Konzept und Dokumentation einer Sozialraumanalyse zur Kinder- und Jugendarbeit im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald
Martin Geserich, Irene Fink
1. Jugendarbeit im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald
Der Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald ist ein großer Flächenlandkreis mit 50 Städten und Gemeinden im südlichen Baden-Württemberg. Der Landkreis lässt sich grob in die Regionen Kaiserstuhl, Markgräflerland, Dreisamtal/Hochschwarzwald gliedern, die wiederum von der Struktur her sehr unterschiedlich sind. Der Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald umgibt als sogenannter Kragenlandkreis die Stadt Freiburg, die einen eigenen Stadtkreis darstellt. Der Landkreis hat über 250.000 EinwohnerInnen, davon 40.191 junge Menschen von 6 bis unter 21 Jahren (Stand 31.12.2013). Der Raum ist überwiegend ländlich bis kleinstädtisch geprägt. Die größte Stadt hat über 18.000 EinwohnerInnen, die kleinste Gemeinde 1.100.
Im Vergleich der Personalressourcen der Hauptamtlichen in der Jugendarbeit der Stadt- und Landkreise im Land Baden-Württemberg befindet sich der Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald im unteren Drittel (mit 0,54 Vollkraftstellen in der Jugendarbeit je 1000 der 6 bis 21jährigen, vgl. KVJS, Landesjugendamt 2014). Es gibt 22 Einrichtungen der offenen Jugendarbeit mit haupt- oder nebenamtlichen Personal. In der offenen, kommunalen und mobilen Jugendarbeit arbeiten insgesamt 34 hauptamtliche Fachkräfte mit 24 Vollzeitstellen (Stand 2014). In den Kommunen bzw. kommunalen Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtungen arbeiten max. zwei Fachkräfte im Arbeitsfeld. Oft sind es aber nur eine einzelne Personen, die vielfach in Teilzeit angestellt sind. Hin und wieder gibt es Mischaufträge von offener Kinder- und Jugendarbeit mit anderen Arbeitsfeldern der Jugendhilfe, wie Schulsozialarbeit oder mobiler Jugendarbeit.
Neben hauptamtlich organisierter Kinder- und Jugendarbeit gibt es eine Reihe von selbstverwalteten Jugendräumen vorwiegend in kleineren ländlichen Gemeinden oder Ortsteilen.
Die Kreisjugendarbeit ist im Kreisjugendamt angesiedelt und verfügt über 1,25 v.H. einer Vollzeitstelle verteilt auf zwei Personen für die Fachberatung Jugendarbeit und den erzieherischen Kinder- und Jugendschutz.
2. Motivation für eine Sozialraumanalyse
Kinder- und Jugendarbeit vor Ort muss sich kontinuierlich und bedarfsgerecht weiterentwickeln. Sie ist in der Praxis mit einer Vielzahl von Arbeitsaufträgen konfrontiert, die teilweise über das klassische Arbeitsfeld hinausgehen und weit in andere Arbeitsfelder der Jugendhilfe hineinreichen. Die Aufträge sind oft nicht klar ausgehandelt und beschrieben. Kinder- und Jugendarbeit ist immer wieder mit Veränderungen in der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen und anderen gesellschaftlichen Veränderungen konfrontiert und muss entsprechend auf diese reagieren. Grundlage von Kinder- und Jugendarbeit sollte dabei die Situation von Kindern und Jugendliche vor Ort sein. Es gilt zunächst im Kontakt, die Bedürfnisse und Wünsche junger Menschen aber auch die Herausforderungen und Probleme mit denen sie konfrontiert sind, zu ermitteln. Sozialräumliche Konzeptentwicklung erscheint hilfreich in der Auseinandersetzung mit den beschriebenen Herausforderungen.
Die jährlich stattfindende zweitägige Klausurtagung der hauptamtlichen Fachkräfte aus der Kinder- und Jugendarbeit im Landkreis beschäftigte sich im Jahr 2012 mit Sozialräumlicher Konzeptentwicklung. Dies fand mit der Unterstützung von Maria Nesselrath von der Akademie der Jugendarbeit Baden-Württemberg statt. Ein Ergebnis der Tagung war der Wunsch von Fachkräften aus der Kinder- und Jugendarbeit, eine Sozialräumliche Konzeptentwicklung in ihrer Kommune durchzuführen. Dabei erschienen die personellen Ressourcen und das methodische Wissen nicht ausreichend, um selbstständig ein solches Vorhaben neben dem Arbeitsalltag zu bewältigen. In der Folge entstand die Idee, sich gemeinsam in Projektform unterstützt und organisiert vom Kreisjugendamt auf den Weg zu machen.
3. Konzeptionelle Vorüberlegungen
3.1 Sozialraumanalyse
In einer Sozialraumanalyse (vgl. etwa Deinet 2009; 2012) werden Kinder und Jugendliche mit ihrem subjektiven Blick auf ihre Lebenswelt als ExpertInnen ihres Aufwachsens in den Mittelpunkt genommen. Ziel ist es Chancen, Herausforderungen und Probleme von jungen Menschen beim Aufwachsen in einem speziellen Raum, bspw. in einer Gemeinde, zu ermitteln. Mit Methoden, wie Gemeindebegehungen, Nadelmethode, subjektiven Landkarten oder der Befragung von Schlüsselpersonen (siehe Methodenkoffer von sozialraum.de) gewinnt man sozialraumorientierte Einsichten in die Perspektiven junger Menschen und erfährt, welche Bedeutungen diese den Räumen in der Kommune zuschreiben. Die sozialräumliche Sichtweise ist für Gemeinden von besonderer Bedeutung, da sie sich – wie die Gemeinde selbst – in ihrer Ausprägung grundsätzlich räumlich definiert. So ist es möglich, Wissen über kindliche und jugendliche Lebenswelten und -wirklichkeiten an wichtigen Orten – den Orten ihres Aufwachsens – zu generieren.
3.2. Aneignung
Wenn sich die Sozialraumanalyse in der kommunalen Jugendarbeit dem Thema Raumaneignung (vgl. etwa Deinet 2009; 2012; 2014) widmet, dann ermittelt sie, wie sich Kinder und Jugendliche die Räume aneignen, in denen sie heranwachsen. Diese Form der Aneignung ist ein sozialräumlicher Bildungsprozess, den das Kind, der Jugendliche durchläuft. Sie ist eine eigentätige Auseinandersetzung mit der Umwelt, eine Nutzung von Räumen, die auch kreative Gestaltung mit einschließt. Sie beinhaltet dabei auch die Veränderung vorgegebener Situationen und Arrangements. Jugendliche geben Räumen neue Bedeutungen oder verändern diese. Diese dienen dabei auch der (Selbst-)Inszenierung, der Verortung im öffentlichen Raum (eventuell in Nischen, aber auch deren Nutzen als Bühne – dies kann der Stadtpark sein oder der Treffpunkt beim Sportplatz) und in Institutionen (bspw. die Bahnhofshalle oder der Schule).
Das Lernen, sich in diesen Räumen zu bewegen und diesen Räumen auch neue Bedeutungen zuzuschreiben, ermöglicht es den Heranwachsenden, ihren Handlungsraum zu erweitern, ist sogar ein Gradmesser des Heranwachsens, da mit zunehmendem Alter weitere Räume erschlossen werden. In neuen Räumen gibt es neue Möglichkeiten, durch die Kinder und Jugendliche motorische oder gegenständliche, kreative oder mediale Kompetenzen erwerben und erweitern können. Diese Aneignung von Räumen verläuft nicht immer konflikt- und gewaltfrei, da Kinder und besonders Jugendliche Räume auch umgestalten, ihnen einen neuen „Zweck“ zuweisen und hier bspw. auf den Widerstand von Teilen der – meist erwachsenen – Bevölkerung stoßen, wenn die sich z. B. von den abendlichen Treffpunkten und der dazu gehörenden Lärmentwicklung junger Menschen gestört fühlen. Dass sich öffentliche Räume durch die Nutzung von Kindern und Jugendlichen ändern, ist aber ein grundlegendes Element der Raumaneignung und wünschenswert. So entstehen Bildungsprozesse auf unterschiedlichen Ebenen: von motorischen Fähigkeiten bis zur politischen Bildung. Der öffentliche Raum als Ort informeller Bildung ermöglicht im besten Fall, dass sich bei Kindern und Jugendlichen Anerkennung, Selbstwirksamkeit und Selbstwert entwickeln.
3.3 Sozialräume als subjektive Lebenswelten
Um die jugendlichen Lebenswelten zu verstehen, bedient sich die Sozialraumforschung verschiedener Modelle, um Räume zu differenzieren und zu beschreiben (vgl. das Inselmodell nach Helga Zeiher oder das Modell der Sozialökologischen Zonen nach Dieter Baacke; beide etwa beschrieben in Spatscheck/Wolf-Ostermann 2009). Aus der konkreten Gemeindearbeit ist bekannt, dass die Sozialräume Jugendlicher nicht an den Gemeindegrenzen enden. Obwohl dies klar ist, ergeben sich für die praktische wie die politische Arbeit in den Kommunen immer wieder Schwierigkeiten, dafür praktikable Ansätze zu finden, die dem gerecht werden. Hier wird eine Herausforderung für die Zukunft der kommunalen Arbeit insgesamt und der Jugendarbeit im Besonderen liegen.
3.4 Sozialräume sind Bildungsräume
Sozialräume in ihren Aneignungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche sind Bestandteil kommunaler Bildungslandschaften (Deinet 2012). Hier sind die Kommunen gefordert, Settings für diese informelle und im engeren Sinn nicht planbare Bildung zu schaffen. Diese benötigt neben der bewussten Gestaltung der gewohnten Bildungsinfrastruktur auch Lebenswelten, die für das Kind oder den Jugendlichen subjektiv anregend und bildungsermöglichend gestaltet werden. Das setzt ein profundes Wissen über Kinder und Jugendliche in der Gemeinde voraus. Mit dem Grundwissen aus einer Sozialraumanalyse können entsprechende Angebote und erweiterte Maßnahmen für Kinder und Jugendliche in den Kommunen entwickelt werden.
4. Projektverlauf
4.1 Vorbereitung
Im März 2013 wurden alle Gemeinden mit hauptamtlichen Fachkräften in der Kinder- und Jugendarbeit im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald in einem Brief über das geplante Projekt informiert und ihnen die Teilnahme angeboten. Voraussetzung für eine Beteiligung am Projekt war ein politischer Auftrag durch eine Entscheidung der Bürgermeisterin/des Bürgermeisters und/oder des Gemeinderats sowie die Bereitschaft einen finanziellen Beitrag von 300,- Euro zu leisten.
Im Juni 2013 wurden die Bürgermeister und Fachkräfte aus interessierten Gemeinden zu einer Auftaktveranstaltung im Landratsamt eingeladen. Hier wurde nochmals umfassend über das Vorhaben informiert und erste Absprachen zur weiteren Arbeit getroffen. Sieben Städte und Gemeinden nahmen am Projekt teil.
4.2 Zielstellung
Die hauptamtlichen Fachkräfte erstellen im Auftrag der Gemeinde ein Konzept für ihre offene, mobile oder kommunale Jugendarbeit auf der Basis einer Sozialraumanalyse. Diese Konzeption stellt einen konkreten, auf die jeweilige Gemeinde zugeschnittenen, Arbeitsauftrag dar. Diese wird im Gemeinderat vorgestellt und beschlossen.
4.3 Verlauf/Rahmenbedingungen
Das Projekt dauerte zwei Jahre von Juni 2013 bis Juni 2015. In dieser Zeit führten die Fachkräfte vor Ort in den beteiligten Städten und Gemeinden eine Sozialräumliche Konzeptentwicklung durch. Zunächst wurde ein Projektplan erstellt. In diesem wurden Ausgangslage, Gemeinde und Einrichtung beschrieben sowie Ziele, Altersgruppe und Methoden für eine Bedarfserhebung festgelegt. Anschließend wurden unterschiedliche Erhebungsmethoden angewandt und ausgewertet. Auf der Basis der gewonnen Erkenntnisse wurde eine Konzeption für die Jugendarbeit erstellt. Die entstandenen Konzeptionen wurden jeweils in den Gemeinderat eingebracht.
Die Fachkräfte wurden bei der sozialräumlichen Konzeptentwicklung intensiv beraten und unterstützt. Dies wurde durch die Projektentwicklung und kollegiale Beratung in einer Arbeitsgruppe bestehend aus beteiligten Jugendreferenten, dem Kreisjugendreferenten und Irene Fink als externer Beraterin geleistet. Es fanden insgesamt acht halbtägige und ein ganztägiges Treffen der Projektgruppe statt. Zum Projektende gab es eine Präsentation der Ergebnisse für die beteiligten Kommunen sowie eine Evaluationsveranstaltung als Abschluss.
5. Ausgewählte Ergebnisse mit Methoden und Konzepten
Das Projekt wurde von den Städten und Gemeinden Heitersheim, Ihringen, Müllheim, Titisee-Neustadt und Umkirch mit einer Konzeption abgeschlossen. Im Folgenden werden exemplarisch einige Ziele, Methoden und Ergebnisse ausgeführt.
5.1 Stadt Heitersheim
In Heitersheim wurden in der Sozialraumanalyse verschiedene Perspektiven eingenommen: Die Kinder und Jugendlichen wirkten an der Gestaltung des neu zu bauenden Jugendzentrums bei einer Planungswerkstatt mit dem Architekten mit, bewerteten das aktuelle Juze und zogen daraus Konsequenzen, arbeiteten an Einrichtungsskizzen mit. In Interviews und mit der Nadelmethode wurden die Lebensumstände von jungen Menschen in der Gemeinde hinsichtlich Mitbestimmungsmöglichkeiten und der Nutzung des öffentlichen Raums beleuchtet. Dabei lag ein besonderes Augenmerk auf der wenig in der kommunalen Jugendarbeit präsenten Gruppe der Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren. Männliche Jugendliche hatten die Gelegenheit zu einem gemeinsamen Stadtrundgang (zur Methode vgl. Methodenkoffer von sozialraum.de) mit dem Gemeinderat wahrgenommen.
Im Vorfeld war mit den Jungs entwickelt worden, welche Orte im öffentlichen Raum für sie Bedeutung haben und auf dieser Basis wurde der Rundgang durchgeführt. Ziel war es, StadträtInnen und Jugendliche auf Augenhöhe zusammen zu bringen, die Treffpunkte der Jugendlichen sowie die Aneignungsformen aufzuzeigen und in einen Austausch einzutreten. Sieben StadträtInnen machten sich mit 20 Jugendlichen begleitet von der kommunalen Jugendreferentin und dem Kreisjugendreferenten auf den Weg. Stationen waren unter anderem ein Skateplatz, der Schlosspark, ein örtlicher Supermarkt und eine Unterführung. Ein Erfolg des Stadtrundgangs war, dass Jugendliche mit Stadträten und Stadträtinnen in Kontakt gekommen sind. Die StadträtInnen erlebten ausführlich, welche Plätze den Jugendlichen besonders wichtig sind und welche Nutzungsbedürfnisse sie haben. Im Anschlussfeedback gaben einige Jugendliche zu Wort, dass sie es gut fanden, dass die PolitikerInnen sich für sie Zeit genommen haben und der Vorschlag eines Stadtrats, diese Begehung in regelmäßigen Abständen zu wiederholen, spricht ebenfalls dafür, dass diese Methode von beiden Seiten positiv bewertet wurde.
Mehrere Punkte müssten bei der Wiederholung der Methode im Vorfeld verbessert werden, um Enttäuschungen bei den Jugendlichen zu vermeiden:
- Es sollte zuvor mit den Entscheidungsträgern (Stadträte und Verwaltung) besprochen werden, was mit den Verbesserungswünschen der Jugendlichen passiert.
- Wie bekommen die Jugendlichen eine Antwort auf ihre Fragen/Änderungswünsche? Hierfür sollte unbedingt eine Kommunikationsstruktur festgelegt werden, bspw. über ein Protokoll an die Stadtverwaltung mit Bitte um Stellungnahme innerhalb von vier Wochen. Bei einem Nachtermin könnten die möglichen/nicht möglichen Veränderungen dann thematisiert werden.
Ergänzendes Material:
Konzeption Städtische Jugendarbeit Heitersheim
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5.2 Gemeinde Ihringen
Eine umfassende sozialräumliche Konzeptentwicklung, hat es in dieser Form in Ihringen noch nicht gegeben. Erstmals wurde durch unterschiedliche Methoden ermittelt, wie es den Jugendlichen vor Ort geht, welche Anliegen und Interessen sie haben (zu den folgend genannten Methoden vgl. Methodenkoffer von sozialraum.de). Dafür wurden zum einen wichtige Schlüsselpersonen, wie beispielsweise der Gemeinderat oder das Jugendamt befragt, zum anderen kamen aber natürlich auch zahlreiche Kinder und Jugendliche selber zu Wort. Aus dem Jugendzentrum wurden 20 Kinder und Jugendliche beteiligt, weitere 30 Kinder und Jugendliche aus Ihringen und Wasenweiler wurden nach dem Zufallsprinzip auf der Straße beim Ihringer Weinfest interviewt und zusätzlich kamen zwölf Kinder und Jugendliche der DLRG Ihringen bei einem Dorfrundgang zu Wort. Außerdem konnten Jugendliche aus dem Jugendzentrum ihre Lieblingsorte in ihrer Heimat mit Hilfe von subjektiven Landkarten herausarbeiten. Die Erkenntnisse und Ergebnisse wurden ausgewertet, verdichtet und werden nun in der alltäglichen Arbeit umgesetzt. Ein Ziel der Konzeptentwicklung war es, den Bedarf nach geschlechtersensiblen Angeboten im Jugendzentrum Ihringen zu klären. Der Dorfrundgang bot hier beispielsweise Einsichten in die Wünsche und Lebenswirklichkeiten der Mädchen. „Wir brauchen auch einen eigenen Ort, wo wir uns treffen können“, fordert eine 11-Jährige. Das Jugendzentrum, das hierfür geeignet wäre, wird als Ort wahrgenommen, an dem sich hauptsächlich ältere Jugendliche aufhalten. Bei anderen beliebten Treffpunkten resümiert eine 12-Jährige: „Auf dem Schulhof und auf dem Bolzplatz werden wir von Jungs geärgert.“
Aus diesen und weiteren Resultaten hat sich für die zukünftige Arbeit unter anderen folgendes Ziel ergeben: „Mädchen und Jungen finden in der Jugendarbeit gleichermaßen ansprechende Angebote.“ Die kommunale Jugendarbeit berücksichtigt die unterschiedlichen Lebenslagen, Bedürfnisse und Anliegen von Mädchen und Jungen im Jugendzentrum. Für Mädchen bietet sie besondere Zeiten, Aneignungsmöglichkeiten und Angebote an, in dem Mädchen unter sich sein können und eine weibliche Ansprechperson haben. Gleichzeitig finden Jungen ansprechende Angebote, bei welchen sie sich spielerisch ausprobieren, messen und austesten können. Für die Praxis beschloss der Gemeinderat nach der Präsentation der Ergebnisse als Konsequenz aus der Konzeptentwicklung, eine weibliche Arbeitskraft mit zehn Wochenstunden anzustellen, um die Jugendarbeit zu unterstützen. Dadurch konnte ein neuer Mädchenmontag eingeführt werden, der sich seither großer Beliebtheit bei den 9 bis 14-Jährigen Mädchen aus Ihringen erfreut.
Ergänzendes Material:
Sozialräumliche Konzeptentwicklung Ihringen
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5.3 Stadt Müllheim
In Müllheim wurden, unter anderem, die Interessen und Anliegen von Jugendlichen mit einer Online-Befragung und in einem Jugendforum abgefragt und thematisiert. Das Jugendforum fand am 03. April 2014 von 17.30 bis 19.00 Uhr im Jugendclub S14 statt. Teilgenommen haben 25 Jugendliche im Alter von zwölf bis 18 Jahren, sowie die Bürgermeisterin, die Dezernatsleitung und zwei Gemeinderäte.
Im Vorfeld wurde mit den Jugendlichen eine Tagesordnung erarbeitet. Dabei wurden folgende Themen berücksichtigt: den Bau eines Hallenbades; Flutlicht auf dem Sportplatz der Werkrealschule; einen Platz im Freien zum Feiern; ein fehlendes Fußballtor an der Realschule ersetzen; Instandsetzungen sowie die Anschaffung eines Fußballkäfigs für das Sportgelände Kleinfeldele; eine neue Küche für den Jugendclub; Tischtennisplatten für den Schulhof der Werkrealschule. Eingeladen waren auch die SMV´s und die Schülersprecher der weiterführenden Schulen. Während des Forums fand eine rege Diskussion statt, jeder hatte die Möglichkeit seine Meinung zu äußern. Auf diese Weise wurden die Anliegen der Jugendlichen dokumentiert und an die politisch Verantwortlichen vermittelt. Unterschiedliche Sichtweisen konnten im Detail verhandelt werden und es entstanden neue Ideen und Lösungen.
Einige Ergebnisse konnten bis heute schon realisiert werden. Gemeinsam mit interessierten Jugendlichen wurde im S14 Jugendclub eine neue Küche eingebaut und ein PC-Arbeitsplatz mit Internetzugang eingerichtet. Auch im öffentlichen Raum konnten Anliegen verwirklicht werden. Im Schulhof der Werkrealschule wurden die gewünschten Tischtennisplatten aufgestellt. Für einen Soccerkäfig im Sportgelände Kleinfeldele sind die Planungen im Gange und die benötigten Gelder freigegeben.
5.4 Stadt Titisee-Neustadt
In Titisee-Neustadt wurde im Rahmen der sozialräumlichen Konzeptentwicklung für die Offene Jugendarbeit die Sozialraumanalyse mit Beteiligung von 227 Kindern und Jugendlichen im Alter von acht bis 20 Jahren durchgeführt. Ziel der Analyse war es, durch verschiedene Methoden, aus „erster Hand“ das Lebensgefühl, die Bedürfnisse und Anliegen der Heranwachsenden zu erfragen und bei Bedarf neue Schwerpunkte zu entwickeln.
Zu den Methoden gehörten unter anderem Stadtteil- und Spielplatzbegehungen mit Kindern und Jugendlichen, strukturierte Stadtteilbegehungen durch die Jugendpfleger sowie Befragungen und Interviews in den Schulen, im Jugendtreff und im öffentlichen Raum (zu den Methoden vgl. Methodenkoffer von sozialraum.de). Das Vorhaben beschränkte sich auf den Stadtteil Neustadt.
Die Zusammenfassung der Aussagen der verschiedenen, den Stadtteil begehenden Gruppen hat einen differenzierten Eindruck der sozialräumlichen Qualitäten der Treffpunkte in Neustadt aus der Sicht von Kindern und Jugendlichen ermöglicht. Der Wunsch der Heranwachsenden nach Mitgestaltungsmöglichkeiten im öffentlichen Raum wurde deutlich. Daraus ergab sich eines der Ziele der offenen Jugendarbeit: „Mitbestimmung und Mitgestaltung durch Beteiligung von Kindern und Jugendlichen fördern“.
Die Offene Jugendarbeit ermöglicht Kindern und Jugendlichen den Zugang zur Mitbestimmung und Mitgestaltung nicht nur im Jugendtreff sondern auch in den für sie relevanten Räumen und im Freien. Das heißt, sie orientiert sich an der Lebenswelt und dem Sozialraum der jungen Menschen, setzt sich mit diesem aktiv auseinander und ist eine Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche, die Unterstützung für ihre Ideen und Interessen suchen.
Gestaltungsmöglichkeiten im öffentlichen Raum ermöglichen die Identifikation mit der Stadt sowie die Aneignung von persönlichen Werten, Sozialkompetenz und Autonomie. Dies wird am folgenden Beispiel deutlich. Im Rahmen der Sozialraumanalyse wurde der Wunsch der Heranwachsenden nach Neugestaltung des in die Jahre gekommenen Jugendsportparks deutlich. Zitat von einem Jugendlichen: „Ein attraktiv gestalteter Jugendsportpark, wär ein gutes Aushängeschild für Neustadt“.
Auf Einladung der Jugendpflege trafen sich im Sommer 2014 zweiundzwanzig Kinder und Jugendliche, um Ideen für die Neugestaltung des Jugendsportparks zu sammeln. Die „Initiativgruppe Jugendsportpark“ vereint inzwischen drei verschiedene Interessengruppen (Basketball, Fußball, BMX-Park), die eine gemeinsame Konzeption zur Neugestaltung des Jugendsportparks mit Nutzungs- und Finanzierungsmöglichkeiten entwickelt und der Stadt und dem Gemeinderat vorgestellt hat. Die Politiker haben das Engagement der Jugendlichen gewürdigt und einstimmig dem Vorhaben der Initiativgruppe zugestimmt. Für den Projektstart 2015 wurden überplanmäßig Mittel eingestellt. Das Stellendeputat für die Jugendarbeit wurde um 0,25 einer Vollzeitstelle erhöht, um die Umsetzung der neuen Konzeption zu sichern und die Entwicklung des Jugendsportparks zu unterstützen.
Ergänzendes Material:
Konzeption Offene Jugendarbeit Titisee-Neustadt
PDF-Datei, 1,3 MB
5.5 Gemeinde Umkirch
Ein Ziel der Sozialräumlichen Konzeptentwicklung der Offenen und Mobilen Jugendarbeit Umkirch war es, fundiert, detailliert und aktuell, Kenntnisse über die Lebenswelt von jungen Menschen in Umkirch zu erlangen. Auf der Basis dieser Informationen sollten die Angebote auf die Bedürfnisse der Adressatinnen angepasst werden und Bürger, Verwaltung, Gemeinderat sowie lokale Akteure über die aktuelle Situation von Kindern und Jugendlichen unterrichtet werden. Eine Kernfrage war: Wie erleben die jungen Menschen den öffentliche Raum in Umkirch?
Dazu wurde unter anderem mit der Nadelmethode gearbeitet (zur Methode vgl. Methodenkoffer von sozialraum.de). Die Ausgangsfrage lautete, wo die Treffpunkte von Kindern und Jugendlichen in der Gemeinde seien und wie diese von jungen Menschen wahrgenommen würden.
Es wurden zu diesem Zweck stilisierte Karten des Ortes angefertigt und von insgesamt 150 Kindern und Jugendlichen mittels Symbolen als Wohlfühl-, Angst- oder Gestaltungsräume markiert. Herzen standen für „Wohlfühlraum“, Blitze für „Angstraum“ und Hände für „Gestaltungsraum“. Auf die Symbole konnten außerdem erklärende Begriffe geschrieben werden und es entwickelten sich Diskussionen und Gespräche.
Auffallend vielen Kindern und Jugendlichen gefällt es im Grunde sehr gut in ihrer Heimatgemeinde. Sehr beliebt sind Spielflächen mit und ohne fest installierte Spielmöglichkeiten. Sie toben sich dort gerne aus und treffen sich mit Freunden. Auch die Einkaufsmöglichkeiten vor Ort werden gerne genutzt. Es gibt aber auch Plätze und Gegenden, an denen sie sich nicht gerne aufhalten. Das Waldgebiet rund um den Waldspielplatz bis hin zur Unterführung, an dem der tägliche Schulweg vieler Grundschüler entlang führt, macht vielen Kindern Angst oder wird in irgendeiner Weise unangenehm wahrgenommen. Negative Begriffe wie „beängstigende Jugendliche“, „Dunkelheit“, „Müll“, „Scherben“, etc. überwogen hier in der Beschreibung.
Außerdem hat sich gezeigt, dass das Hochhausgebiet am stärksten polarisiert und es sehr ambivalente Wahrnehmungen desselben gibt. Einige Befragte hatten sich positiv geäußert, dass es dort immer lebhaft sei und viele Kinder in diesem Gebiet wohnen. Auf der anderen Seite werden Konflikte zwischen den Kindern und Jugendlichen des Gebietes beschrieben, bei denen Gewalt teilweise eine Rolle spielt und bei denen sich die befragten Teenies als hilflos und wenig durch Erwachsene unterstützt erfahren.
Auf Seiten der Jugendlichen werden die Räumlichkeiten und Orte in Umkirch oft als begrenzt erfahren. Ihren Aussagen nach fehlt ein weiterer überdachter Treffpunkt, an dem sie sein dürfen, ohne als störend empfunden zu werden. Die öffentliche Wahrnehmung von Jugendlichen wird von einigen Jugendlichen als negativ und schwierig erlebt. Es herrsche wenig Akzeptanz von Jugendlichen im öffentlichen Raum.
Es wurde ein Bedarf an Treffpunkten deutlich an denen sich Jugendliche von der Öffentlichkeit akzeptiert aufhalten können. Daraus wurde das konzeptionelle Ziel entwickelt: „Junge Menschen erleben Teilhabe, Sicherheit und Heimatgefühl in ihrer Gemeinde und finden jugendgerechte Beteiligungsmöglichkeiten vor“.
Aus den Ergebnissen sind mittlerweile ein Arbeitskreis Waldspielplatzgebiet und ein weiterer zur Situation im Hochhausgebiet entstanden. Konkrete Maßnahmen sind die Neugestaltung des Waldspielplatzes, eine zusätzliche Präsenzzeit der Sozialarbeiterinnen im Hochhausgebiet, die Planung der neuen Spiel- und Erholungsfläche beim Hochhausgebiet. Zusätzlich wurde ein Capoeira-Angebot neu geschaffen. Es ist geplant, auch zukünftig mit den beschriebenen Methoden die Situation von Kinder und Jugendlichen im öffentlichen Raum zu betrachten.
6. Zentrale Erkenntnisse
6.1 Herausforderungen
Es war nicht immer einfach für die Fachkräfte die Kontinuität zu gewährleisten und die Zeit und Aufmerksamkeit aufzubringen, das Projekt neben dem laufenden Geschäft zu realisieren. Es wurden nur in einzelnen Kommunen zusätzliche zeitliche Ressourcen zur Verfügung gestellt. Es galt also eine komplexe Methodik mit begrenzten Mittel umzusetzen. Für die Fachkräfte, die ihr Vorhaben alleine als Einzelkämpfer/-in in einer Stadt und Gemeinde umsetzten, ergab sich eine besondere Herausforderung.
6.2 Erfolgsfaktoren
Mehrere Faktoren schafften Kontinuität und Verbindlichkeit. Zum einen lag jeweils ein Auftrag durch den Bürgermeister vor. Zum anderen gab es die regelmäßigen Sitzungen der Gruppe, die bis zum nächsten Treffen zu erledigenden Arbeitsaufträge und die Freude am gemeinsamen Prozess.
Durch die externe Beratung und die Beratung des Kreisjugendreferenten wurde zusätzliche Zeit und fachliche Expertise eingebracht und der Prozess unterstützt. In einem Teil der Kommunen gab es einige Stunden zusätzliches Deputat für die Umsetzung. Dies ermöglichte eine ausführliche Sozialraumanalyse mit umfangreichen Ergebnissen.
Die Initiative des Landratsamtes, das Projekt anzubieten, wurde von den Fachkräften als unterstützend erlebt und erhöhte die Akzeptanz bei Politik und Verwaltung für das Vorhaben einer Sozialräumlichen Konzeptentwicklung. Durch den Projektzeitraum von zwei Jahren war es möglich, die Arbeit am Projekt entsprechend einzuteilen und phasenweise mehr oder weniger intensiv zu arbeiten.
6.3 Erfolge und Nutzen
Durch die Sozialräumliche Konzeptentwicklung kam es zu einer intensiven Kommunikation mit Politik, Verwaltung, Kindern und Jugendlichen sowie anderen Partnern im Sozialraum. Es gelang, die Jugendarbeit in den Fokus zu rücken. Aufgaben und Arbeitsschwerpunkte, Herausforderungen, Entwicklungschancen und Potentiale wurden beschrieben und kommuniziert. Die entwickelte Konzeption dient nun als Leitfaden für die Zukunft.
Anliegen von Kindern und Jugendlichen sind dokumentiert worden und werden in Politik und Verwaltung eingespielt. Einige Wünsche wurden aufgegriffen und realisiert. In zwei Fällen wurden die Stellendeputate für die Jugendarbeit erhöht, um die Umsetzung der neuen Konzeption zu unterstützen.
Die beteiligten Fachkräfte ermittelten ein umfassendes Bild über Lebenswelten und Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen. Der ermittelte Bedarf schuf eine gute Grundlage für die zukünftige Arbeit und qualifizierte zusätzlich die Fachkräfte als Expert/-innen für die Situation von Kindern und Jugendlichen vor Ort.
Im Laufe des Projekts entstanden ein umfangreiches Methodenwissen und ein „Sozialräumlicher Blick“. Beides kann weiterhin in der Jugendarbeit angewendet und vertieft werden.
7. Ausblick
Unserer Einschätzung nach war das Projekt sehr erfolgreich. Die Wirkung für die Jugendarbeit in den beteiligten Städten und Gemeinden ist spürbar. Die Ergebnisse haben vor Ort viel Wertschätzung und Anerkennung erfahren. Wir sehen die Jugendarbeit in den beteiligten Kommunen nachhaltig fundiert und gestärkt. Durch die aktivierenden Methoden konnte auch eine mittlere bis größere Anzahl von Kindern und Jugendlichen in den Gemeinden aktiv in die Konzeptentwicklung eingebunden werden. Eine Herausforderung für die Zukunft wird sein, die Bedürfnisse und Wünsche nun auch in den Mittelpunkt der eigenen Aktivitäten zu stellen und entsprechende Angebote in der Kommune und in der Jugendarbeit zu gestalten.
Der Prozess kann ein Modell für andere Gemeinden im Landkreis sein. Es wird angestrebt, auch zukünftig auf Gemeinde- und Landkreisebene ähnliche Vorhaben zu verwirklichen.
Literatur
Deinet, Ulrich (2012): Sozialraumorientierung – was heißt das? Schulungsunterlagen des PFH - Pestalozzi-Fröbel-Haus Berlin. URL: http://netzwerk.pfh-online.eu/wp-content/uploads/2013/11/Sozialraumorientierung_2012.pdf, Datum des Zugriffs: 10.08.2015
Deinet, Ulrich (2009): Sozialräumliche Konzeptentwicklung und Kooperation im Stadtteil. In: Sturzenhecker, Benedikt/Deinet, Ulrich (Hrsg.): Konzeptentwicklung in der Kinder- und Jugendarbeit. Weinheim, Juventa, 2. Auflage.
Deinet, Ulrich (2014): Das Aneignungskonzept als Praxistheorie für die Soziale Arbeit. In: sozialraum.de (6) Ausgabe 1/2014. URL: http://www.sozialraum.de/das-aneignungskonzept-als-praxistheorie-fuer-die-soziale-arbeit.php, Datum des Zugriffs: 10.08.2015
Spatscheck, Christian/Wolf-Ostermann, Karin (2009): The Socio-Spatial Paradigm in Social Work. In: sozialraum.de (1) Ausgabe 2/2009. URL: http://www.sozialraum.de/the-socio-spatial-paradigm-in-social-work.php, Datum des Zugriffs: 10.08.2015
Zitiervorschlag
Geserich, Martin und Irene Fink (2015): Konzept und Dokumentation einer Sozialraumanalyse zur Kinder- und Jugendarbeit im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald. In: sozialraum.de (7) Ausgabe 1/2015. URL: https://www.sozialraum.de/konzept-und-dokumentation-einer-sozialraumanalyse-zur-kinder-und-jugendarbeit-im-landkreis-breisgau-hochschwarzwald.php, Datum des Zugriffs: 21.12.2024