Mit der Familie oder Freund:innen werden Orte aufgesucht, die meist mit spezifischen Interessen oder Tätigkeiten verknüpft werden. Insbesondere die hohen Anzahlen an benannten Orten hinsichtlich Naturräumen, Spielplätzen und Freizeitangeboten im Kontext von Sport und Bewegung, Musik, Sprache und Religion zeigt, dass Ganztagsschulen diese Interessen von Kindern noch umfassender aufgreifen sollten (vgl. Walther/Nentwig-Gesemann/Fried 2021, 141; Deinet et al. 2018, 137; Weidel 2015).

Die Ergebnisse der Untersuchung zur Anzahl der Orte, die Kinder in Bezug auf ihre Lebenswelt benennen, offenbaren Unterschiede zwischen Schulen, die auf eine heterogene Nutzung und Wahrnehmung des Sozialraumes hindeuten (vgl. Abschnitt 6.3). Diese Unterschiede könnten zum einen durch familiäre Strukturen und zum anderen durch die Einbindung der Schule in den Sozialraum oder die unterschiedliche Gestaltung der Ganztagsangebote beeinflusst sein. Dies würde die Bedeutung der Schule als einen dynamischen Aneignungs- und Sozialraum unterstreichen (vgl. Forell 2023). Es ist festzuhalten, dass der Zugang zu Orten des Sozialraumes maßgeblich zur Erweiterung der Lebenswelten der Kinder beiträgt.

Insgesamt verdeutlichen die Ergebnisse, wie Kinder sich selbst als kompetente Akteur:innen ihrer Schule und ihrer Lebenswelten positionieren. Sie präsentieren sich als Expert:innen, welche über tiefgreifendes Wissen bezüglich der Strukturen und des sozialen Gefüges ihrer Schulumgebung verfügen. Mit ihren Expertisen geben sie relevante Einblicke in die Konstruktion von Ganztagsschule und den umgebenden Sozialräumen. Diese Erkenntnisse beantworten auch indirekt die erste Fragestellung, indem sie die dynamische und multifunktionale Rolle der Schule im Leben der Kinder aufzeigen. Schule ist für sie nicht nur ein Ort des formellen Lernens, sondern ein zentraler sozialer Raum, in dem sie mit Peers interagieren und Beziehungen zu Pädagog:innen eingehen (vgl. Köhler 2022; Bos et al. 2021; Rakoczy/Buff/Lipowsky 2013).

Die durch die Aussagen der Kinder sowie die sichtbaren Differenzen hinsichtlich der Anzahl benannter relevanter Orte feststellbaren Unterschiede in der Nutzung und (Be-)Deutung des Schulraumes bieten wichtige Einsichten für die Beantwortung der zweiten Fragestellung und Implikationen für die Praxis. Sie unterstreichen die Notwendigkeit, Schulen als anpassungsfähige und reaktive Umgebungen zu gestalten, die auf die individuellen Bedürfnisse, Präferenzen und die sozioökonomischen Kontexte der Kinder eingehen.

Darüber hinaus appellieren die Befunde an Bildungspolitik und Schulentwicklung, Ganztagsangebote so zu entwerfen, dass diese sowohl die Autonomie der Schüler:innen fördern als auch deren Interesse unabhängig von deren sozioökonomischem Hintergrund wecken. Dies adressiert ebenfalls die pädagogische Praxis, indem ersichtlich wird, wie essenziell es ist, Perspektiven von Kindern in den Fokus des pädagogischen Schul(all)tages und von Prozessen der Schulentwicklung zu rücken.

8. Ausblick

In Anbetracht der dargestellten Ergebnisse und Erkenntnisse aus dem Forschungsprojekt eröffnen sich vielversprechende Perspektiven für die zukünftige Gestaltung von Ganztagsangeboten, die Rolle der Schulen im sozialräumlichen Kontext, und die Bedeutung, dass Kinder selbst, ihre Perspektiven, Interessen und Bedürfnisse erfragt, anerkannt und in Entwicklungsprozesse einbezogen werden. Es bedarf innovativer Ansätze, schulische und außerschulische Bildungsräume als Teil eines umfassenden Sozialraums verstehen, in dem Kinder nicht nur lernen, sondern auch leben, spielen und sich entfalten können.

Die Ergebnisse und Perspektiven dieses Beitrags unterstreichen die Bedeutung einer holistischen Betrachtung von Schule und Ganztagsbetreuung, die über traditionelle Bildungskonzepte hinausgeht und den Fokus auf die Entwicklung von Lebenskompetenzen, sozialen Beziehungen und einem positiven Wohlbefinden von Schüler:innen legt. Dies erfordert eine enge Zusammenarbeit aller beteiligten Akteur:innen in und um die Schulen, um Räume zu schaffen, die Kindern gerecht werden und ihnen erlauben, ihre Potenziale vollständig zu entfalten.

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Zitiervorschlag

Gormanns, Yvonne und Laurin Bremerich (2024): (Be-)Deutungen von schulisch-organisierten Räumen aus der Perspektive von Kindern. In: sozialraum.de (15) Ausgabe 1/2024. URL: https://www.sozialraum.de/be-deutungen-von-schulisch-organisierten-raeumen-aus-der-perspektive-von-kindern.php, Datum des Zugriffs: 02.07.2024