Realisierung und Nutzen sozialraumorientierter Schulsozialarbeit in Baden-Württemberg

Ergebnisse aus den Forschungsprojekten SOSSA und SOSSA_SEK

Andreas Karl Gschwind, Mirjana Zipperle, Katharina Baur

1 Einleitung: Fachliche Weiterentwicklung und das Konzept einer sozialraumorientierten SchuIsozialarbeit

Die Entwicklung und fachliche Positionierung der Schulsozialarbeit wird in der Fachpraxis und Fachliteratur seit längerem diskutiert (vgl. Speck 2022; Zipperle/Rahn 2020; Stüwe/Ermel/Haupt 2015). Dies gilt insbesondere hinsichtlich des aus dem SGB VIII abgeleiteten sozialpädagogischen Jugendhilfeauftrags, der am Ort Schule zu erbringen ist. In Baden-Württemberg fand – wie bundesweit – im letzten Jahrzehnt ein enormer Ausbau der Schulsozialarbeit statt: Die Zahl der Fachkräfte der Schulsozialarbeit sowie die Vollzeitstellen haben sich mehr als verdoppelt, die Landesförderung der Schulsozialarbeit hat sich nahezu verdreifacht (vgl. KVJS 2022, S. 7). Zu fragen ist bei dieser Entwicklung, wie es der Schulsozialarbeit gelingen kann, sich am besonderen Arbeitsort Schule als sozialpädagogisches Angebot zu etablieren, das sich zugleich in das System Schule strukturell integriert und sich fachlich immer wieder davon abgrenzt.

Im Diskurs wird schon seit mehreren Jahren erörtert, ob mit dem Konzept einer sozialraumorientierten SchuIsozialarbeit die Stabilisierung des fachlichen Auftrags und sinnvolle Weiterentwicklung der Schulsozialarbeit vorangebracht werden könnte (vgl. Zipperle et al. 2022a; Deinet/Icking 2019; Deinet 2016; Deinet/Nelke 2015; Reutlinger/Sommer 2011; Bolay/Flad/Gutbrod 2003). Allerdings wächst damit auch der Anspruch an die (Schaffung von) veränderten Rahmenbedingungen, um sozialraumorientiert arbeiten zu können. Im Kern geht es in dieser Debatte um die Professionalisierung und Positionierung von Schulsozialarbeit als Jugendhilfeangebot am Ort Schule und damit verbundene Strukturfragen (vgl. Spies 2013; Speck/Olk 2010; Zankl 2017). Daher scheint eine Selbstvergewisserung bezüglich fachlicher Standards und Rahmenbedingungen notwendig zu sein, wenn eine „zu starke Abhängigkeit von der Schule“ (Hollenstein/Nieslony 2016, S. 293), eine fehlende „Profilschärfe“ beziehungsweise ein „Anything goes“ (Meinunger 2016) sowie zunehmende „Spezialisierungen und Verkürzungen“ (Bolay/Iser 2016, S. 151) diagnostiziert werden.

Weitgehend unumstritten ist, dass Schulsozialarbeit als Jugendhilfeangebot am Ort Schule für die Unterstützung von Kindern und Jugendlichen bei ihren schulischen und außerschulischen Bewältigungsaufgaben zuständig ist. Damit kommt eine generalistische Zuständigkeit der Schulsozialarbeit für ermöglichende als auch problembezogene Unterstützungsleistungen zum Ausdruck, die nicht durch spezifische vom Schul- oder Jugendhilfesystem zugewiesene Aufgaben enggeführt wird (vgl. Zipperle et al. 2022a, S. 12). Schulsozialarbeit muss außerschulische Bezüge herstellen, um überhaupt im Sinne der auftraggebenden Jugendhilfe wirksam arbeiten zu können. Die zentrale Frage für die nachfolgend beschriebenen Forschungsprojekte war daher, ob und wie (zufällig, situativ oder fachlich geplant und systematisch abgesichert) Sozialraumorientierung realisiert wird.

Zur Erfassung dessen, was Sozialraumorientierung ausmacht, wurde in den Projekten auf den relationalen Sozialraumbegriff (vgl. Kessl/Reutlinger 2010, S. 249f., 2022, S. 10ff.) zurückgegriffen: Demnach steht die materielle Welt des Sozialraums in einem wechselseitigen Verhältnis zu einer subjektiven Deutungs- und Beziehungswelt (vgl. Abb. 1). Schulsozialarbeit folgt danach einem weitgehenden fachlichen Anspruch, wenn sie die Lebenswelt der Adressat*innen in ihren sozialräumlichen Bezügen umfassend und systematisch in den Blick nimmt, die Bedingungen analysiert und sich selbst als aktive Gestalterin sozialer Zusammenhänge begreift (vgl. Zipperle et al. 2022a, S. 17f.).

Sozialraumbegriff nach Kessl und Reutlinger

Abbildung 1: Sozialraumbegriff nach Kessl und Reutlinger (2010, 2022)

Für Schulsozialarbeit stellt sich deshalb die Frage, welche Angebote an welchen Erbringungsorten fachlich geboten sind, um für Kinder und Jugendliche bei deren schul-, lebenswelt- und entwicklungsspezifischen Bewältigungsanforderungen einen Nutzen zu generieren. Grundlegend sind hierfür die jeweiligen Rahmenbedingungen der Schulsozialarbeit von Relevanz, weshalb diese in den Mittelpunkt des Beitrags gestellt werden. Insbesondere wird gefragt, welche Rahmenbedingungen notwendig sind, um mit sozialraumorientierten Unterstützungsstrukturen für Jugendliche einen Nutzen zu generieren.

Nach einem Blick auf die Anlage der Forschungsprojekte SOSSA und SOSSA_SEK (2) betrachten wir Rahmenbedingungen (3) als vorfindbares Verständnis von Sozialraumorientierung, als Strukturbedingungen und als Bedingungsgefüge aus Verantwortungsübernahmen relevanter Akteure. Im Weiteren werden empirische Ergebnisse zur sozialräumlichen Praxis von Schulsozialarbeitenden dargelegt (4) und Erkenntnisse zum potenziellen Nutzen sozialraumorientierter Praxen diskutiert (5) – für die Schulsozialarbeit, für die Träger der Schulsozialarbeit, für Kommunen und für Adressat*innen. Der Beitrag schließt mit einer Schlussbewertung und kritischen Würdigung der Ergebnisse (6) unter dem Blickwinkel, welche Entwicklungspotenziale sich daraus für das Arbeitsfeld Schulsozialarbeit ergeben.

2 Anlage der Forschungsprojekte

Im Rahmen von zwei Forschungsprojekten der Universität Tübingen im Auftrag des KVJS (Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg) richtete sich der Blick auf sozialraumorientierte Ansätze in der Schulsozialarbeit, um zu verstehen, ob und wie diese Schulsozialarbeit darin stärken, ihren sozialpädagogischen, umfassenden Auftrag besser oder anders umzusetzen. Von 2017 bis 2018 wurde das Forschungsprojekt „Schulsozialarbeit in Baden-Württemberg – sozialraumorientierte Konzepte und ihre Wirkung (SOSSA)“ an Grundschulen durchgeführt (vgl. Zipperle et al. 2018); von 2019 bis 2022 das Forschungsprojekt „Sozialraumorientierte Schulsozialarbeit an Sekundarschulen in Baden-Württemberg (SOSSA_SEK)“ in der Sekundarstufe I (vgl. Zipperle et al. 2022a). In beiden Forschungsprojekten standen die Analyse der Praxen, Rahmenbedingungen und des Nutzens bereits realisierter Konzepte der Sozialraumorientierung in der Schulsozialarbeit im Mittelpunkt. In diesem Beitrag werden insbesondere die Ergebnisse des umfassenderen SOSSA_SEK-Projekts vorgestellt.

Im Rahmen von SOSSA_SEK wurden kriteriengeleitet 14 Standorte der Schulsozialarbeit in zehn Kommunen in Baden-Württemberg ausgewählt (vgl. Zipperle et al. 2022a, S. 23ff.) [1]. Zentrale Voraussetzung für die Teilnahme an der Untersuchung war die etablierte konzeptionelle Verankerung von Sozialraumorientierung beim jeweiligen Träger der Schulsozialarbeit. Als weitere Auswahlkriterien wurden die ausgewogene Repräsentation der Sekundarschularten Gymnasium, Realschule, Gemeinschaftsschule, Werkrealschule und ein Schulzentrum, die ländliche oder (groß)städtische Prägung der Kommunen, verschiedene Stellenstrukturen sowie die freie oder öffentliche Jugendhilfeträgerschaft der Schulsozialarbeit berücksichtigt.

Das Forschungsdesign setzt sich zusammen aus einer Analyse von Dokumenten aus den Forschungsstandorten, qualitativen leitfadengestützten Interviews mit den Fachkräften der Schulsozialarbeit (vgl. Helfferich 2011, S. 162ff., 176ff.), multiperspektivischen Gruppendiskussionen an den Untersuchungsstandorten mit für die Schulsozialarbeit relevanten Akteuren (Trägervertretungen, Schulleitungen, kommunale Vertretungen, Kooperationspartner) sowie abschließend standortübergreifenden Fokusgruppendiskussionen mit ausgewählten Akteuren aus diesen Gruppen. Im Projekt SOSSA_SEK wurden diese Erhebungen flankiert durch eine quantitative Schüler*innenbefragung und qualitative Nutzer*innen-Workshops an den Standorten, um die Perspektiven der Jugendlichen zu erfassen (vgl. Zipperle et al. 2022a, S. 27ff.; Baur et al. 2023, S. 121-131). Außerdem wurde in SOSSA_SEK zusätzlich eine landesweite quantitative Trägerbefragung durchgeführt (vgl. Zipperle et al. 2022b).

Das aus den Fachkräfteinterviews (FKI) und Gruppendiskussionen (GD) gewonnene empirische Material, das wir mit Hilfe eines codierenden Verfahrens inhaltsanalytisch ausgewertet haben (vgl. Mayring 2015) sowie die Auswertung der Schüler*innenbefragung und der Nutzer*innen-Workshops bilden die Basis für die Beantwortung der Fragestellung in diesem Beitrag nach dem Nutzen und dafür erforderlichen Rahmenbedingungen für die Realisierung von sozialraumorientierter Schulsozialarbeit.

3 Relevante Rahmenbedingungen sozialraumorientierter Schulsozialarbeit

Die relevanten Rahmenbedingungen für die Realisierung sozialraumorientierter Ansätze finden sich auf unterschiedlichen Ebenen und wurden von uns als ein komplexes Bedingungsgefüge (siehe Abschnitt 3.3) analysiert. Im Folgenden werden zentrale Elemente dieser verschiedenen Rahmenbedingungen beleuchtet.

3.1 Verständnis der Fachkräfte von Fachlichkeit und von Sozialraumorientierung

Als eine wesentliche Rahmenbedingung für die Realisierung von sozialraumorientierten Ansätzen zeigte sich in unseren Analysen das Verständnis von Fachlichkeit und von Sozialraumorientierung der Fachkräfte selbst. Diese sehen sich als Jugendhilfeangebot am Ort Schule, das vorrangig die Zielgruppe Kinder und Jugendliche adressiert und ausdrücklich die Lebenswelt und die Lebensbedingungen der Heranwachsenden und ihrer Familien mit in den Blick nimmt. Die Einzelfallhilfe prägt und hierarchisiert ihren Alltag und die Fachkräfte nutzen eigene und externe Ressourcen von Kooperationspartnern zur Unterstützung oder Weitervermittlung. Dabei unterstreicht eine Fachkraft die Wichtigkeit von „Netzwerken, die man im Sozialraum hat und die man nutzen kann für die Schule, für die Schülerinnen und Schüler. Dann ist mir noch wichtig, dass man sich anguckt, wer wohnt denn in meinem Sozialraum, was sind das für Familien.“ (FKI Friedrichshafen WRS [2], #00:29:06) Zu schaffende Anknüpfungspunkte an jugendlichen Lebenswelten und Themen beschreiben die Fachkräfte mit Redefiguren wie die „immer offene Tür“, „Räume der Begegnung“ oder „niederschwellige Zugänge“ (z.B. FKI Offenburg WRS, #00:54:22; FKI Pforzheim WRS, #02:40:37; FKI Gäufelden GMS, #02:25:00).

Wichtig ist den Fachkräften häufig ihre Positionierung als stellvertretende Anwaltschaft für die Schüler*innen. Das drückt sich dann deutlich im Einfordern von Partizipationsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen in ihren Sozialräumen aus. Schulischer und außerschulischer Raum wird hier nicht mehr scharf voneinander abgegrenzt und die Fachkräfte platzieren an diesem Übergang gezielt eigene und Kooperationsangebote. Dabei beziehen sie sich nicht nur auf Benachteiligungslagen von Heranwachsenden und ihren Familien oder nur auf Schüler*innen, sondern sie nehmen allgemein die Bedürfnisse und Interessen junger Menschen in den Blick.

Als zentral für eine derartige Haltung der Fachkräfte zeigt sich die Unterstützung durch den Träger. Von den Trägern aktiv und strategisch unterstützte Sozialraumorientierung erleichtert es den Fachkräften, diese mit ihren eigenen Vorstellungen von Fachlichkeit zu verknüpfen und als fachliche Haltung zu transportieren. Dabei kann analytisch eine mögliche Doppelsicht der Fachkräfte herausgearbeitet werden: Ihr Blick richtet sich auf ‚das Soziale‘ in seinen räumlichen Dimensionen und ‚den Raum‘ in seinen sozialen Dimensionen (vgl. Zipperle et al. 2022a, S. 42 f.). Mit diesem ‚doppelten Blick‘ erschließen die Fachkräfte sozialräumliche Ressourcen, behalten in den vielfältigen Kontexten ihrer Tätigkeit den Überblick und verschaffen sich sozialräumliche Orientierung, indem sie grundlegend wissen, was im subjektiv bedeutsamen Sozialraum der Zielgruppen gebraucht und was geboten wird. Dies scheint eine Art Richtschnur für ihr Handeln zu sein.

In den Äußerungen der Fachkräfte zu ihrem Verständnis von Sozialraumorientierung stecken auch Strategien zur Bewältigung der Anforderung, die Komplexität der Sozialräume zu ‚ihrem‘ Sozialraum zu reduzieren, um sich zu orientieren und handlungsfähig zu bleiben. Darin zeigt sich die charakteristische Ambivalenz, dass die Praxis der Fachkräfte sozial und räumlich vorstrukturiert ist, aber auch strukturierend im und auf den Sozialraum wirkt. Das heißt, die Fachkräfte finden nicht nur förderliche und hemmende Rahmenbedingungen im Sozialraum vor, sondern sie können durch ihr sozialräumliches Mitwirken auch Einfluss darauf nehmen. Orientierung wird dann ein doppeldeutiger Begriff im Sinne von ‚sich orientieren‘ und ‚Orientierung geben‘. Beide Blickwinkel sind bei den Fachkräften vorzufinden, aber an den Standorten in der Gewichtung zueinander höchst unterschiedlich.

3.2 Verständnis von Sozialraumorientierung weiterer Akteure

Wie bereits deutlich wurde, sind Fachkräfte der Schulsozialarbeit bei der Realisierung von Sozialraumorientierung auf ein Geflecht aus Bezügen zu weiteren Akteuren angewiesen. Daher ist es interessant zu erfahren, welches Verständnis von Sozialraumorientierung diese Akteure (Trägervertretungen, Schulleitungen, Vertretungen der Kommunen, Kooperationspartner) äußern. Dabei zeigt sich, dass diese Vorstellungen in erster Linie von den Funktionen und von ihrem Verhältnis zur Schulsozialarbeit bestimmt werden.

Die Schulleitungen bringen der Schulsozialarbeit eine hohe Wertschätzung entgegen. Diese wird teils stark aus ihren Möglichkeiten abgeleitet, wie sie schulische Bildung und Qualifikation mit sozialräumlichen Ressourcen unterstützen kann (z.B. GD Gaildorf, #00:25:05). An anderen Standorten steht eher ein ganzheitlicher Blick auf gesundes und gelingendes Aufwachsen verbunden mit schulischem Erfolg im Zentrum, den Schulsozialarbeit unterstützt (z.B. GD Friedrichshafen WRS, #00:59:25). Für die Schulsozialarbeit eröffnen sich dabei schon Handlungsspielräume, wenn eine Schulleitung erkennt, dass sozialräumliches Arbeiten und zuverlässige Unterstützung schulischer Aufgaben und Anforderungen einander nicht ausschließen – und sogar produktiv füreinander sein können.

Bei den Trägern der Schulsozialarbeit sind kaum Unterschiede zwischen freien und öffentlichen Trägern zu erkennen. Entscheidender ist der Rückhalt für die Fachkräfte durch den Träger und dessen eigene konzeptionelle und etablierte sozialräumliche Ausrichtung. Ist das gegeben, kann eine Fachkraft sagen, dass „wir auch mit verantwortlich für einen hoffentlich guten Ort zum Aufwachsen“ sind (GD Holzgerlingen, #00:09:55). In den Gruppendiskussionen zeigen nicht alle Träger oder Kommunen gleichermaßen Interesse an einer Entwicklung der Jugendhilfeinfrastruktur durch sozialraumorientierte Ansätze. Dann wird die Kompetenz und Verantwortung für sozialräumliches Arbeiten in der Person der Fachkräfte gebündelt und bleibt entkoppelt von jugendhilfebezogenen Gestaltungs- und Entscheidungsstrukturen, die Entwicklungen in der gesamten Kommune betreffen. Die Fachkräfte können jedoch eine fehlende fachliche Positionierung des Trägers kaum kompensieren und sozialräumliche Ansätze bleiben an diesen Standorten dann weit unter ihren Möglichkeiten.

Die Kooperationspartner der Schulsozialarbeit sehen in Vernetzungen eine bedeutsame Stütze für ihr Verständnis von Sozialraumorientierung. Für sie ist Schulsozialarbeit ein Ansprechpartner, der ihnen Zugänge zur Schule und den Schüler*innen Zugänge zu ihren Angeboten eröffnet. Für die Schulsozialarbeit ermöglicht die Kooperation mit sozialräumlich agierenden Partnern, die präventiv ausgerichtete und freizeitbezogene Aktivitäten bieten, eine Stärkung ihres Profils jenseits der Feuerwehrfunktion. Bisweilen wurden rein bilaterale Bezüge zwischen Kooperationspartnern und Schulsozialarbeit als zu wenig tragfähig erkannt. Das deutet darauf hin, dass das Verständnis von Sozialraumorientierung für die meisten (institutionellen) Partner mehr bedeutet als Kooperation. Dazu bemerkt beispielsweise eine ASD-Fachkraft: „Ich glaube, man müsste sich noch mehr vernetzen, dass man wirklich an diesen Punkt kommt, wo diese Synergie so zum Tragen kommt, ja, das glaube ich, dass da noch Luft nach oben wär […].“ (GD Friedrichshafen WRS, #00:57:10).

3.3 Die Realisierung von Sozialraumorientierung – ein Bedingungsgefüge

Bei der Analyse der verschiedenen Standortkriterien zeigte sich deutlich, dass die Rahmenbedingungen für sozialraumorientierte Schulsozialarbeit miteinander verschränkt sind und von der Praxis dynamisch strukturiert werden, weshalb wir diese mit der Figur eines ‚lokalen Bedingungsgefüges‘ beschreiben. Zentral in dieser Figur ist die Notwendigkeit einer gemeinsamen Verantwortungsübernahme relevanter Akteure für sozialraumorientierte Schulsozialarbeit.

Größe der Kommunen, Schularten und Stellenstrukturen

Die Fachkräfte der Schulsozialarbeit verfolgen sehr unterschiedliche Strategien der Umsetzung von Sozialraumorientierung, abhängig davon, ob sie im städtischen oder ländlichen Raum agieren. Die dichtere Jugendhilfeinfrastruktur in Städten auf der einen und die Schulsozialarbeit im ländlichen Raum als (manchmal) einzige professionelle Fachkraft auf der anderen Seite haben unmittelbaren Einfluss darauf, wie Schulsozialarbeitende ihre sozialraumorientierte Praxis ausrichten (können). Das Wissen um verschiedene Sozialräume ermöglicht der Schulsozialarbeit ein strategisches Handeln, um Kleinräumigkeit – im Sinne von Nähe zu den außerschulischen Lebenswelten der Jugendlichen – herzustellen und so die mit Entfernungen einhergehenden Herausforderungen jugendlicher Raumaneignung produktiv mitzugestalten.

Ebenso bedingt die jeweilige Schulart die sozialräumliche Praxis der Fachkräfte. Den Besuch einer Schulart beeinflussen durch gesellschaftliche Ungleichheitsstrukturen hervorgebrachte verschiedene Milieus mit unterschiedlichen Freizeitinteressen und -möglichkeiten, an die Schulsozialarbeit ihre Angebote anpasst. Das Wissen um die unterschiedlichen Bedingungen des Aufwachsens und die damit verbundenen Biografien, Interessenslagen und Sozialräume sind daher zentral für die Gestaltung lebensweltnaher und schulartspezifischer sozialräumlicher Praxen. Auch die unterschiedlichen Bildungsziele und die variierenden Stellenstrukturen an den Schularten (z.B. ein historisch gewachsener, tendenziell günstigerer Personalschlüssel an Werkrealschulen) erzeugen eine schulartspezifische Schulsozialarbeitspraxis – bei gleichzeitiger Orientierung an einem gemeinsamen fachlichen Verständnis von Schulsozialarbeit an allen Schularten.

Die Untersuchungen der strukturellen (Stellen-)Bedingungen zeigen, dass für sozialraumorientiertes Arbeiten ausreichend Kapazitäten notwendig sind. Um sozialräumliche Ansätze in der Schulsozialarbeit umsetzen zu können, müssen sie integrierter Teil der täglichen Praxis sein. Die Jahre der Etablierung der Schulsozialarbeit und geringe Personalfluktuation begünstigen den Beziehungsaufbau in alle Richtungen. Weiter braucht es unter Federführung des Trägers einen systematisch-reflexiven standortspezifischen Austausch zu notwendigen Stellengestaltungen. Eine Teamanbindung kann schließlich helfen, den Status der Schulsozialarbeit als Einzelkämpferin aufzuheben, Sozialraumwissen auszutauschen und sozialraumorientierte Arbeit gemeinsam umzusetzen.

Rahmenbedingungen als kommunales Bedingungsgefüge

Von zentraler Bedeutung für die Realisierung sozialraumorientierter Schulsozialarbeit sind, neben den oben bereits erwähnten strukturellen Voraussetzungen, die für Schulsozialarbeit relevanten Akteure, deren Verständigung miteinander und deren bewusste und gewollte Verantwortungsübernahme. Das ist in höchstem Maße voraussetzungs- und anspruchsvoll, weil es auch zeigt, dass Schulsozialarbeit allein Sozialraumorientierung nicht umsetzen kann. An Untersuchungsstandorten, wo solch ein Geflecht von verantwortlichen Akteuren nicht gegeben war, konnte von den Schulsozialarbeitenden zwar eine sozialräumliche Praxis realisiert werden, die aber stark limitiert blieb.

Bedingungsgefüge und Verantwortungsübernahme für Rahmenbedingungen

Abbildung 2: Bedingungsgefüge und Verantwortungsübernahme für Rahmenbedingungen (Quelle: Eigene Darstellung)

Eine in den Gruppendiskussionen immer wieder auftauchende Redefigur ist ‚es muss gewollt sein‘, was als Hinweis auf die Haltung und das Werteverständnis der Akteure verstanden werden kann. Das bedeutet verdichtet formuliert: Die Unterstützung von Kindern und Jugendlichen als Auf- und Heranwachsende in ihrer gesunden, individuellen und sozialen Entwicklung wird über schulische Belange und Bewältigungsanforderungen hinaus am Zielhorizont der ‚Optimierung der Bedingungen des Aufwachsens‘ ausgerichtet. Das in der Abbildung 2 dargestellte Bedingungsgefüge stellt ein aus dem empirischen Material abgeleitetes, optimales Zusammenwirken dar, das wir in keinem Untersuchungsstandort so vorgefunden haben. Wo aber Akteure diesem Bild möglichst nahekamen, konnte auch eine gelingendere Realisierung von Sozialraumorientierung festgestellt werden.

Das optimale Zusammenwirken lässt sich entlang der Abbildung 2 folgendermaßen beschreiben: Die Fachkraft im Mittelpunkt eignet sich ein reflexiv-sozialräumliches Selbstverständnis als fachliche Hintergrundfolie an, sie kennt den Sozialraum, versucht sich dort zu etablieren, wirkt in Team- und Gremienstrukturen mit und bezieht sozialräumliche Ressourcen systematisch in ihre Arbeit ein. Der Träger sichert strukturell und fachlich sozialraumorientierte Schulsozialarbeit ab und bietet der Fachkraft Rückhalt. Schulleitungen und Lehrkräfte fördern sozialraumorientierte Ansätze, indem sie bereit sind, sich zu dafür zu öffnen, die fachliche Eigenständigkeit der Schulsozialarbeit anzuerkennen und sie mit diesem Profil in schulische Strukturen einzubinden, ohne sie dafür zu vereinnahmen. Die Kommunalverwaltung (inklusive Politik und Infrastrukturverantwortung) zeigt als weitere wichtige Rahmenbedingung ein systematisches Interesse an einer jugendorientierten Strukturentwicklung in der Kommune. Die vielfältigen Kooperationspartner (kommunale Organe, Jugendhilfe, Zivilgesellschaft) zeigen schließlich Offenheit und Bereitschaft für Allianzen und Vernetzungen mit sozialraumorientierter Schulsozialarbeit.

Ein vielseitiges und vielfältiges Kooperationsfeld im Sozialraum, in dem Partner zur Mitwirkung bei der Umsetzung sozialräumlicher Ansätze gewonnen und Allianzen geschmiedet werden können, scheint ein Schlüssel für gelingende Realisierungen zu sein. Von großer Wichtigkeit ist dabei, über den Zielhorizont der gemeinsamen Verantwortung für das Aufwachsen eine Motivation bei den relevanten Akteuren zu erzeugen, sozialraumorientierte Ansätze in der Schulsozialarbeit zu unterstützen und zudem Verantwortung im und über den eigenen Zuständigkeitsbereich hinaus zu übernehmen.

4 Einblicke in die sozialraumorientierte Praxis der Fachkräfte

4.1 Sozialräume im Blick – Analyse und Erkenntnisse

Bevor Einblicke in die Erkenntnisse zu den realisierten sozialräumlichen Praxen der Fachkräfte gegeben werden, möchten wir an dieser Stelle exemplarisch die Anwendung der Nadelmethode zur Sozialraumanalyse vorstellen, die wir auch für unsere Erhebungen genutzt haben. Dies soll auch dazu einladen, mit solchen Methoden die eigene Praxis zu reflektieren und daraus Erkenntnisse zu eigenen Sozialraumbezügen in der täglichen Arbeit zu gewinnen (vgl. Zipperle et al. 2022a, S. 204-219).

Nadelmethode mit Fachkräften

Für die Analyse von Kooperationsbezügen der Fachkräfte haben wir in den Interviews den Fachkräften mit Landkartenausschnitten die Möglichkeit geboten, relevante Orte, Kooperationen, sozialräumliche Bezugspunkte und Beziehungen zu markieren (vgl. Spatscheck/Wolf-Ostermann 2016). Dabei war es uns wichtig, dass neben institutionellen Kooperationen im außerschulischen Raum auch Kenntnisse der Fachkräfte über bedeutsame Orte für Jugendliche sichtbar werden, also Orte des bevorzugten Aufenthalts ebenso wie Orte, die gemieden werden oder Angst auslösen. Eine solche Karte eröffnet den Blick (a) auf die räumliche Anordnung von relevanten Bezugspunkten, (b) auf die Art und Weise, wo und wie sozialräumliche Ressourcen erschlossen werden konnten, und (c) wie die Fachkräfte ‚ihren Sozialraum‘ kennzeichnen. Der geografische Überblick ermöglicht es, im Gespräch Qualitäten von Kooperationsbeziehungen und Sozialräumen zu erkennen, eventuelle Lücken sichtbar zu machen und Raumdeutungen der Adressat*innen, die den Fachkräften bekannt sind, festzuhalten.

Nadelmethode Filderstadt GYM

Abbildung 3: Nadelmethode Filderstadt GYM (Quelle: Eigene Darstellung)

Eine zentrale Erkenntnis bei der Analyse der Nadelmethode über die Untersuchungsstandorte hinweg ist, dass der subjektiv markierte ‚Sozialraum der Fachkräfte‘ als Aktions- und Bezugsraum den Rahmen für ihre Aufgabenerfüllung setzt. Die Sozialräume der Fachkräfte können analytisch in zwei Perspektiven auf Sozialraum differenziert werden:

(1)   Ein bestimmtes Gebiet umfassende Sozialräume, die eher kompakt und kleinräumig im schulischen Umfeld Areale einbeziehen oder abgrenzen (Kleinräumigkeit)

(2)   Gekoppelte beziehungsweise verschachtelte Sozialräume, das heißt Gebilde, die weitläufig mehrere Sozialräume einschließen oder miteinander verbinden (Weitläufigkeit)

Die Betrachtung der Bandbreite zwischen (1) Kleinräumigkeit und (2) Weitläufigkeit, die eine Fachkraft sowohl vorfindet als auch selbst herstellt, kann helfen, die Sozialräume der Fachkräfte, ihr Agieren sowie ihre Strategien zu verstehen und dabei zu erkennen, wie lokale Gegebenheiten und Möglichkeiten miteinander in Einklang gebracht werden. So spricht beispielsweise eine Fachkraft aus Holzgerlingen von vielen Jugendlichen aus einem weiten Einzugsgebiet, die sich nicht nur am Schulort aufhalten. Außerhalb passiert aber viel, „was sich auf die Schule auswirkt“, weshalb es relevant ist zu wissen, „was da abgeht.“ (FKI Holzgerlingen WRS, #01:35:08) Im ländlich geprägten Gäufelden verweist die Fachkraft auf die drei kleinen und separaten Sozialräume der Teilorte. Die Angebote finden teils nur in einem der Teilorte statt. Die Fachkraft sieht trotzdem die Gesamtgemeinde aus allen drei Teilorten als ‚ihren Sozialraum‘, „weil wir eigentlich versuchen, diese Linien für uns gar nicht zu ziehen.“ (FKI Gäufelden GMS, #01:37:50).

Kleinräumigkeit und Weitläufigkeit sind also für die Fachkräfte verschiedene Ausgangspunkte für die subjektive Deutung ‚ihrer‘ Sozialräume. Manche Fachkraft kam durch unsere Fragen auch ins Grübeln: „Ich merke gerade, dass ich das Drumherum gar nicht so im Blick habe.“ (FKI Gaildorf RS, #01:22:00) Gleichzeitig gelingt den Schulsozialarbeitenden damit eine Reduktion von sozialräumlicher Komplexität, die notwendig ist, um planen und handeln zu können: Das heißt, es scheint vielfach zu gelingen, Einblicke (Lebensverhältnisse der Familien, Bedingungen des Aufwachsens, Herausforderungen des Jugendalters, Entfernungen) mit einem Überblick (Angebots- und Anbieterlandschaft, Orte und Themen der Jugendlichen, schulische Anforderungen) zu verschränken.

4.2 Niveaustufen der Sozialraumorientierung

Die in den Fachkräfteinterviews geschilderte Praxis der Schulsozialarbeit lässt sich hinsichtlich der Frage, was daran ‚am Sozialraum orientiert‘ ist, in drei ‚Niveaustufen‘ differenzieren. Somit erfasst das auf Basis der empirischen Daten entstandene Modell Abstufungen der ‚Sozialraumorientierung‘ und bietet eine Operationalisierung des abstrakten Konzepts an sich. Dabei ist neben den drei Stufen auch die Unterscheidung der Ausrichtung auf die Lebenswelt der jungen Menschen und/oder das Hilfesystem und die Ressourcen ertragreich.

Niveaustufen der Sozialraumorientierung

Abbildung 4: Niveaustufen der Sozialraumorientierung (Quelle: Eigene Darstellung)

Die Schilderungen zu sozialräumlichen Praxen zeigen differenzierbare und auseinander hervorgehende Tätigkeiten, die wir anhand von Indikatoren Stufen (vgl. Abb. 4) zugeordnet haben. An Untersuchungsstandorten, an denen die Realisierung sozialräumlicher Ansätze besser gelingt, ist ein prozesshaftes und wiederkehrendes Durchlaufen der drei Stufen erkennbar. Das heißt, auf der ersten Stufe wird Sozialraumwissen ständig generiert und aktualisiert. Eine Fachkraft nutzt dieses Wissen, um den Schüler*innen zu zeigen, „es gibt jemanden, der interessiert sich für euch, in der Schule, aber auch danach, […] der gibt sich Mühe zu gucken, wo wir unseren Hobbys nachgehen können, oder wo können wir Plätze finden, wo wir uns aufhalten können“ (FKI Gäufelden GMS, #02:13:10). Auf der zweiten Stufe werden Sozialraumbezüge hergestellt, gepflegt und genutzt. Fachkräfte erhalten das Aktivierungspotenzial von Partnern, indem sie in die Partnerschaften investieren: „So haben wir die aktiviert, durch das, dass ich einfach […] jedes Jahr Minimum einmal den Kontakt gehalten [habe], auch wenn ich sie über das Jahr nicht gebraucht habe“ (FKI Filderstadt GYM, #01:29:24). Die dritte Stufe wird durch das systematische Einbeziehen des Sozialraums und den Einsatz für die Verbesserung der Bedingungen des Aufwachsens erreicht. Diese letzte Stufe kann aber nur gehalten werden, wenn die Fachkräfte und der Träger langfristig und immer wieder in die Pflege der vorangehenden Stufen investieren.

Im Sinne der gemeinsamen Zielsetzung (‚Optimierung der Bedingungen des Aufwachsens‘), zeigt sich dann, dass relevante Akteure gemeinsam und strukturell abgesichert (z.B. durch regelmäßige Arbeitstreffen) diese Ausrichtung anstreben. Eine Fachkraft stellt beispielsweise fest, „für diejenigen, die Unterstützung brauchen, haben wir ein sehr gutes Netzwerk und können dann wirklich konkret weitervermitteln und weiterverweisen und wissen genau, wo es für wen die passende Hilfe oder Unterstützung gibt.“ (FKI Gaildorf GYM, #00:12:20). Sozialraumorientierung ist also kein Zustand, sondern ein Prozess. Indem Schulsozialarbeit Kenntnisse von Lebenslagen und Lebenswelten sowie über Akteure, Kooperationspartner und Angebote im außerschulischen Raum hat, kann sie filtern, bündeln und vermitteln und lebensweltnähere Unterstützungsleistungen für junge Menschen mitgestalten.

5 Der Nutzen sozialraumorientierter Schulsozialarbeit

Nach den Einblicken in die Rahmenbedingungen und in die Praxen sozialraumorientierter Schulsozialarbeit lohnt abschließend eine genauere Untersuchung des Nutzens sozialraumorientierter Schulsozialarbeit für die Adressat*innen, die Träger der Schulsozialarbeit, die Kommunen und die Schulsozialarbeit selbst.

Die Entstehung eines Nutzens sozialraumorientierter Schulsozialarbeit folgt keinem einfachen Ursache-Wirkung-Prinzip. Wir nennen den Nutzen daher auch ‚potenziell‘, weil er erst allmählich in Strukturen ‚einwirkt‘, von allen Mitwirkenden koproduziert wird und auf die umfassende und langfristige Umsetzung sozialraumorientierter Ansätze sowie die Verantwortungsübernahme verschiedener Akteure baut. Im Quervergleich der Untersuchungsstandorte konnte ein Modell des potenziellen Nutzens sozialraumorientierter Schulsozialarbeit (vgl. Abb. 5) herausgearbeitet werden, das wesentliche Merkmale und Strukturen für das Hervorbringen eines Nutzens verdichtet (vgl. Zipperle et al. 2022a, S. 169-181). Es wird nachfolgend genauer erläutert.

Modell des potenziellen Nutzens sozialraumorientierter Schulsozialarbeit

Abbildung 5: Modell des potenziellen Nutzens sozialraumorientierter Schulsozialarbeit (Quelle: Eigene Darstellung)

5.1 Nutzen für die Adressat*innen

Die Auswertung der empirischen Daten zeigt, dass sozialraumorientiertes Handeln in der Schulsozialarbeit lebensweltnahe Zugänge zu Jugendlichen schaffen kann. Dafür realisieren Fachkräfte in niederschwelligen und zwanglosen Kontexten Vertrauens- und Beziehungsaufbau und öffnen damit eine Tür für weitere Beratung und Vermittlungen. Ein Kooperationspartner beschreibt, dass „dadurch auch ein Draht [entsteht], dass wenn es mal Probleme gibt, dass sie dann auch direkt auf die Schulsozialarbeit zugehen. Das würde ohne diese Angebote weniger passieren, weil man eher zu jemandem geht, den man schon mal gesehen hat.“ (GD Holzgerlingen, #01:03:15) Damit werden für die jungen Menschen Begegnungsmöglichkeiten jenseits schulbezogener Kontakte geschaffen, was auch gleichzeitig Schulsozialarbeit für Jugendliche als Ansprechperson attraktiver zu machen scheint. Zwar nehmen Jugendliche sozialraumorientierte Schulsozialarbeit zuerst als Teil der Schule wahr, aber die professionelle Ausgestaltung der Angebote wird von den jungen Menschen in einer anderen Qualität – lebensweltnah – erfahren (vgl. Zipperle et al. 2022a, S. 104-107).

Durch Kenntnisse über jugendliche Lebenswelten und die Lebenslagen ihrer Familien entstehen andere Möglichkeiten, Angebote entlang von Themen, Interessen und Bedarfen und aus einer anderen Perspektive sowie über schulische Bezüge hinaus den jungen Menschen zu offerieren. Damit erreichen Unterstützungsangebote Jugendliche besser und Zugänge zu Angeboten werden erleichtert. Die Jugendlichen selbst schreiben der sozialraumorientierten Praxis der Schulsozialarbeit in ihrer Wahrnehmung folgende Nutzenaspekte zu (vgl. Zipperle et al. 2022a, S. 127):

Die Ergebnisse zeigen, dass eine sozialräumliche Ausrichtung der Schulsozialarbeit das Potenzial erhöht – entgegen eventuellen Nutzungserwartungen des Systems Schule –, den fachlichen Fokus primär auf das Wohlergehen der Jugendlichen zu richten. Mit Partizipationsangeboten im kommunalen Raum, meist in strategischen Allianzen mit der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, leistet Schulsozialarbeit auch wichtige Beiträge zur Teilhabe Jugendlicher am öffentlichen Leben und zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit für Jugendbelange und Jugendleben.

5.2 Nutzen für die Träger der Schulsozialarbeit und für die Kommunen

Mit der Fachlichkeit und Kompetenz der Trägerschaft – unabhängig davon, ob öffentlich oder frei – scheint auch das Potenzial der Schulsozialarbeit zu wachsen, über sozialraumorientierte Ansätze einen Nutzen im inner- und außerschulischen Raum zu generieren. Umgekehrt zeigt sich aber auch, dass gerade Träger von der fachlichen Auseinandersetzung mit sozialräumlichen Ansätzen profitieren. Ein freier Träger in Holzgerlingen betrachtet es als „eine Energieleistung, die sozialräumliche Vernetzung immer wieder neu herzustellen […], es ist immer wieder erneut ein Arrangieren und da könnte man auch noch besser werden […], das ist kein Nebeneffekt, sondern Arbeitsinhalt.“ (GD Holzgerlingen, #00:42:55). Trägerengagement und Trägerkompetenz treten dort deutlich in Erscheinung, wo die Träger übergreifend kommunale Strukturen reflektieren, Vernetzungen auf Fachkraftebene fördern und aktiv dazu anregen oder daran mitwirken, Lücken im Unterstützungsnetz zu schließen. Davon profitieren sie schließlich auch selbst als zentraler Akteur und Motor für die Entwicklung der Jugendhilfeinfrastruktur.

Der Nutzen für eine Kommune (Verwaltung und Politik) besteht darin, dass sie mit sozialräumlicher Schulsozialarbeit Expert*innen für jugendliche Belange an der Schnittstelle zwischen inner- und außerschulischem Raum mit Zugang zu den Jugendlichen gewinnt. Damit können neue und andere Möglichkeiten von Partizipation und Teilhabe Jugendlicher geschaffen und die Entwicklung der Jugendhilfeinfrastruktur bedarfsgerechter gestaltet werden. Das zeigt sich insbesondere an raum- und arbeitsfeldübergreifenden Kooperationen der Schulsozialarbeit mit sozialräumlichen Partnern. Die Fachkraft des Jugendreferats in Filderstadt hält daher „einen ganzheitlichen Ansatz gerade mit sozialräumlichen Anteilen für sinnvoller, da sich auch die Freundeskreise der Jugendlichen nicht nur innerhalb der eigenen Schule bewegen. Ein fachlicher Zusammenschluss erweitert den eigenen Horizont […], da man Kenntnis über das hat, was sonst im Sozialraum abgeht.“ (GD Filderstadt GYM, #00:22:41). Damit können Jugendliche und Jugendleben auch als ‚Zukunft der Kommune‘ mehr ins Blickfeld kommunalpolitischer Entscheidungsträger*innen rücken.

5.3 Nutzen für die Schulsozialarbeit als Arbeitsfeld

Schulsozialarbeit kann mit der Umsetzung von Sozialraumorientierung und unterstützt von Träger und Kommune eine Profilschärfung ihres Auftrags als Jugendhilfeangebot am Ort Schule bewirken. Das ist angesichts der Herausforderungen im Alltag der Fachkräfte und aufgrund allseitiger Versuche der Vereinnahmung kein trivialer Aspekt, weil dadurch Eigenständigkeit betont und reflexiv-sozialräumliche Fachlichkeit möglich wird. Der Nutzen für die Fachkräfte liegt darin, dass sie sowohl von Adressat*innen als auch von Kooperationspartnern als kompetente und niederschwellige Ansprechpartner*innen wahrgenommen und gefragt werden. „Ich komme viel schneller dran,“ beschreibt eine Fachkraft, „also ich finde durch dieses Mitwirken beim Sozialraum, indem man andere Leute mit reinholt, geht die Arbeit einfacher von der Hand als Schulsozialarbeiterin […], deswegen denke ich, hat das schon Auswirkung, wie wir den Sozialraum gestalten, auf unsere Arbeit.“ (GD Pforzheim, #00:28:45).

Die Position als meist Einzelkämpfer*in wird von vielen Fachkräften als belastend wahrgenommen, die Einbindung in Netzwerke und Teamstrukturen hilft ihnen dabei, ihre Tätigkeit als sinnstiftend und auf ein gemeinsames Ziel gerichtet zu erleben. Die Analysen verdeutlichen, dass dort, wo ein Konzept von Sozialraumorientierung umfassend realisiert wird, Schulsozialarbeit nicht nur als Entlastung der Schule als ‚Feuerwehr in Krisen‘ wahrgenommen wird. „Schulsozialarbeit“, so eine Fachkraft, „ist nicht mehr wegzudenken, ebenso die Partner. Es ist einfach ein großes Netz, das löchrig wird, wenn jemand fehlt.“ (GD Friedrichshafen, #01:29:44) Das Arbeitsfeld Schulsozialarbeit profitiert also insgesamt von sozialräumlichen Ansätzen, weil multiprofessionelles und kollegiales Zusammenarbeiten über den Ort Schule hinaus es den Fachkräften ermöglicht, sich und ihr Arbeitsfeld zu profilieren und insbesondere den jugendhilfespezifischen Auftrag aus dem SGB VIII zu erfüllen.

6 Schlussbewertung und Ausblick

Die Forschungsprojekte SOSSA und SOSSA_SEK bieten einen tiefen Einblick in die Praxen, die Rahmenbedingungen und den Nutzen sozialraumorientierter Ansätze in der Schulsozialarbeit. Es zeigen sich allerdings deutliche Unterschiede bei den Ausprägungen, wie sozialraumorientierte Konzepte in der Praxis verankert und umgesetzt werden können. Sozialraumorientierung ist dabei kein ‚Allheilmittel‘, das Probleme – der Schulen, der Kinder und Jugendlichen und der Kommunen – auf einmal und für immer löst. Sozialraumorientierung ist – bildlich gesprochen – eher ein Klebstoff, der es einzelnen Akteuren erleichtert, sich vor dem Zielhorizont der Optimierung der Bedingungen des Aufwachsens zu verständigen und komplexe Handlungsanforderungen so zu koordinieren, dass junge Menschen in ihren verschiedenen Lebenswelten und Sozialräumen gesund und sicher heranwachsen können.

Sozialraumorientierung ist ebenso wenig ein Maßnahmenkatalog, der abgearbeitet werden kann. Sozialraumorientierung in der Schulsozialarbeit, so zeigt es unsere Forschung, ist vielmehr darauf angewiesen, dass relevante Akteure unter dem gemeinsamen Zielhorizont der Optimierung der Bedingungen des Aufwachsens reflektierend zusammenwirken. Wo diese Verantwortung von einzelnen Akteuren nicht wahrgenommen wird, können die Schulsozialarbeitenden das zwar teilweise kompensieren, aber meist um den Preis der Entgrenzung ihrer Aufgaben und mit deutlich weniger Wirkmächtigkeit. Es geht eben vor allem um das Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung – dieser Verantwortung können die relevanten Akteure kollaborativ und mit sozialräumlichen Ansätzen besser gerecht werden. Deutlich wird in der Realisierung von Sozialraumorientierung zudem, dass Schulsozialarbeit (als mittlerweile stark ausgebautes Jugendhilfeangebot) als zentraler fachlicher Akteur für die kommunale Gestaltung des Aufwachsens von jungen Menschen anerkannt und genutzt wird. Sozialraumorientierung in der Schulsozialarbeit heißt jedoch nicht, dass sich die Fachkräfte ständig im außerschulischen Raum bewegen – sie holen diesen durch ihre sozialräumliche Orientierung vielmehr in die Schule hinein oder näher an Schule heran. Durch ihr umfangreiches Sozialraumwissen machen sie Ressourcen aus dem außerschulischen Raum für Schüler*innen zugänglich und verfügbar und eröffnen Aneignungsmöglichkeiten für Angebote und Orte.

Die Untersuchungen SOSSA und SOSSA_SEK zeigen, dass ein systematisch eingeführtes und umgesetztes Konzept von Sozialraumorientierung zur Profilschärfung der Schulsozialarbeit beiträgt und dass Bezüge in den außerschulischen Raum für die Vernetzung und Mitwirkung bei der Gestaltung der Bedingungen des Aufwachsens förderlich sind. Sozialraumorientierte Ansätze sind keine zusätzliche, isolierte Aufgabe, die zu den Kernleistungen hinzukommt, sie zeigen sich vielmehr als ein Katalysator und als „fachliche Hintergrundfolie, durch welche das Potenzial von Schulsozialarbeit in allen Kernleistungsbereichen erheblich erhöht werden kann“ (Zipperle et al. 2018, S. 111 f.).

Aufwachsen, Entwicklung und Jugendleben findet ganz überwiegend im sozialen Nahraum in der Kommune statt. Daran knüpft sozialraumorientierte Schulsozialarbeit an und erschließt jungen Menschen und ihren Familien Zugänge zu Kontakten, Beratung, Hilfe, Unterstützung und Teilhabe. In den Untersuchungen wird dies als ein latent verfügbares Unterstützungsnetzwerk für Kinder und Jugendliche sichtbar. Umgekehrt ist Schulsozialarbeit durch ihren Zielgruppenzugang und ihr Sozialraumwissen ein zentraler Schlüssel, damit Kooperationsangebote bedarfsgerecht gestaltet werden und ihre Zielgruppe auch erreichen – bestenfalls präventiv und nicht nur im Akutfall. Sozialraumorientierte Schulsozialarbeit, wie wir sie in der Forschung analysiert haben, denkt und arbeitet jugendorientiert, hat sowohl helfende als auch ermöglichende Angebote im Portfolio und handelt als sozialpädagogisches Angebot erkennbar anders als Lehrkräfte. So wird sie dann auch von Jugendlichen wahrgenommen: Als Instanz, die Brücken baut und Wohlbefinden fördert. Das ist nicht unerheblich bei Tendenzen zur Verinselung und Verhäuslichung von Jugend und bei teils hoher psychischer Belastung Jugendlicher durch inner- und außerschulische Bewältigungsanforderungen.

 

Literatur

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Fußnoten

[1] Ähnliches galt für die kriteriengeleitete Standortauswahl im Vorgängerprojekt SOSSA, mit dem Fokus auf acht Grundschulen in sieben Kommunen in Baden-Württemberg (vgl. Zipperle et al. 2018, S. 23ff.).

[2] WRS = Werkrealschule; im Weiteren: GMS = Gemeinschaftsschule; RS = Realschule; GYM = Gymnasium.


Zitiervorschlag

Gschwind, Andreas Karl, Mirjana Zipperle und Katharina Baur (2024): Realisierung und Nutzen sozialraumorientierter Schulsozialarbeit in Baden-Württemberg. In: sozialraum.de (15) Ausgabe 1/2024. URL: https://www.sozialraum.de/realisierung-und-nutzen-sozialraumorientierter-schulsozialarbeit-in-baden-wuerttemberg.php, Datum des Zugriffs: 21.11.2024