Die Unmöglichkeit, nicht nicht da zu sein – Eine Rekonstruktion von Subjektivierungsweisen problematisierter Menschen im öffentlichen Raum um den Bremer Hauptbahnhof
Felix Seidel
„Wir werden ganz klar gegen Menschen vorgehen, die unseren Bahnhof verschandeln, indem sie alles unter sich fallen lassen oder in die Ecken urinieren. Auch Dealer wollen wir hier nicht haben. Aber jeder, der sich ordentlich verhält, darf sich natürlich auch viele Stunden und regelmäßig am Bahnhof aufhalten.“ (Ulrich Mäurer, Innensenator Bremens zit. n. Senatspressestelle Bremen 2018)
1. Einleitung
Die Bauarbeiten am City-Gate, einem Einkaufs- und Dienstleistungskomplex, die im Jahr 2015 auf dem Bahnhofplatz Bremens begannen, führten zu einer substanziellen Verkleinerung des öffentlichen Raums im Bereich der Bremer Innenstadt. „Aufgrund der aktuellen Bebauung, stehen den vielen unterschiedlichen Nutzerinnen und Nutzern zudem 5.500 Quadratmeter weniger zur Verfügung, was das Miteinander zusätzlich erschwert“ (Senatspressestelle Bremen 2018). Einer wahrgenommenen Kriminalitätssteigerung, Vermüllung und der Anwesenheit von drogenabhängigen, alkoholkonsumierenden und obdachlosen Menschen sollte in der Folge aktiv begegnet werden, um dem Hauptbahnhofsareal seine Funktion als „Empfangsraum und Präsentationsplattform“ (SfUBV et al. 2014: 29) Bremens zukommen zu lassen.
Diese Bemühungen kulminierten 2018 in der Verabschiedung des Sicherheitsprogramms Bremer Hauptbahnhof (SfI 2018) unter Federführung des Innenressorts. Neben Maßnahmen der Polizei und Ordnungsdienste, ausgeweiteter Videoüberwachung, Stadtreinigungs- und Beleuchtungskonzepten widmet sich das Programm explizit dem Umgang mit „Menschen in prekären Lebenssituationen“ (SfI 2019a: 13), deren Aufenthalt und Verhalten im öffentlichen Raum ein Problem für die weitere Entwicklung und Aufwertung des Innenstadtbereichs darstellt. Das Sicherheitsprogramm Bremer Hauptbahnhof und die flankierenden Diskurse um Attraktivität, Sauberkeit und Sicherheit des Bahnhofsumfelds lassen sich in Bezug auf die so charakterisierte Gruppe als Elemente eines Aufwertungsdispositivs beschreiben. Die Problematisierung bestimmter Individuen und der mit ihnen assoziierten Verhaltensweisen wird in programmatischer Weise festgeschrieben und befördert behördliche Kontrollbemühungen, neue räumliche Arrangements und Prozesse der Selbst- und Fremdzuschreibungen.
Der vorliegende Beitrag untersucht die Wechselwirkungen zwischen den materiellen wie symbolischen Veränderungen des öffentlichen Raums und dem Erleben der im Rahmen dieser räumlichen Interventionen problematisierten Individuen. Ausgehend von den Konzepten der Subjektivierung (Althusser 1977; Foucault 1994; Butler 2015) und der Dispositivanalyse (Foucault 1978; Bührmann/Schneider 2012) werden in Verbindung mit raumsoziologischen (Löw 2001) und kriminologischen (Belina 2006) Ansätzen die Veränderungen um den Bremer Hauptbahnhof beschrieben. Die in diesem Teil der empirischen Arbeit herausgearbeiteten Adressierungen problematisierter Subjekte werden daraufhin mithilfe der dokumentarischen Methode (Bohnsack 2014; Nohl 2017) und Ansätzen der Subjektivierungsforschung (Bosan?i? 2019a; Amling/Geimer 2016) anhand von Interviews mit dem Erleben potenziell betroffener Individuen in Beziehung gesetzt. Die leitende Frage dieser Studie ist dabei auf der einen Seite, wie sich programmatische Kategorisierungen von Individuen als Träger:innen problematischer Eigenschaften auf das alltägliche Erleben dieser Akteur:innen auswirken. Auf der anderen Seite geht es darum nachzuzeichnen, wie der materielle und symbolische Zugriff auf den öffentlichen Raum zu Verdrängungsprozessen bestimmter, diskursiv verworfener Subjekte führt und diese Prozesse in die Selbstthematisierungen der Akteur:innen selbst, im Sinne einer Internalisierung der Widersprüche, miteinfließen.
2. Theoretischer Rahmen
Der Subjektbegriff umfasst, in der hier verfolgten Lesart, auf der einen Seite das mit Bewusstsein ausgestatte Individuum und auf der anderen Seite, den unter die Zwänge, die das gesellschaftliche Miteinander erst ermöglichen, unterworfenen Menschen (Foucault 1994: 246f.). Identität und Subjektivität erlangt das Individuum zum Preis des Einfügens in eine gesellschaftliche Ordnung, womit der Prozess der Subjektivierung beschrieben ist (Foucault 2013a: 245; Foucault 2014: 337). Das Subjekt wird damit nicht als eine dem gesellschaftlichen Miteinander vorgelagerte Essenz oder Konstante gefasst, sondern als Produkt von Aushandlungs- und Benennungsprozessen (Elias 2017: Link 2012: 57; Bröckling 2017: 45ff.). Die Subjektivierung kann in dieser Lesart als sich ständig ereignender Akt der Benennung von Individuen anhand von Kategoriensystemen begriffen werden, auf die die Benannten reagieren bzw. zu reagieren haben, um als Subjekt gesellschaftlicher Ordnung erkennbar zu werden (Althusser 1977: 142ff.). Die somit immer nur vorläufige und fragile soziale Existenz stellt das Individuum in ein unauflösbares Abhängigkeitsverhältnis zu den Namen, welche für es in Diskursen entworfen wurden und werden (Foucault 2013a: 74ff.; Butler 2015; Butler 2016). Aus diskursanalytischer Perspektive schlägt Foucault daher vor, Diskurse „[…] als Praktiken zu behandeln die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (Foucault 2013b: 74). Gegenstände sind dabei sowohl Dinge, Verhaltensweisen als auch Kategorien bestimmter Subjekte, die in Praxen der gesellschaftlichen Wirklichkeitsordnung hervorgebracht, thematisiert und aktualisiert werden (Reckwitz 2010).
Die Anrufung des Individuums und seine Umwendung zum subjektivierenden Ruf stehen dabei allerdings nicht in einem determinierten Verhältnis zueinander (Althusser 1977: 148ff.). Die Angerufenen besitzen die Freiheit sich anders, widerständig oder subversiv zu dem sie ereilenden Ruf zur Subjektivität zu verhalten und damit die ursprüngliche Bedeutung des evozierten Kategoriensystems zu unterlaufen, zu transformieren (Alkemeyer/Villa 2010: 319ff.; Reckwitz 2010: 89f.; Bröckling/Krasmann 2010: 29). Der praktische Vollzug der Rekrutierung der Individuen als Subjekte einer geltenden Ordnung kann somit zu Neudeutungen, Verweigerungen und Widerständen führen, die auf der Ebene der Individuen performiert werden (Ott/Wrana 2010: 163ff.; Rose 2019: 69ff.).
Zur analytischen Trennung dieser beiden Seiten der Subjektivierung schlagen Bührmann und Schneider (2012: 68ff.) in ihren Ausführungen zu einer dispositivanalytischen Forschungsperspektive vor, die Dimensionen der Subjektpositionierung und der Subjektivierungsweise zu differenzieren. Subjektpositionierungen stellen dabei die diskursiv oder/und dispositiv vermittelten Kategorien gesellschaftlichen Seins dar, welche im Rahmen von Anrufungsprozessen zirkulieren. Subjektivierungsweisen wiederum sind die praktischen Vollzüge der Auseinandersetzung von Individuen mit diesen Blaupausen gesellschaftlicher Existenz. Die Einnahme der zugewiesenen Subjektposition kann also verweigert werden oder scheitern, was allerdings mit dem Entzug von Legitimität einhergehen kann (Keller 2011: 209ff., 223; Butler 2017: 23f.).
Die Verortung der subjektivierungsanalytischen Perspektive im Gefolge von Dispositivkonzepten ermöglicht dabei den forschenden Blick über vereinzelte Akte der Benennung hinauszurichten. Dispositive, verstanden „[…] als Infrastrukturen
der Diskursproduktion und als Infrastrukturen der diskursiven Weltintervention […] (Keller 2019: 58, Hervorh. im Original), bringen als Ensemble diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken (Foucault 1978: 119ff. siehe auch Abb. 1) die Bedingungen der Anrufung bestimmter Individuen entlang von Subjektkategorien hervor. Dispositive, als heterogenes Ensemble von Materiellem, diskursiven Formationen, Gesetzen, Programmen und Institutionen sowie mit diesen in Verbindung stehenden Praktiken, antworten auf einen ausgemachten Notstand und transportieren damit letztlich Formen der Regierung und Selbst-Regierung von Menschen. Der Wahrheitsgehalt dieser Kategorien wird im Rahmen der dispositiven Intervention etabliert und an Individuen vermittelt, welche sich und ihre Umwelt anhand dieser Wissensordnungen erkennen und sich zu ihnen verhalten (müssen) (Foucault 2014: 261f.; Lemke et al. 2015; Bührmann 2005). Die Wirkungen, welche ein Dispositiv auf das gesellschaftliche Miteinander und die soziale Ordnung hat, erschöpft sich nicht in den ihm zugrunde liegenden Rationalitäten. Es zeitigt durch die performativen Vollzüge, der so adressierten Subjekte eine Wirkung, welche in Gewolltes und nicht Gewolltes oder so nicht Geplantes zerfällt (Bührmann/Schneider 2007; 2012: 92ff.).
Abbildung 1: Dimensionen einer sozialwissenschaftlichen Dispositivanalyse. Quelle: Bührmann/Schneider 2007: 20.
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Diese Wirkungen und Nebenwirkungen von Programmen, räumlich-materiellen Veränderungen und Selbst- und Weltverhältnissen von Menschen durch dispositive Arrangements müssen daher auf der Ebene der betroffenen Individuen nachgezeichnet werden. Die Subjektivierungsweisen mit denen sich die Angerufenen zu einer lokalen Ordnung der Dinge und Namen verhalten, stellen dabei die praxeologische Seite einer Subjektivierungsforschung dar, welche abseits der diskursiven und dispositiven Rationalitäten nach den Praktiken und Selbstthematisierungen der Individuen fragt, die in Auseinandersetzung mit diesen Rationalitäten ihre Integration in die gesellschaftliche Ordnung leisten (müssen) (Alkemeyer er al. 2013; Alkemeyer/Buschmann 2016; Bosan?i? 2019b; Graefe 2010).
Die Auseinandersetzungen von Individuen mit den ihnen zur Verfügung gestellten Subjektpositionierungen werden, besonders vor dem Hintergrund einer umfassenden Problematisierung sozialer Existenzen, zu einem lohnenden Forschungsfeld für die Subjektivierungsforschung. Mit Problematisierung wird dabei generell eine Form der Thematisierung bestimmter Verhaltensweisen und Personen verstanden, die aufgrund gesellschaftlicher Notstände zum privilegierten Gegenstand regulierenden Zugriffs gemacht werden (Foucault 1996: 178ff.). Im Rahmen dieser Thematisierungen werden ideale bzw. akzeptable und verworfene bzw. problematisierte Subjektpositionierungen verhandelt, anhand derer Individuen sowohl eingeteilt werden als auch sich selbst einteilen und erkennen. Der Begriff des Verworfenen verweist dabei auf die Ausführungen Judith Butlers zu den unbewohnbaren aber dennoch dicht bevölkerten Zonen des sozialen Lebens, in denen keine Identifizierung des Individuums als legitimes Subjekt möglich ist (Butler 2017: 23f.). Das Individuum selbst tritt somit entlang seiner Thematisierung als problematisches Subjekt, als zu regulierender und kontrollierender (öffentlicher) Notstand hervor (Foucault 1976: 119ff.; Kessl/Krasmann 2019: 283).
Das Sicherheitsprogramm Bremer Hauptbahnhof kann als ein solcher dispositiver Versuch, anhand einer Regierungsprogrammatik den Raum um den Hauptbahnhof und die sich in ihm aufhaltenden Individuen zu kontrollieren, begriffen werden. Keller (2016) verweist explizit auf die Möglichkeit, Räume als Gegenstand diskursiver Konstruktionsprozesse zu begreifen, deren Bebauung, Nutzung und Reservierung für bestimmte Zwecke sowie die damit zusammenhängenden und umkämpften Vorstellungen und Bedeutungen Ergebnis eines zu analysierenden, diskursiven und dispositivem Ensembles sein können. Räume können aus einer solchen machtanalytischen Perspektive als Gegenstand wie auch Mittel der Benennung, Abgrenzung und Bedeutungszuschreibung begriffen werden (Jessop 2007: 27). Die Verfügungsmacht über Räume und ihre Bedeutung kann Dinge und Menschen auf Distanz halten, ihre Anwesenheit in den so kontrollierten Räumen als störend und aggressiv markieren und einen exklusiven Gebrauch von Räumen nach sich ziehen und legitimieren (Bourdieu 1991: 30f.).
Martina Löw schlägt vor, Räume als gesellschaftliche Produkte zu begreifen, welche durch die relationalen (An)Ordnungen von Lebewesen und Gütern charakterisiert werden (Löw 2001: 159f.). Räume werden erst durch Handlungen und Wahrnehmungen sozialer Akteur:innen in ihrer spezifischen Form hervorgebracht, reproduziert und verändert. Darüber hinaus beeinflusst eine bestimmte Bedeutung oder materielle Verfasstheit eines räumlichen Ausschnitts die Handlungen, Wahrnehmungen und Bedeutungszuschreibungen, welche von Individuen in Verbindung mit ihm vorgenommen werden (ebd.; Löw 2016). Räume stellen aus dieser Sicht strukturierende und strukturierte Grundlage menschlicher Interaktion dar und sind mitnichten als quasi natürliche Hinter- oder Untergründe sozialen Handelns zu begreifen (Bourdieu 1991 28f.; Löw 2007: 81). Wer wie an der (An)Ordnung von Räumen beteiligt ist bzw. sich beteiligen kann, hängt dabei mit Faktoren wie Geld, Qualifikation, Status oder sozialem Kapital zusammen (Löw: 2001: 228). Räume sind also strategische Mittel der Durchsetzung partikularer Interessen, wobei bestimmte Nutzungen von Räumen diskreditiert und andere bevorzugt werden (Belina 2006: 49ff.). Der öffentliche Raum ist immer auch ein exklusiver, wobei die Modalitäten, Kriterien und Ziele des Ausschlusses bestimmter Individuen zeitlichem Wandel unterliegen (Siebel/Wehrheim 2012: 4).
Belina unterscheidet drei Typen räumlicher Praxen, welche sowohl auf der Ebene der Materialität als auch der Bedeutung zu beobachten sind. Die Praxis der Produktion beschreibt die materielle oder sinnhafte Erschließung, Bebauung oder grundlegende funktionale Reorganisation von Räumen. Die Kontrolle von Räumen unternimmt den Versuch, ein Monopol bestimmter akzeptierter Nutzungs- oder Wahrnehmungsweisen durchzusetzen, wohingegen die Aneignung von Räumen die tatsächliche und praktische Nutzung von Räumen und die teils heterogenen Bedeutungszuschreibungen durch soziale Akteur:innen beschreibt (Belina 2006: 37ff.). Die kriminologischen Ausführungen Belinas zu Räumen, wie auch die Konzepte Löws, sind dabei anschlussfähig an eine dispositiv- und subjektivierungsanalytische Perspektive, da sie Räume als Gegenstand von Aushandlungen markieren, die bestimmte Verhaltens- wie auch Seinsweisen sanktionieren oder problematisieren können (Belina 1999: 60f.; Belina 2005: 137ff.; Löw 2001: 215ff.). Der öffentliche Raum wird zwar stellenweise in idealtypischer Weise als ein jedem und jeder zugänglicher und in gleicher Weise nutzbarer Raum verstanden, allerdings ist der faktische Zugang zum öffentlichen Raum und seine Nutzung beständig Gegenstand von Deutungskämpfen, wobei bestimmte Gruppen anhand verschiedener Logiken und Rationalitäten von ihm ausgeschlossen wurden und werden (Gestring et al. 2005: 225; Krasmann/de Marinis 1997: 164ff.).
Die beschriebenen theoretischen Perspektiven der Dispositiv- und Subjektivierungsanalyse sowie raumsoziologischer Konzepte wurden im Rahmen des im nächsten Kapitel zu beschreibenden Studienverlaufs auf den Raum um den Bremer Hauptbahnhof, einige seiner markanten Veränderungen, die programmatische Konstruktion des Hauptbahnhofareals als öffentlicher Notstand und die daraus folgenden Praktiken der räumlichen (Neu)Konzeption angewendet. Die in der Folge geführten Interviews wurden auf Grundlage dieser Reflexionen vorbereitet.
3. Aufbau der Studie
Um der analytischen Differenzierung von Subjektpositionierungen und den Subjektivierungsweisen sozialer Akteur:innen im öffentlichen Raum Rechnung zu tragen, wurde die empirische Arbeit ebenfalls in zwei aufeinanderfolgende Schritte gegliedert. Anhand von Dokumentenanalysen des Sicherheitsprogramms Bremer Hauptbahnhof sowie medialer Diskurselemente wurde eine Beschreibung des in diesem räumlichen Abschnitt installierten Dispositivs unternommen. Darüber hinaus wurden relevante Drucksachen der Bremer Bürgerschaft, Pressemitteilungen der Bremer Regierung und Planungspapiere für die mittel- bis langfristige Innenstadtentwicklung hinzugezogen. Ziel dieses Vorgehens war die Beschreibung der sich um den Bremer Hauptbahnhof manifestierenden Rationalitäten, anhand derer die Aushandlung akzeptabler und zu verdrängender Handlungsweisen bzw. Personenrguppen vollzogen wird. Eine solche Beschreibung, die in Abschnitt 4.1 umrissen wird, bildet in einer subjektivierungsanalytischen Perspektive die Dimension der Subjektpositionierungen, zu denen sich die programmatisch hervorgebrachten und durch Phänomene wie Platz- und Ausweiskontrollen, architektonische Veränderungen und Parzellierungen sowie subtilere Interaktionen adressierten Individuen verhalten müssen.
Weiterführend dienten diese dispositivanalytisch motivierten Erkundungsbewegungen dazu, einen Leitfaden für Interviews zu erstellen, die dann mit den Adressat*innen der programmatisch verhandelten Subjektkategorien durchgeführt wurden. Die durch den Leitfaden vorgegebene Ordnung wurde dabei der Darstellungslogik der Interviewten nachgeordnet, da den Erzählungen der Interviewten keine Hindernisse durch rigide Gesprächsführung entgegengesetzt werden sollten (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 129ff.; Nohl 2017: 16ff.). Im Sinne der dokumentarischen Methode sollte den Interviewten mit größtmöglicher Offenheit gegenüber den Darlegungen ihres Erlebens begegnet werden, weshalb von teilnarrativen oder narrativ fundierten, leitfadengestützten Interviews zu sprechen ist (Helfferich 2014; Nohl 2017: 16ff.).
Die Interviews wurden vom 24.01.2020 bis 07.02.2020 um den Bremer Hauptbahnhof vor Ort durchgeführt. Die Kontakte zu potenziellen Interviewpartner*innen wurden zum Großteil auf öffentlichen Plätzen oder im Areal um den Hauptbahnhof verorteten niedrigschwelligen Einrichtungen der Obdachlosen- oder Drogenhilfe hergestellt. Das hierdurch erfasste Sample zeichnet sich durch eine bestimmte Milieuzugehörigkeit aus und brachte zumindest ein grundlegendes Interesse an der Forschungsthematik mit, welches durch die möglichst allgemein gehaltene Vorstellung des Vorhabens geweckt wurde. Im Sinne eines explorativen Vorgehens, welches nicht mit dem Anspruch in Verbindung steht, generalisierbare und allgemeingültige Aussagen zu produzieren, sollte an dieser Stelle darauf verwiesen werden, dass die Auswahl an Interviewpartner*innen nicht repräsentativ für die durch das nachgezeichnete Dispositiv Adressierten ist. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass sich die Interviewten durch gewisse Homologien in ihrem Erleben und durch einen milieuspezifischen Zugang zu einem geteilten Erfahrungsraum auszeichnen (Amling/Hoffmann 2018). Diese Eingebundenheit in bestimmte soziale Zusammenhänge stellt im Sinne der dokumentarischen Methode allerdings nicht eine auszuschaltende Fehlerquelle dar. Die soziale Situierung der Interviewten ermöglicht vielmehr die Rekonstruktion eben jenes geteilten Erfahrungsraumes, welcher, so die hier vertretene These, durch den Einfluss der Subjektpositionierungen im öffentlichen Raum mitbestimmt ist (Bohnsack 2014: 87f.).
Zur Auswertung der Interviews wurde die dokumentarische Methode (Bohnsack 2014) herangezogen, die von Nohl (2017) bereits für die Analyse von Einzelinterviews ausgearbeitet wurde und beispielsweise von Amling und Geimer (2016; 2019a; 2019b) für subjektivierungsanalytische Forschungen herangezogen wurde. Die dokumentarische Methode als rekonstruktives Verfahren der sozialwissenschaftlichen Analyse setzt bei einer analytischen Trennung zweier Wissensdimensionen an, die durch Informant*innen in ihren Aussagen vermittelt werden. Kommunikatives Wissen, also reflexiv zugängliche und theoretisch explizierbare Sinnzusammenhänge, und konjunktives Wissen, verstanden als vor-reflexive, atheoretische Bezugnahmen zum eigenen Erleben, werden in der dokumentarischen Methode als zwei Seiten der praktischen Eingebundenheit von Akteur:innen in ihre soziale Umwelt interpretativ erfasst (Bohnsack 2012; Bohnsack et al. 2013). Im Sinne einer praxeologischen Wissenssoziologie erschließt die dokumentarische Methode damit die Wirkung von Normen und Positionierungsprozessen in eine lokale soziale Ordnung (auch) entlang von Erzählungen der Interviewten, die sich um ihr alltagspraktisches Handeln, Denken und Sprechen drehen (Nohl 2013; Bohnsack 2014; Meuser 2013). Ausgangspunkt dieser interpretativen Haltung ist dabei eine kenntlich zu machende grundlagentheoretische Verortung, die den interpretativen Blick auf das Datenmaterial informiert und im Sinne eines explorativen Verfahrens die Generierung von gegenstandsbezogenen Thesen leitet (Przyborski 2004: 31f.; Nohl 2016). Die subjektivierungstheoretische grundlagentheoretische Verortung des hier verfolgten Forschungsansatzes wurde im zweiten Abschnitt dargelegt und beeinflusst den interpretativen Zugang zum empirischen Material (Bohnsack 2014: 191ff.).
Prämisse der Subjektivierungsforschung ist, nicht von einer quasi deterministischen Gleichsetzung von programmatischer (Subjekt-)Norm und der praktischen Selbsterfahrung im Sinne einer Subjektivierungsweise der Akteur:innen auszugehen (Reckwitz 2003). Ein Ineinanderfallen von individuellem Sein oder Selbstthematisierung der Individuen auf der einen Seite und Subjektpositionierung auf der anderen Seite kann nicht unterstellt werden (Wrana/Langer 2007; Geimer 2017). Die dokumentarische Methode unternimmt vor dem Hintergrund subjektivierungstheoretischer Überlegungen den Versuch, die praktischen Auseinandersetzungen der Akteur:innen mit den programmatischen Fremdidentifizierungen und -thematisierungen ihrer Person nachzuzeichnen (Geimer 2013). Die Auseinandersetzung mit normativen Vorgaben und Anrufungen werden somit in Form von Subjektivierungsweisen, also Selbstthematisierungen der Individuen, interpretierbar und können auf die programmatische Seite dispositiver Subjektpositionierungen rückbezogen werden. Die Aussagen der Interviewten werden dann in der Feininterpretation dahingehend betrachtet, wie die Individuen sich zu den normativen Ordnungen und subjektivierenden Anrufungsstrukturen verhalten (können) (Geimer 2017; Amling/Geimer 2016). Damit bietet die Rekonstruktion des Erlebens potenziell problematisierter Individuen die Möglichkeit, Wechselwirkungen zwischen Dispositiv und Individuum, zwischen Programm und Praxis näher zu beleuchten und auch für subversive, widerständige oder vermittelnde Formen des Verhaltens von Individuen offen zu bleiben (Alkemeyer/Buschmann 2016; Rieger-Ladich 2004).
4. Ergebnisse
Im Folgenden wird zum einen eine Beschreibung des lokalen Aufwertungsdispositivs und der damit verbundenen räumlichen Kontrollbemühungen um den Bremer Hauptbahnhof vorgestellt. Zum anderen werden im zweiten Unterabschnitt die prägnanten Ergebnisse der interpretativen Rekonstruktion des empirischen Materials vorgestellt, die die Subjektivierungsweisen der Individuen, die durch diesen programmatischen Zugriffs auf den öffentlichen Raum in der Bremer Innenstadt betroffen sind, exemplarisch verdeutlichen.
4.1 Das Aufwertungsdispositiv um den Bremer Hauptbahnhof
Das City Gate, laut dem damaligem Bausenator Bremens Joachim Lohse eine „echte Visitenkarte“ (zit. n. Hinrichs 2015) der Bremer Innenstadt, stellt neben weiteren baulichen Veränderungen, wie dem Bau eines neuen ZOBs mit integriertem Hotel, die markanteste städtebauliche Veränderung im Bahnhofsumfeld Bremens dar. Diese Neugestaltung des öffentlichen Raums wird hierbei eine Impulswirkung für die Entwicklung und die Attraktivierung der Innenstadt zugeschrieben (SfUBV et al. 2014: 44f., 81). Es geht darum, die Wettbewerbsfähigkeit der Hansestadt mit konkurrierenden Ballungsräumen, wie Hamburg; Hannover und Oldenburg, zu sichern (ebd.: 15, 39f.). Zwar sollten auch „Verweilmöglichkeiten und Aufenthaltsorte ohne Konsumzwang angeboten werden“ (ebd.: 59), aber die Lenkung von Kund:innenströmen, die Attraktivitätssteigerung und die Aufwertung sind die bestimmenden Leitmotive des Stadtentwicklungspapiers Bremen Innenstadt 2025 (ebd.) und finden ebenso Eingang in die Einleitung des Sicherheitsprogramms Bremer Hauptbahnhof (SfI 2018).
Gleichzeitig wird durch den damaligen Bremer Bürgermeister Carsten Sieling das „Schmuddel-Image“ (zit. n. Senatspressestelle 2018) des Hauptbahnhofsareals beklagt. Medial wird dies durch einschlägige Titel in der lokalen Presse begleitet: „Polizei: Hauptbahnhof – steigende Kriminalität bestätigt“ (Weser Report 2015); „Diebstahl, Raub, Drogen: Angst am Hauptbahnhof“ (Weser Kurier 2016); „Das Geschäft mit dem Mitleid – Probleme mit aggressiven Bettlern in der Innenstadt“ (Hermann 2016). Im Weser Kurier wird Innensenator Ulrich Mäurer wie folgt paraphrasiert: „Man werde dafür sorgen, dass der Hauptbahnhof nicht mehr länger das El Dorado für Dealer und Diebe sei […]“ (Michel 2018). Der „Bahnhofsplatz: Visitenkarte statt Schmuddelecke“ (Schumacher 2018) lautet dementsprechend das erklärte Ziel, nach Beschluss des Sicherheitsprogramms am 18.09.2018 durch den Bremer Senat.
Im Sicherheitsprogramm werden die Probleme „[…] von vielfältigen Unordnungserscheinungen, wie Müll, abgestellten Schrottfahrrädern, Farbschmierereien, wilde[n] Toiletten oder [dem] teils mehrtägigen Lagern bzw. Campieren von Personen teilweise mit Hunden auf dem Bahnhofsvorplatz […]“ (SfI 2018: 1) aufgezählt, die das Erscheinungsbild des Bahnhofsumfeldes beeinträchtigen. Das Verhalten von regelmäßig in diesem Bereich anzutreffenden Personen „[…] z. B. aus der Drogenszene (Dealer/innen und Konsument- /innen) sowie Gruppen von wohnungslosen und/oder Alkohol konsumierenden Menschen […]“ (ebd.) kreiere Unsicherheitsgefühle und Angsträume (ebd.).
In der Einleitung des Programms wird darüber hinaus das Fehlen der freien Fläche auf dem jetzt bebauten Bahnhofsplatz erwähnt, der vormals als Rückzugsraum für unterschiedliche Personengruppen fungierte, die nun vermehrt in andere Nahbereiche ausweichen. Die hieraus resultierenden Nutzungskonflikte auf den noch vorhandenen öffentlichen Flächen werden damit direkt auf die Verengung des Raumes durch das zentrale Bauvorhaben auf dem sogenannten Investorengrundstück zurückgeführt (ebd.: 2). Ein Fokus liegt dabei darauf „öffentlich wahrnehmbare Kriminalität konsequent [zu] verhindern und [zu] verfolgen“ (ebd.: 5), was in der Folge das „Sicherheitsgefühl der Bevölkerung verbessern und Auswirkungen der offenen Drogenszene reduzieren“ (ebd.) soll. Es geht um ein „[k]onsequentes Einschreiten gegen Personen, die öffentliche Räume/Flächen in einer für dritte beeinträchtigenden Weise nutzen […]“ (ebd.: 8) Grundsätzliches Ziel ist die „Erhöhung der Attraktivität und Aufenthaltsqualität des Hbf“ (ebd.: 9) Wobei hierbei Spannungskonflikte im ersten Sachstandbericht zum Sicherheitsprogramm bereits ausgemacht werden:
„Wie bereits in der Einleitung erwähnt, ist es eine Gratwanderung für die Ordnungskräfte, die verschiedenen Wünsche und Ansprüche der unterschiedlichen Gruppen mit den bestehenden politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen auszuloten. Es sollen deutliche Grenzen gezogen werden, wo andere Personen beeinträchtigt werden, es müssen aber auch gleichzeitig individuelle Freiräume akzeptiert werden. Für die handelnden Kräfte ist es notwendig, Handlungssicherheit zu schaffen und Einschreitschwellen genau zu definieren.“ (SfI 2019a: 9)
Eine Verbesserungsmöglichkeit wäre, „[…] weitereakzeptierte, dezentrale Treffpunkteim Bahnhofsumfeld für Menschen in prekären Lebenslagen […], um die Konzentration am Bahnhof zu reduzieren und alternative adäquate Aufenthaltsorte anzubieten.“ (ebd.: 14 Hervorh. im Original). Der Szenetreff, eine mit Zäunen umgebene Ecke unter einer Fußgänger:innenbrücke an der Seite des Bahnhofsgebäudes stellt dabei letztlich die parzellierende Zuteilung eines Raumausschnitts für die Problematisierten der räumlichen Attraktivierungslogik dar. Die Vertreibung von problematischen Subjekten weicht hier einer Logik der räumlichen Einfriedung.
„Die meisten Bahnhöfe sind Anziehungs- und regelmäßige Treffpunkte für wohnungslose, alkoholabhängige und/oder drogenkonsumierende Menschen. Sie leben am und vom Bahnhof. Andererseits löst das zum Teil auffällige Verhalten dieser Menschen bei dem Großteil der Bevölkerung Unbehagen aus, sodass die Nutzungsmöglichkeiten des Hauptbahnhofes für sie eingeschränkt werden und die Aufenthaltsqualität sinkt.“ (SfI 2019b: 18)
Da diese Menschen in ihrer Lebensgestaltung also vermeintlich von Orten wie dem Hauptbahnhof abhängen, durch Anspielungen einer quasi parasitären Beziehung zum Ort Bahnhofsumfeld verdeutlicht, muss ein möglicher Umgang mit ihnen gefunden werden, der ihre Auswirkungen auf das Erscheinungsbild und die Sicherheit dieser Bereiche reduziert. Die im Sicherheitsprogramm eingeführte Klassifikation von „Menschen in prekären Lebenssituationen, die sich häufig am Bahnhof aufhalten“ (SfI 2019a: 13) umfasst dabei sowohl alkohol- und/oder drogenkonsumierende als auch wohnungs- oder obdachlose Menschen, deren Erscheinen, Verbleib und Konzentration im öffentlichen Raum zu regeln und zu kontrollieren ist.
Neben den sukzessive erhöhten Einsatzstunden von Polizeistreifen (Senatspressestelle Bremen 2018), der Schaffung neuer Räume, wie dem Szenetreff, der Schließung von uneinsichtigen Rückzugsräumen, wie der Brake (SfI 2019a: 18f.), und ausgeweiteter Videoüberwachung, wird auch die Errichtung eines Drogenkonsumraums erwogen (SfGFV 2019), welcher im September 2020 schlussendlich eröffnet wird. Eine abschließende Feststellung des zweiten Sachstandes zum Sicherheitsprogramm Bremer Hauptbahnhof lautet dementsprechend, „[…] dass Kontrollen von Ordnungsdienst und Polizei eine Daueraufgabe bleiben [werden]“ (SfI 2020: 27f.), wobei an anderer Stelle bereits hervorgehoben wurde, „dass nachhaltige Lösungen der Probleme für und von drogensüchtigen Personen mit polizeilichen Mitteln allein nicht zu erreichen sind.“ (SfI 2019b: 13).
In dieser konzentrierten Beschreibung der programmatischen Gestaltungs- und Kontrollbemühungen des öffentlichen Raums um den Bremer Hauptbahnhof dokumentiert sich ein Ensemble an räumlichen Praktiken, die als Aufwertungsdispositiv bezeichnet werden können (siehe Abb. 2). Die Aushandlungen um Attraktivitätssteigerung und Sicherung des öffentlichen Raums als Visitenkarte der Bremer Innenstadt umfassen dabei auch die Deklarierung und Klassifikation einer heterogenen Gesamtheit an Personen, welche anhand von Aussehen und Verhalten zu einer gefährlichen Klasse (Krasmann/de Marinis 1997: 164ff.), der „Bahnhofsszene“ (SfI 2019a: 3) zusammengefasst werden. Diese Verortung in der Symbolik des öffentlichen Raums kann dabei im Rahmen einer Dispositivanalyse als Subjektpositionierung begriffen werden. Der Umgang und das Erleben der so identifizierten und klassifizierten Individuen wurden in der Folge anhand der interpretativen Rekonstruktion der durchgeführten Interviews nachgezeichnet.
Abbildung 2: Dimensionen des Aufwertungsdispositivs. Quelle: Eigene Darstellung des Autors nach Bührmann/Schneider 2007: 20.
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4.2 Die Unmöglichkeit, nicht nicht da zu sein – Subjektivierungsweisen problematisierter Individuen um den Bremer Hauptbahnhof
Im Folgenden wird sich auf prägnante Interviewpassagen der neun durchgeführten Interviews konzentriert, welche das Erleben der eigenen Problematisierung und die Strategien des Umgangs mit diesen Subjektpositionierungen durch die Interviewten verdeutlichen.
IP 1 „Wer hat keine Vorurteile, wer ist vorurteilsfrei nä; aber die Gesellschaft, äh wie soll ich das jetz- wie soll ich das sagen, mir fehlt jetzt gerad- mir fehlt jetzt gerade das Wort äh (..), urteilt halt gerne nä also, man schimpft halt gerne über den Nachbarn, aber kehrt nicht vor seiner eigenen Haustür; und so ist das mit uns Alkoholikern; hast 'ne Flasche Bier in der Hand bist du gleich das Schlimmste von was geht nä; obwohl sie alle mit 'ner Pulle Bier in der Hand rumlaufen wenn Werder spielt; ja so dann ist das erlaubt //ja// oder korrekt, wenn du in der Woche, wenn nichts weiter los ist mit 'ner Pulle rumläufst dann ist das schäbig; dann ist das Dreck, dann bist du Dreck, oder (..) man will nichts mit dir zu tun haben, //ja// während eines Werderspiels ist es überhaupt kein Thema; überhaupt nicht, da können dir die gleichen Leute begegnen, die dich vorher abgeurteilt haben und dann prostet man sich zu und ((grölt leise)), na ja so ist die Gesellschaft halt;“
Die Identifizierung als problematisches Subjekt im öffentlichen Raum vollzieht sich aus der Perspektive des Interviewten anhand von bestimmten Handlungen, hier dem Alkoholkonsum, welches nicht einer Norm oder einer korrekten Situation entspricht. Die Subjektpositionierung läuft entlang beobachtbarer Verhaltensweisen, die diametral zu einer etablierten Bedeutung und Funktion des Raumes stehen und ihn als Anderen der legitimen Ordnung markieren.
IP 1 „Weil das 'n offener Platz war nä, äh es war 'ne lockere Szene, man hat sich da treffen können, man hat sich da hinsetzen können, Bier trinken, also ich dann als Drogensüchtiger (..) war das schon ganz angenehm nä, du hast 'n festen Anlaufplatz gehabt nä, wie halt 'n festen Treffpunkt, also du konntest immer hingehen zu jeder Tages- Nachtzeit hast immer Leute getroffen //ja// nä und durch diesen Bau ist das alles weggefallen nä;“
Die freie Fläche, welche mittlerweile durch das City Gate eingenommen wird, stellte für ihn einen Rückzugsort dar. Die möglichen Aneignungspraktiken des öffentlichen Raums haben sich durch die Bebauung reduziert und dem Interviewten einen Treffpunkt mit Bekannten genommen. Dieser Neuordnung des räumlichen Arrangements ist allerdings wenig entgegen zu setzen, da die öffentliche Fläche und die Aufenthaltsmöglichkeiten um den Hauptbahnhof begrenzt sind.
IP 3 „Die wollen halt nicht viel, das normale Mitbürger das mitbekommen und das Kinder hier lang gehen, und das kann ich auch verstehen; das ist ja auch in Ordnung, aber dann sollten sie uns doch 'n Platz geben und sagen ,haltet euch da auf, habt ihr eure Ruhe, und gut‘;“
Die, eine wiederkehrende Bezeichnung in allen Interviews, die wahlweise für Polizei oder Politik zu stehen scheint, haben aus der Sicht der Interviewten ein nachvollziehbares Interesse daran, dass speziell mit Drogenkonsum assoziierte Praktiken nicht sichtbar gehalten werden. Was die Interviewte beklagt ist, dass Alternativen fehlen, wo solche Praktiken toleriert werden. Der Bahnhof stellt sich in den Erzählungen der Interviewten als alternativloser Aufenthaltsort, speziell für Drogenkonsumierende, dar. Allerdings sieht sie sich an diesem Ort mit der zwar nachvollziehbaren, aber auch unumgänglichen Kontrolle ihres Verhaltens und ihrer Person ausgesetzt.
IP 3 „Ja durch die Polizei nä, und die- die Durchsuchungen halt, das wir uns da nicht aufhalten sollen, und nicht so viel getrunken werden soll (.) öffentlich; dann ging es um die BSAG; ja, immer verschieden, mal so mal so, dann geht‘s um Kinder und Normalbürger, dann hier die Dealereien, die stattfinden zwischendurch; also man wird immer vertrieben praktisch, nä; mal da, mal da;“
I „Du hast gerade gesagt Normalbürger, wie-“
IP 3 „Ja, die normal arbeiten gehen und damit nichts zu tun haben hier nä; //ja// für die ist das schwierig zu verstehen, glaube ich, mit der Sucht und warum man sich auch hier aufhält;“
Die Grenze, die im Sicherheitsprogramm Bremer Hauptbahnhof zwischen den Menschen in prekären Lebenssituationen und der Normalbevölkerung gezogen wird, ist in der Erzählung der Interviewten ebenso präsent. Die Positionierung in der sozialen Ordnung als verworfenes und problematisches Subjekt wird nicht kritisiert, sondern als legitim angenommen. Einen Ausweg aus dieser konflikthaften Position erscheint in diesem, wie auch den anderen Interviews, nicht.
IP 4 „Wir bewegen uns immer so am Rande der Legalität (..) immer so am Rande der Legalität, das musst du ja auch mal bedenken //ja// und zwar weil man sich als Opfer der Gesellschaft sieht, weil du- wenn du das Bruttosozialprodukt ( ) oder für das Bruttosozialprodukt nichts tust, dann bist du auch in der Gesellschaft nicht gern gesehen;“
Pointiert erläutert ein weiterer Interviewpartner diese Situation. Das Gefühl „Opfer der Gesellschaft“ zu sein wird mit der fehlenden Wertschöpfung durch Berufstätigkeit in Verbindung gebracht. Diese führt daraufhin zur Abwertung „in der Gesellschaft“ und zur eigenen Stellung am „Rande der Legalität“. Der Blick der Anderen erscheint omnipräsent und markiert die Interviewten als Außenstehende der akzeptablen und legitimen (räumlichen) Ordnung.
IP 3 „Wie macht sich das bemerkbar; erst mal das äh viele dann sich hier gar nicht mehr aufhalten, oder nicht lange, und sich gleich nach Hause verpissen, nä; weil wir standen ja auch da drüben und wurden durchsucht; ja haben sie auch gefragt „habt ihr was dabei“; nee haben wir nicht ((lacht)); ja weil irgendjemand angeblich gesehen hätte wie wir dreimal 'n Stück zurückgegangen sind; haben sie wohl gedacht, dass wir da irgendwas machen, dabei haben wir halt 'ne Zigarette gedreht und ja;“
Bekannte der Interviewten suchen aufgrund dieser Beobachtungssituation und ihrer Folgen den Bahnhof und sein Umfeld nur noch kurz auf. Aus der folgenden Erzählung erschließt sich die Sicht der Interviewten, dass sie durch eigentlich unverfängliche Handlungen zum Objekt von Kontrolle wird. Ihre Position als Verdächtige im öffentlichen Raum erscheint aus dieser Perspektive festgeschrieben.
IP 2 „Das ist quasi, das ist wie Schach, du hast zwei Seiten und wer denkt voraus, das (..) ich will das jetzt nicht bagatellisieren das ist natürlich kein Spiel, aber es läuft äh ab mit zwei Parteien die sich gegenseitig immer einen Schritt voraus sein wollen und das ist ja bei Schach explizit der Fall (.) wenn du schlau bist zwei drei Schritte, wenn du richtig gut bist dann, hast das Spiel schon nä vorm inneren Auge;“
Den Alltag am Hauptbahnhof beschreibend, nutzt der Interviewte das Bild des Schachspiels, um das eigene und das Handeln der Polizei zu beschreiben. Seine Aneignung des öffentlichen Raums ist bestimmt durch einen taktischen Zugang und die konstante Überlegung, wie er sich wo verhalten sollte, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Das „Spiel“ will er dabei nicht verharmlosen, denn die Einsätze sind teils hoch. Die Notwendigkeit die Ordnung des öffentlichen Raums vor dem Hintergrund seiner Positionierung als problematisches Subjekt zu bedenken und sein Verhalten daran auszurichten, stellt einen integralen Bestandteil seines Aufenthaltes am Hauptbahnhof dar.
Ein wiederkehrendes Thema in den Erzählungen der Interviewten stellt die Forderung oder der Wunsch nach einer bahnhofsnahen Rückzugsmöglichkeit dar.
IP 4 „Nein, nicht wo man sonst trinken kann, wo man sonst äh sich aufhalten kann, ohne dass man- (.) ohne dass man irgendwie jemanden stört; //ok// du kannst nicht in den Bürgerpark, dann störst du die Anlieger; hier (AWD)-Arena, kannst du auch nicht, weil da ständig Veranstaltungen sind; //ja// also es bleibt nicht viel- (.) viel Freiraum (übrig)“
Dabei geht es nicht ausschließlich um den Konsum von Drogen oder Alkohol, sondern grundlegender um eine Möglichkeit des Aufenthaltes ohne zu stören. Der durch die Innere Mission betriebene Szenetreff, der im Sicherheitsprogramm Bremer Hauptbahnhof als dislozierte, alternative Aufenthaltsmöglichkeit für die problematisch markierten Subjekte beschrieben wird, taucht in den Interviews mehrheitlich auf.
IP 3 „Genau, so was wie hier; erst wollte ich hier auch nicht rein; ((lacht)) bin ich ja ehrlich, nä; hab gedacht, um Gottes Willen, hier gehe ich nicht rein nä; aber mittlerweile finde ich das sehr gut; auch mit den Sozialarbeitern sind total nett, finde ich richtig gut;“
Eine anfängliche Skepsis ist bei der Interviewten der Aneignung des Szenetreffs als alternativem Aufenthaltsort gewichen. Im weiteren Verlauf des Interviews zeigt sich zwar, dass sie die Verortung des Szenetreffs als suboptimal bewertet, aber die relative Ruhe auch in Bezug auf Kontrollen schätzt. Allerdings wird ihre Bewertung des Treffs nicht von allen Interviewten geteilt.
IP 1 „Da hat man dann für, weiß ich nicht wieviel, zigtausende Euros, unter der Brücke, da irgendso ein Ding hingebaut, gepflastert äh Holzbretter auf den Beton geschraubt und äh, die Leute in so 'n Käfig gezwängt nä, wie so- so Affen im Zoo;“ […] „Ne also ehrlich; da hätte man uns im Zoo auch 'n Platz zuweisen können, nä, irgendwie (..) ich glaube Bremen hat gar keinen Zoo, hätten ja mal einen Zoo aufbauen können ((lacht)) anstatt Vogelpark, Junkiepark; ((lacht)) //ok// mit Futterstation;“
Die Assoziationskette des Interviewten verdeutlicht, was er von dem Szenetreff hält. Die vergitterte Fassade und die Zuweisung widerstreben ihm. Der Szenetreff gewinnt in dieser Beschreibung die Qualitäten eines Geheges, in das diejenigen eingepfercht werden, die draußen nichts zu suchen haben. Hinzu kommt der Aspekt der Außenwahrnehmung, die diejenigen trifft, welche sich im Szenetreff aufhalten.
I „Dann wurde ja noch der Szenetreff aufgemacht; nutzt du den?“
IP 2 „Den Käfig;“
I „Ja, das wird der Käfig genannt, das habe ich schon mitgekriegt;“
IP 2 „Alles kriegt seinen Namen so, das is- (..) hat den Namen Käfig glaube ich schon; also das ist jetzt nicht so, dass es irgendwie, das ist ein Käfig; du warst ja auch dort drin, und es fühlt sich auch so an wie n Käfig wenn du drin sitzt; und wenn du von außen dran vorbeifährst und du die Leute siehst dann sind das die im Käfig;“
Wer sich im „Käfig“ aufhält ist durch diese räumliche Konstruktion von der Außenwelt getrennt. Das Gefühl des Einschlusses dokumentiert sich auch in der Beschreibung des zweiten Interviewpartners. Die physische Form dieses trennenden und ordnenden Eingriffs in die räumliche Ordnung kulminiert in dem Namen, welcher dem Szenetreff gegeben wird. Der Käfig markiert den Vollzug der im Sicherheitsprogramm angelegten Trennung der unterschiedlichen Nutzer*innengruppen des öffentlichen Raums durch seine Segmentierung in zugewiesene Flächen des jeweils akzeptablen Aufenthaltes.
IP 1 „Weil äh jeder weiß irgendwann, das ist der Drogenplatz, alle die da rein und rausgehen sind drogensüchtig //ja// so, manche trinken da nur ihr Bier, haben mit Drogen gar nichts zu tun;“
Die mit dem Szenetreff verbundene Bedeutung steht dabei in Wechselwirkung zu den Zuschreibungen, welchen sich seine Nutzer*innen ausgesetzt sehen. Die materielle und symbolische Konstruktion des Raumes verhilft der Positionierung der problematisierten Subjekte zur Realisierung und schreibt eine lokale Ordnung fort. Womit sich letztlich die Wahl stellt, die zugewiesenen Positionen anzunehmen oder mit den Konsequenzen zu leben, sollte sich dieses ordnenden Zugriffs widersetzt werden.
5. Abschließendes Fazit
Vor dem Hintergrund des beschriebenen Aufwertungsdispositivs erscheinen gewisse Personenkategorien als Störfaktoren einer lokalen, räumlichen Ordnung. Der „bedrohte Raum“ (Belina 1999: 60), bedroht in seiner Sicherheit und Sauberkeit, bedroht in seiner Funktionalität als Eingangstor und Aushängeschild der Innenstadt, bildet dabei den Ausgangspunkt einer Logik, die in der städtischen Welt des Überflusses ein quasi Überflüssiges hervorbringt (Krasmann/de Marinis 1997: 164). Die Konstitution dieser Gruppe als Gegenstand und Zielscheibe von Regulierung, Kontrolle und Regierung in den lokalen, räumlichen Anordnungen stellt sich aus dispositiv- und subjektivierungsanalytischer Perspektive als Subjektpositionierung dar, wobei der somit konstruierte Idealzustand dieser Individuen letztlich in ihrer Unauffälligkeit, Unsichtbarkeit oder ausbleibenden Anwesenheit liegen würde.
Dabei interessierte vor allem die Übersetzungsarbeit (Bröckling 2007: 40; Geimer 2013: 102), welche die so Problematisierten zwischen einer normativen Subjektpositionierung und ihrer Selbsterfahrung und -thematisierung und ihrer praktischen, räumlichen Verortung im Bahnhofsumfeld leisten. Diese Praktiken des Verhaltens und der (Selbst-)Erkenntnis als Subjektivierungsweisen zu begreifen und empirisch zu identifizieren, erweitert somit eine diskurs- oder gouvernementalitätsanalytische Perspektive (Alkemeyer/Villa 2010; Bosan?i? 2019a) und führt letztlich zu einem besseren Verständnis einer lokalen Mikrophysik der Macht (Foucault 1976)
Im vorliegenden Setting manifestiert sich dieses Spannungsverhältnis mitnichten nur in den Erzählungen oder Beschreibungen von polizeilichen Kontrollen. Der Problematisierung durch mediale Diskurse oder das Sicherheitsprogramm Bremer Hauptbahnhof steht eine spezifische Form der Selbstthematisierung gegenüber. Die Interviewten verstehen sich selbst als Störfaktor, als Andere einer gesellschaftlichen Normalität. Die Adressierung als problematisches Subjekt erscheint in den Erzählungen der Interviewten als zum Teil internalisierter Prozess, welcher das Spannungsverhältnis zwischen individuellem Sein und Subjektnorm auf die Betroffenen selbst zurückwirft. „Wir können uns an symbolischen Ordnungen ebenso die Köpfe einrennen, wie an der Materialität einer Wand.“ (Keller 2016: 59)
Die Problematisierten erfahren sich vor diesem Hintergrund selbst als die Randständigen einer räumlichen Ordnung legitimen Seins. Ein Verschwinden aus der räumlichen Ordnung ist den Interviewten aber nicht möglich, beziehungsweise nicht denkbar. Alternative Aufenthaltsorte, wie der Szenetreff, stellen für sie entweder Orte weiterer Stigmatisierung und/oder nur begrenzte Schutz- und Rückzugsräume dar.
Arbeiten, wie die hier vorgelegte, können als sozialräumliche Reflexionen dienen und im „[…] Verständnis von Kritik als Problematisierung […]“ (Bröckling/Krasmann 2010: 37) als eine Problematisierung der Problematisierungen begriffen werden. Die Deutungskämpfe, die um das im öffentlichen Raum Gewünschte und Ungewünschte, mithin des legitimen und illegitimen Seins, ausgetragen werden, betreffen schlussendlich Individuen, die sich zu diesen normativen Anforderungen an ihre Existenz verhalten müssen. Die Ergebnisse dieser Arbeit deuten darauf hin, dass die so an den Rand Verwiesenen, ohne die Mittel oder Möglichkeiten, sich einen anderen Ort anzueignen, letztlich nichts anderes zu tun haben, als diese fragile Positionierung auszuhalten.
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Zitiervorschlag
Seidel, Felix (2021): Die Unmöglichkeit, nicht nicht da zu sein – Eine Rekonstruktion von Subjektivierungsweisen problematisierter Menschen im öffentlichen Raum um den Bremer Hauptbahnhof. In: sozialraum.de (13) Ausgabe 2/2021. URL: https://www.sozialraum.de/die-unmoeglichkeit-nicht-nicht-da-zu-sein.php, Datum des Zugriffs: 21.12.2024