Das Theorie-Praxis-Projekt „Sozialraumorientierung“ an der Universität Duisburg-Essen
Paul Hendricksen
An der Universität Duisburg-Essen / Standort Essen gibt es seit 1979 die Möglichkeit, ein Theorie-Praxis-Projekt im Bereich der „Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit" zu absolvieren - mittlerweile im Rahmen des Bachelor-Studiengangs „Soziale Arbeit".
Das Projekt wird derzeit an drei Standorten in den Essener Stadtteilen Katernberg, Altendorf und den beiden aneinander angrenzenden Stadtteilen Bergmannsfeld / Hörsterfeld in einer vertraglich gesicherten Kooperation zwischen der Stadt Essen, der Universität Duisburg-Essen / Standort Essen und ortsansässigen Verbänden der freien Wohlfahrtspflege durch-geführt.
In diesem Kooperationsprojekt greifen die beteiligten HochschullehrerInnen, wissenschaftliche MitarbeiterInnen des Instituts für Stadtteilentwicklung, Sozialraumorientierte Arbeit und Beratung (ISSAB), PraktikerInnen der Sozialen Arbeit aus dem jeweiligen Stadtteil sowie StudentInnen nach einem Ansatz Sozialraumorientierter Sozialer Arbeit vorhandene Bedarfslagen in den Stadtteilen auf und bearbeiten sie gemeinsam mit der Wohnbevölkerung.
Die Studierenden haben über drei Semester mannigfaltige Lernmöglichkeiten in verschiedenen Projektkontexten, die nicht unverbunden nebeneinander stehen, sondern sinnvoll verknüpft werden. Kernelement ist eine praktische Tätigkeit vor Ort, die in den jeweils im Stadtteil aktuellen Praxisfeldern ausgeübt und von Fachkräften begleitet und verantwortet wird. Zu den Praxisfeldern zählen beispielsweise bereichsbezogene Aktivitäten in verschiedenen Wohnbereichen, die Begleitung von „Interkulturellen Dialogen", Aktivitäten im Bereich der „Altersgerechten Quartierentwicklung", Öffentlichkeitsarbeit, Begleitung von Aktivitäten eines Mehrgenerationenhauses, fallspezifische und fallunspezifische Tätigkeiten in der Jugendhilfe, Schulsozialarbeit, die Begleitung von Mieterinitiativen, Jugendarbeit, Förderung nachbarschaftlicher Aktivitäten, Unterstützung und Auswertung mobilisierender Befragungen und vieles mehr. Hier treten die Studierenden in unmittelbaren Kontakt mit StadtteilbewohnerInnen und können ihre persönlichen und kommunikativen Kompetenzen erkennen, reflektieren und ausbauen.
Diese praktische Tätigkeit wird durch weitere Ausbildungsbausteine mit theoretischen, methodischen und selbstreflektorischen Inhalten verbunden (z. B. regelmäßige Arbeitsbesprechungen mit PraktikerInnen und Lehrenden, Theoriegruppen, individuelle Anleitung durch PraktikerInnen und studentische Anleitung, Teilnahme an Stadtteilgremien, Moderation von Plena, Protokoll- und Berichtswesen usw). So wird die universitäre Ausbildung direkt mit sozialarbeiterischer Praxis verknüpft, die Fähigkeit zu wissenschaftlicher Analyse und problemlösendem Handeln in der praktischen Arbeit erworben. Studienfächer/Module, die in der Regel unverbunden studiert werden, können sinnvoll miteinander verknüpft werden.
Für die KooperationspartnerInnen ergibt sich aus der Zusammenarbeit mit den Studierenden die Möglichkeit systematische Nachwuchsförderung zu betreiben und neue Impulse für die eigene praktische Tätigkeit zu erhalten.
Zu den Projektbausteinen zählen im Einzelnen:
- die Zusammenarbeit von Studierenden, Lehrenden und PraktikerInnen in regelmäßigen Plena und Arbeitsbesprechungen
- Theoriegruppen und Klausurtage zur Auseinandersetzung mit spezifischen Themen etwa zur Stadtteilentwicklung, Sozialraumorientierung Sozialer Dienste, Methodenentwicklung in der sozialen Arbeit usw.
- Studien zu projektspezifischen Fragestellungen mit Bezug zum sozialarbeiterischen Alltag
- theorie- und konzeptgeleitete praktische Tätigkeit in sozialarbeiterischen Berufsfeldern
- individuelle Anleitung durch PraktikerInnen aus den Bereichen Jugendhilfe, Sozialhilfe, Altenhilfe, Gesundheit, Stadtentwicklung, interkulturelle Arbeit, Schule, Beschäftigungsförderung etc.
- Methoden-, Kommunikations- und Kompetenztrainings
- Supervision
Ziel ist die Ausbildung einer persönlichen Handlungskompetenz, die dadurch bestimmt wird, Situationen ganzheitlich wahrzunehmen und zu strukturieren, um auf dieser Grundlage im Rahmen der personalen Möglichkeiten das Fachkonzept „Sozialraumorientierung" in allen Berufsfeldern Sozialer Arbeit zu realisieren.
Die Struktur der Projekt-Ausbildung lässt sich in folgender Grafik zusammenfassen:
Für die Studierenden leitet sich aus dem Ausbildungskonzept ein differenziertes „Kompetenztableau" ab:
- (eigene und fremde) Grenzen, Stärken, Schwächen einschätzen
- Perspektiven wechseln
- Rechts-, Verwaltungs- und Organisationskenntnisse erwerben und anwenden (Anträge, Konzepte, Formulare, Protokolle, Berichte erstellen können)
- institutionelle Rahmenbedingungen kennen und einschätzen
- in unterschiedlichen Milieus angemessen kommunizieren
- selbständig arbeiten, sich selbst organisieren (Zeitmanagement, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit usw.)
- Informationsquellen erschließen und erweitern (Texte lesen und verstehen, Informationsmedien nutzen)
- Interesse an anderen Menschen, Lebenswelten, Lebensentwürfen etc. entwickeln und zeigen
- Interessen, Willen und Bedarfe erkennen und beachten
- Ressourcen nutzbar machen (vgl. hier vor allem Litges, 2006, S. 285).
„Nach Aussagen von AbsolventInnen (ISSAB 1989, S. 57; Litges/Neuhaus 2004, S. 220f.) haben sie (die Studierenden, Anmk. d. V.) im Projekt insbesondere gelernt, Theorien prägnant und systematisch darzustellen und anzuwenden, Arbeitsabläufe zu verstehen und (auch schriftlich) zu kommunizieren, Vor- und Nachteile unterschiedlicher Arbeitsansätze für die Praxis einzuschätzen, Kontakt zu unterschiedlichen Individuen, Gruppen und Milieus aufzunehmen und zu halten, eigene Interessen, Bedürfnisse, Stärken und Schwächen zu erkennen und damit umzugehen und insbesondere die Bedeutung und das Funktionieren sozialer Räume sowie (sozialer und anderer) Institutionen zu verstehen und in die Entwicklung von Handlungsperspektiven einzubeziehen" (Litges 2006; S. 286). So sind die Studierenden für ihre spätere berufliche Tätigkeit gut vorbereitet. Dies bestätigen auch Fachkräfte etwa der kommunalen Verwaltung, von Wohlfahrtsverbänden, freien Trägern und Wohnungsbaugesellschaften.
Insgesamt können pro Semester 40 bis 50 Studierende in den drei Essener Standorten ausgebildet werden. Das Projektstudium hat Tradition: Mehr als 1.000 Studierende haben in den vergangenen 30 Jahren das Projekt am ISSAB absolviert.
Arbeitsansatz: Fachkonzept Sozialraumorientierung
Innerhalb des Theorie-Praxis-Projektes betonen wir folgende Arbeitsprinzipien:
- Das Fachkonzept „Sozialraumorientierung" in der Sozialen Arbeit wurde auf der Grundlage des Arbeitsprinzips Gemeinwesenarbeit sowie sozialräumlicher und erziehungskritischer Ansätze entwickelt.
- Sozialraumorientierte Soziale Arbeit setzt dort an, wo der Lebensalltag der Menschen stattfindet, wo sie wohnen, zur Arbeit fahren oder zur Schule gehen, wo NachbarInnen sich treffen und wo Feste gefeiert werden. Der Stadtteil ist aber auch der Ort, an dem soziale Probleme entstehen, sich zeigen oder z.B. durch unzureichende Infrastruktur verstärkt werden.
- SozialarbeiterInnen fragen die Menschen nach ihren Vorstellungen, Interessen und Stärken und aktivieren und unterstützen sie. Sie überlegen also nicht, was ihrer Meinung nach gut ist „für" die Leute, sondern erkundigen sich bei den Menschen. Ansatz der Arbeit ist immer der Wille bzw. die Betroffenheit einzelner Menschen oder Gruppierungen.
- Bei der Umsetzung des Fachkonzepts werden die herkömmlichen Grenzen der Sozialen Arbeit überschritten. Die Fachkräfte mischen sich ein in Stadtplanung, Kommunal-, Arbeitsmarkt- und Wohnungspolitik mit dem Ziel der Verbesserung des sozialen und kulturellen Lebens sowie der baulichen und ökonomischen Strukturen im Wohnquartier.
- Sozialraumorientierte Soziale Arbeit greift zuerst auf die im Stadtteil vorhandenen Potentiale ("Ressourcen") zurück. Situationsbezogen werden verschiedene Methoden eingesetzt: z.B. Öffentlichkeitsarbeit, aktivierende Befragung, Stadtteilkonferenzen, offene Arbeitsformen mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, Gruppenarbeit, Beratung oder Konfliktmoderation.
Literatur
Grimm, G./Hinte, W./Litges, G. (2004): Quartiermanagement. Eine kommunale Strategie für benachteiligte Wohngebiete. Berlin
Hinte, W./Treeß, H. (2007): Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe. Theoretische Grundlagen, Handlungsprinzipien und Praxisbeispiele einer kooperativ-integrativen Pädagogik. Weinheim u. München
Litges, G. (2006): Projektstudium: Sozialraumorientierung im Hochschul-Studiengang „Soziale Arbeit", in: Budde, W./Früchtel, F./Hinte, W. (Hrsg.) (2006): Sozialraumorientierung. Wege zu einer veränderten Praxis. Wiesbaden, S. 277-293
Statements von Studierenden zum Projektstudium
Das ISSAB bietet im theoretischen Studium die Möglichkeit, in einem geschützten Rahmen, praktische Erfahrungen sammeln zu können. Die Profs vermitteln den nötigen Hintergrund und vertreten eine Haltung, die das ganze Leben positiv beeinflussen kann. Die Praktiker sind offen und hilfsbereit und stehen den Studis mit Rat und Tat zur Seite. Danke für die tolle Zeit und einen Rucksack voller Erfahrungen und Handwerkszeug!
Aber Projektstudium bedeutet auch: nette Menschen kennenlernen, tolle Gespräche führen, Lachen und Spaß haben!
Willem Fasselt (Ausstieg 2004)
„Im Rahmen des Theorie-Praxis Projekts wurden meine theoretischen und praktischen Kenntnisse der vorangegangenen Semester und Praktika vertieft. Regelmäßige Planung von Plena, Einteilen von Arbeitspaketen, Protokoll-Führung und eine alltagstaugliche Anwendung von Methoden wurden unter realen Rahmenbedingungen im Stadtteil ausgeführt und erlernt. Durch die Verknüpfung von Theorie, Methodentraining, Praxis und Supervision ermöglichte mir das Projekt ein ganzheitliches Lernen, welches ich in meiner jetzigen Berufstätigkeit sehr schätze. Durch die fundierte und praxisnahe Ausbildung gehört die Ressourcen- und Sozialraumorientierung zum Bestandteil meiner Arbeit."
Elvira Pissarek (Ausstieg 2007)
Für mich ist das T.-P. Projekt das Lehrreichste, was ich an der Uni bisher erlebt habe. Neben vielen wissenschaftlichen 'Modulen', fehlt an der Uni vor allem die Praxisnähe für die Sozialarbeiter. In regelmäßig stattfindenden Supervisionen und Anleitungsgespräche finde ich es wichtig, seine eigenen Kompetenzen und Schwächen zu erkennen, an denen man hauptsächlich im Rahmen dieses Praktikums arbeitet; das nimmt mir die Angst vor dem direkten Berufseinstieg nach dem Studium, ich fühle mich bereits jetzt in meiner Nebentätigkeit, die ich noch zusätzlich betreibe, nicht einfach 'ins eiskalte Wasser geworfen'. Man lernt Methoden der Sozialraumorientierung, wie Aktivierung, Lebensweltorientierung, etc... und hat in den Praxisfeldern viele Möglichkeiten sich darin 'auszuprobieren'. Außerdem stärkt das T.-P. Projekt mein Bewusstsein und meine Präsenz als angehender Sozialarbeiter im Stadtteil; einige Sozialarbeiter, wie auch Institutionen, Projekte und Arbeitskreise im Essener Stadtbezirk VI habe ich durch das Projekt kennen gelernt. Dadurch habe ich bereits ein weiteres Praktikum für die letzten Semesterferien, wie auch, durch die hier geknüpften Netzwerke im Stadtteil, meinen aktuellen Nebenjob.
Angelo Meyerhoff (Projektstudent 2009)
Zitiervorschlag
Hendricksen, Paul (2010): Das Theorie-Praxis-Projekt „Sozialraumorientierung“ an der Universität Duisburg-Essen. In: sozialraum.de (2) Ausgabe 1/2010. URL: https://www.sozialraum.de/sozialraumorientierung-an-der-universitaet-duisburg-essen.php, Datum des Zugriffs: 21.12.2024