Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt e_space
Beiträge zur konzeptionellen Differenzierung einer „Jugendarbeit in der Digitalität“
Eike Rösch, Olivier Steiner, Martina Gerngross
1. Konzeptionelle Vorüberlegungen
1.1 Mediatisierung, Digitalität, mediatisierte Sozialisation und veränderte Raumvorstellungen
Spätestens seit der Corona-Pandemie wird die Relevanz des digitalen Wandels der Gesellschaft für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen auch in der Kinder- und Jugendarbeit breiter diskutiert. Die Veränderungen in den Lebenswelten von Heranwachsenden und die Bedeutung von Medienhandeln für die Sozialisation werden bereits seit langem in verschiedenen Studien (Schmidt et al. 2009; Wagner 2011; Steiner et al. 2019; Bernath et al. 2020; Feierabend et al. 2023) aufgezeigt und im Zusammenhang mit einer tiefgreifenden Veränderung von Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur diskutiert, die angesichts von „digitalen“ Kommunikationsmitteln, Geräten und Netzwerken in den vergangenen Jahrzehnten konstatiert wird. Der digitale Wandel lässt sich als Mediatisierungsschub fassen (Krotz 2007) und damit als Teil eines Metaprozesses, der die menschliche Entwicklung stetig begleitet. Dieser Veränderungsprozess kann auch als kultureller Wandel verstanden werden, mit dem sich gesellschaftliche Praktiken verändern. Stalder (2016, 16) bezeichnet die dabei entstehenden Formationen als „Kultur der Digitalität“ – ein Zustand, in dem neue, mediatisierte Praktiken zum selbstverständlichen Teil des Alltags werden, der nicht mehr von anderen getrennt werden kann. „Digitale“ und „analoge“ Anteile verschmelzen dabei unauflösbar.
Wird Sozialraum verstanden als „ständig (re)produziertes Gewebe sozialer Praktiken“ (Kessl/Reutlinger 2022, 7), dann sind diese mediatisierten Praktiken auch mit Blick auf Sozialräume relevant (vgl. zu den folgenden Ausführungen Brüggen et al. 2022, 587ff.; sowie Rösch 2019, 113ff.). Wenn in einem relationalen Sozialraumverständnis Räume als „(An)Ordnung sozialer Gu?ter und Menschen (Lebewesen) an Orten“ (Löw 2001, 224) gefasst werden, dann kann diese Relevanz in allen Dimensionen dieses Raumbegriffs aufgezeigt werden: Krämer (2002, 60) betont zunächst die Relevanz von Kommunikation für die Konstruktion sozialer Räume. Diese werden nach Löw immer an Orten konstituiert, welche physischer (Bushaltestelle, Skatepark) wie auch flüchtiger Natur (Website, Messengerapp) sein können (Löw 2001, 200–203). Dabei können Medien als soziale Güter (Smartphones, Memes) zu Elementen von Sozialräumen gemacht werden, die Elemente (etwa auch Menschen und ihre Kommunikation) können mediatisiert sein (Sprachnachrichten, Fotos) und die Verknüpfung dieser Elemente kann durch mediatisierte Kommunikation vorgenommen werden (Brüggen et al. 2022, 589). Nicht nur kann in dieser Sichtweise die noch immer verbreitete Trennung zwischen so genannter realer und so genannter virtueller Welt nicht mehr aufrecht erhalten werden (Paetau 2003, 203), die enge Verwobenheit von „digitalen“ und „analogen“ Sphären im Alltagshandeln von Jugendlichen in der Digitalität zeigt sich auch auf der räumlichen Ebene in der Konstitution von hybriden sozialen Räumen bzw. mediatisierten Sozialräumen als „Normalzustand“.
1.2 Kinder- und Jugendarbeit in der Digitalität und Sozialräumlichkeit
Kinder- und Jugendarbeit macht die Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen und Angebote. Hierbei muss die Mediatisierung des jugendlichen Aufwachsens auch in den Angeboten und den dafür zu Grunde gelegten Konzepten der Kinder- und Jugendarbeit Berücksichtigung finden. Soll diese unter den Bedingungen der Digitalität konzeptionell fundiert werden, bietet das Konzept sozialräumlicher Jugendarbeit zahlreiche wertvolle Anknüpfungspunkte (Rösch 2019, 85ff.). Schon früh wurde im Zusammenhang mit einer sozialräumlichen Kinder- und Jugendarbeit die Bedeutung von Medien herausgearbeitet (Niesyto 1993). Mit einem relationalen Raumverständnis kann zudem das Konzept sozialräumlicher Jugendarbeit unter den Bedingungen der Digitalität inhaltlich weiterentwickelt werden, wie etwa auch von Rösch (2019, 139ff.) vorgeschlagen:
Dabei bestehen die beiden bereits von Böhnisch und Münchmeier (1993) formulierten Ansatzpunkte weiter: Kinder- und Jugendarbeit kann einerseits die Aneignungsprozesse von Heranwachsenden begleiten, indem die Möglichkeitsbereiche der Situation eröffnet und der Aneignungsprozess reflektiert werden. Hierbei muss davon ausgegangen werden, dass aufgrund der umfassenden Mediatisierung des Alltagshandelns auch die Handlungssituation mediatisiert ist, also sowohl die Gegenstände der Aneignung mediatisiert sind als auch die Tätigkeiten medienbezogen sind. Andererseits kann sozialräumliche Kinder- und Jugendarbeit an den relationalen Räumen ansetzen. Mit einem relationalen Raumverständnis ist davon auszugehen, dass Sozialräume von den Subjekten durch ihr aneignendes Handeln konstituiert werden und sich deshalb auch pädagogischen Einflüssen entziehen können. Kinder- und Jugendarbeit kann jedoch auch den Aneignungsprozess der Raumkonstitution durch Begleitung für Reflexion öffnen (vgl. Rösch 2019, 145ff.).
Eine solche konzeptionelle Fundierung kann für die konkrete Praxis von Kinder- und Jugendarbeit in der Digitalität nur der Ausgangspunkt sein. Weitere Schritte in der Ausgestaltung konkreter Angebote und ihrer institutionellen Rahmung können dabei die (integrative) Entwicklung von Vor-Ort-Konzepten sein, mit denen bisherige Ansätze und die bestehende Praxis weiterentwickelt und mit neuen Ansätzen ergänzt werden. Der erste Schritt dazu sollte die sozialräumliche Analyse der (hybriden bzw. mediatisierten) Lebenswirklichkeiten von Jugendlichen sein (Deinet/Muscutt 2014, 57).
2. Sozialraumanalysen in einem mediatisierten Umfeld
2.1 Das Projekt e_space
Im Folgenden werden erste Erfahrungen aus einer Sozialraumanalyse im Rahmen des Forschungs- und Entwicklungsprojektes e_space vorgestellt, die im Rahmen eines Aktionsforschungsprojekts gemeinsam mit fünf Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit durchgeführt wurde. Das in den Jahren 2022 bis 2025 umgesetzte Aktionsforschungsprojekt e_space verfolgt das Ziel, in einem partizipativen Prozess mit Fachkräften, Jugendlichen und weiteren Anspruchsgruppen Konzepte und Instrumente für die Ausgestaltung digitaler Jugendarbeit zu entwickeln. Die sich an der Aktionsforschung beteiligenden Einrichtungen wurden nach einer Ausschreibung aufgrund von Kriterien wie städtische/ländliche Verortung sowie der bestehenden Erfahrungen mit digitaler Jugendarbeit ausgewählt. Ziel war es, möglichst unterschiedliche räumliche Verortungen sowie Erfahrungswissen mit digitaler Jugendarbeit im Projekt vertreten zu haben. In einer ersten Phase des Projekts führten die beteiligten Einrichtungen eine Sozialraumanalyse durch, mit dem Ziel, die mediatisierten Lebenswelten der Adressat:innen an den physischen und nicht-physischen Orten der Kommune nachzuzeichnen und verstehend zu erfassen. Anhand den im Folgenden beschriebenen Zyklen der Aktionsforschung entwickeln die Fachkräfte aktuell auf Basis der gewonnen Erkenntnisse gemeinsam mit den Forscher:innen des Projekts sowie weiteren Medienexpert:innen Konzepte und Instrumente für eine digitale Jugendarbeit. Der Ausgang der Entwicklungen ist dabei offen – Ideen, die in einem Zyklus entwickelt wurden, können auch wieder verworfen und neue Vorhaben weiter verfolgt werden.
2.2 Konzeptionelle Überlegungen
Ausgehend von einem sozialräumlichen Verständnis von Kinder- und Jugendarbeit, wird an verschiedenen Stellen eine Sozialraumanalyse als Ausgangspunkt einer Konzeptentwicklung benannt, die sich nicht an institutionellen Logiken, sondern an den Bedarfen und Anforderungen von Kindern und Jugendlichen orientiert. Dabei sollen die Lebenswelten von Heranwachsenden untersucht und, daran anknüpfend, die Konzepte von Jugendarbeit (weiter)entwickelt werden (Deinet/Krisch 2021, 1059 f.). Nach Deinet geht sozialräumliche Jugendarbeit „von Begründungen und Orientierungen aus, die sich aus dem Zusammenhang zwischen dem Verhalten von Kindern und Jugendlichen und den konkreten Räumen, in denen sie leben, ergeben.“ (Deinet 2009c, 18). Dabei sollen sich die Beteiligten „ein Bild von den Orten und Räumen der Kinder und Jugendlichen und deren Qualitäten, Einschränkungen und Möglichkeiten“ (Deinet 2009c, 23) machen. Mit einem relationalen Raumverständnis – und noch stärker mit der Weiterentwicklung von Raumverständnissen unter den Bedingungen von Digitalität – müssen hierbei die Begriffe der „Orte“ und „Räume“ in einem relationalen Sinne verstanden werden. Räume sind hierbei von den Subjekten konstruiert und umfassen in allen ihren Bestandteilen auch mediatisierte Aspekte. Insbesondere können sie auch an flüchtigen Orten konstituiert werden (Brüggen et al. 2022).
Die zentrale Rolle subjektiver Handlungspraxen muss sich auch in der Wahl der Methoden der Sozialraumanalyse widerspiegeln, gerade wenn Aspekte von Digitalität in der Lebenswelt von Jugendlichen angemessen berücksichtigt werden sollen. Grundsätzlich wird an verschiedenen Stellen (Grieser 2018, 91; Krisch 2009, 171) eine Methodentriangulation empfohlen, um verschiedene Perspektiven zu berücksichtigen und ein vertieftes Verständnis entwickeln zu können. „Klassische“ Methoden der sozialräumlichen Konzeptentwicklung (Deinet 2009a; Krisch 2009) können unter der Prämisse, Digitalität in der Lebenswelt umfassend zu betrachten, nur ein Teil des Methodenrepertoires darstellen bzw. sollten in einer entsprechend weiterentwickelten Ausprägung [1] angewandt werden, da sie sich weitgehend auf den physischen, öffentlichen Raum beziehen.
Grieser (2018) entscheidet sich für ethnografische Methoden, um kulturelle Praxen angemessen abzubilden und zugrundeliegende soziale Ordnungen offenzulegen (Breidenstein et al. 2020). Die dahinterstehende Überlegung für eine solche teilnehmende Herangehensweise illustriert er mit dem Zitat „To study place, or, more exactly, some people or other’s sense of place, it is necessary to hang around with them – to attend to them as experiencing subjects” (Geertz 1996, 260). Durch eine ethnografische Perspektive sollen sowohl die Materialitäten des Ortes, als auch die Handlungen der Subjekte berücksichtigt werden können. Ausgehend von diesen Überlegungen wurden im Projekt e_space ethnografische Methoden zu einem zentralen Element der sozialräumlichen Konzeptentwicklung im Rahmen einer Sozialraumanalyse gemacht, um die Sozialraumkonstitutionen von Jugendlichen vor dem Hintergrund der Mediatisierung ihrer Lebenswelt und Sozialisation angemessen berücksichtigen zu können.
2.3 Konkrete Umsetzung
Die sozialräumliche Konzeptentwicklung im Projekt e_space soll einem zyklischen Vorgehen folgen, wobei ein Zyklus jeweils dem Ablaufschema der sozialräumlichen Konzeptentwicklung nach Deinet (2009b, 22ff.) folgt: zunächst eine Lebensweltanalyse, dann eine Analyse der Angebote der Jugendarbeit, dann die Entwicklung konzeptioneller Differenzierungen. Im ersten Zyklus haben die beteiligten Fachpersonen zwischen dem Spätsommer 2022 bis zum Frühling 2023 jeweils im Austausch mit Forscher:innen sowie untereinander in ihren Gemeinden Sozialraumanalysen vorgenommen,. Das Vorgehen folgt dabei dem Paradigma der Aktionsforschung. Dieses geht davon aus, dass praxisrelevantes Wissen zielführend in einem eng verknüpften Prozess von Handeln in der Praxis und (wissenschaftlich unterstützter) Reflexion entsteht (Rauch et al. 2014; von Unger 2014). Aktionsforschung kennzeichnet sich dabei durch abwechselnde Phasen von Aktion und Reflexion, Entscheidungen, die für den Fortgang des Projekts bedeutend sind, werden partizipativ zwischen allen Beteiligten ausgehandelt. Ein Aktionsforschungsprozess ist aufgrund des partizipativen und ergebnisoffenen Vorgehens nur aufwändiger und schwieriger planbar – ein grundsätzliches Spannungsfeld in Finanzierungslogiken von Sozialer Arbeit, die zunehmend auf Effizienz und Effektivität hin orientiert sind (vgl. Ziegler et al. 2020).
In drei Workshops haben sich die Beteiligten zunächst mit Prinzipien, Ansätzen und Herangehensweisen ethnografischer Forschung (neu) auseinandergesetzt und ein grobes gemeinsames Verständnis entwickelt. Dies bot die Grundlage für lokale Erhebungen, die von den jeweiligen Teams im Austausch mit den anderen Gemeinden entwickelt und dann durchgeführt wurden (eine Darstellung der gewählten Erhebungsmethoden folgt im Abschnitt 3), inkl. der schrittweisen Vertextlichung der Feldbeobachtungen (Streck et al. 2013). Zur Auswertung dieser Beobachtungen in den lokalen Teams wurde praxisorientiert auf die vereinfachte Metaplan-Methode (Stange et al. 2020, 32ff.) zurückgegriffen. Die Fachpersonen erarbeiteten auf diese Weise ihre Wirklichkeitssicht. Diese wurde in einem dritten Schritt in Gruppendiskussionen mit der Sicht der Jugendlichen zusammengebracht und schließlich in einer weiteren Auswertungsrunde die Wirklichkeitssicht verbreitert und vertieft.
3. Erfahrungen aus dem Modellprojekt
3.1 Erfahrungen in der konkreten Arbeit
Die konkrete Ausgestaltung der ethnografischen Erhebungen haben die Fachpersonen in den Gemeinden vorgenommen – passend zu ihrer jeweiligen Situation, zu ihren Vorerfahrungen, anknüpfend an ihr vorhandenes Wissen, ihre Fragestellung und ihre persönlichen Vorlieben. Hieraus ist eine relativ große Vielfalt in der methodischen Vorgehensweise entstanden.
Dabei waren die Beziehungen der Jugendarbeitenden eine zentrale Basis für die Erhebungen. Die Fachpersonen haben zunächst den Kontakt zu einzelnen Jugendlichen gesucht und teilweise auch zu Gruppen von Heranwachsenden, die sich im Kontext von Digitalität engagieren (etwa eine Gruppe von Gamer:innen).
In einer Gemeinde hat eine inhaltliche Sensibilisierung mit Hilfe einer umfangreichen Umfragekampagne (in Form eines Adventskalenders) auf Social Media stattgefunden, um einen Einblick in die Breite der Perspektiven von Jugendlichen auf Aspekte der Digitalität in ihrem Umfeld zu bekommen.
In allen Gemeinden haben Fachpersonen Interviews mit Jugendlichen durchgeführt, allerdings in unterschiedlichen Phasen der Erhebung. Einige Jugendarbeiter:innen haben Interviews als explorative Komponente genutzt, um einen Einstieg in Thematiken einzelner Jugendlicher zu finden. Andere haben sie als vertiefenden Ansatz gewählt, um inhaltlich fokussiert mit Jugendlichen ins Gespräch zu kommen und ein spezifisches Thema zu vertiefen und genauer auszuleuchten.
In verschiedenen Gemeinden haben teilnehmende Beobachtungen stattgefunden in Kontexten, die für die jeweiligen Jugendlichen von Bedeutung sind: In einem Bergtal haben die Fachpersonen die Jugendlichen auf Zugfahrten begleitet und beobachtet, da die Zugstrecke eine besondere Bedeutung für den Alltag von vielen Heranwachsenden im Tal hat. Mehrere Fachpersonen haben Beobachtungen im Jugendtreffsetting durchgeführt, andere im öffentlichen Raum. Teilweise waren diese Beobachtungen verbunden mit Gesprächen von Jugendlichen, die oft selbstverständlich mit den Jugendarbeitenden darüber ins Gespräch kamen, „was sie denn da so machen“.
Keine der Fachpersonen hat eine teilnehmende Beobachtung in ausschließlichen Onlineumgebungen (etwa Gaming- oder andere Communities) gewählt. Allerdings waren Demonstrationen der Online-Aktivitäten von Jugendlichen an deren Smartphone Teil von zahlreichen Interviews mit Jugendlichen.
Bisher gab es im Rahmen der Sozialraumanalysen zudem keine Kooperationen mit anderen Akteur:innen aus dem Sozialraum zur Verbreiterung der ethnografischen Forschung.
3.2 Erkenntnisse und Ergebnisse
Generell hat sich im Projekt bisher gezeigt, dass eine ethnografische Herangehensweise an einer verbreiteten Strategie/Vorgehensweise von Jugendarbeiter:innen im Kontakt mit Jugendlichen anknüpft und sich daher leicht fortsetzen lässt. Gleichzeitig ist auch der Eindruck entstanden, dass es Fachpersonen teilweise schwer fällt, sich von ihrem jeweiligen Auftrag und den Handlungsimpulsen als Jugendarbeitende (insbesondere mit der Frage „wie können wir Jugendliche erreichen“) zu lösen und in eine Haltung des unstrukturierten Beobachtens zu kommen. Bekanntere Methoden der Lebensweltanalysen (z. B. Nadelmethode, Autofotografie) bieten hier eine stärkere Vorstrukturierung, die die Fokussierung auf das Erkunden der lebensweltlichen Perspektive für Jugendliche erleichtert. In diesem Zusammenhang ist der verbreitete Rückgriff auf quantitative Elemente (quantitative Befragungen, Listen populärer Kanäle, Bepunktungen in Gruppenveranstaltungen) in den Vorgehensweisen im Rahmen der Aktionsforschung noch weiter zu reflektieren. Der genannte Aspekt sollte in der Planung und Umsetzung von Beobachtungen als Methode der Sozialraumanalyse besonders geachtet werden. Fachpersonen waren häufig überrascht über das große Interesse von Jugendlichen am Austausch über ihr Medienhandeln. Dieser Eindruck widerspricht der unter Fachpersonen häufig geäußerten Annahme, dass Jugendliche in „ihren“ (digitalen) Räumen lieber alleine bleiben möchten und dass sich Jugendarbeiter:innen zurückhalten sollten, dort aktiv zu werden. Diese Reaktion der Jugendlichen hat bei den Fachpersonen Eindruck hinterlassen und motiviert offenbar zu weiteren Aktivitäten. Im Kontext ethnografischer Beobachtungen besteht darüber hinaus Potenzial in der Berücksichtigung von Onlineumgebungen (etwa Chatgruppen, Communities, Social Media) durch teilnehmende Beobachtung, insbesondere mit Blick auf dort wahrnehmbare Aneignungsprozesse im Rahmen der Kultur der Digitalität.
Auf der Ebene der Auswertungen haben die Beteiligten im Projekt gute Erfahrungen mit der Metaplan-Methode gemacht. Die Fachpersonen haben die Herangehensweise intensiv genutzt und teilweise umfangreichere Auswertungsphasen vorgenommen. Hieraus sind Erkenntnisse zu einem breiten Spektrum von Themen entstanden – etwa bezüglich Medienhandeln, sozialen Dynamiken und Beziehungsgestaltung im Kontext digitaler Kommunikation, Gesundheit/psychosoziale Faktoren, Medienkompetenz. Diese haben sich konzeptionell anschlussfähig an die Vor-Ort-Konzepte gezeigt. In diesem Zusammenhang haben einzelne Fachpersonen explizit berichtet, dass sie durch die ethnografische Erhebung und Auswertung eigene Vorurteile in Bezug auf das (medienbezogene) Handeln von Jugendlichen bemerkt und sich eingestanden haben. Zudem haben die Auswertungen der Beobachtungen teilweise überraschende Ergebnisse gezeitigt. So haben in einer Gemeinde bspw. die lokalen Fachpersonen herausgearbeitet, dass die Arbeit mit Eltern (insbesondere hinsichtlich digitalitätsbezogener Aspekte) für Jugendliche eine Unterstützung darstellen kann. Diese Dimension war bis dato nicht im Fokus der Arbeit der Fachpersonen.
Dies ist ein Beispiel, wie eine ethnografisch gestaltete Sozialraumanalyse neue Ansätze für die Jugendarbeit eröffnen konnte. Ein weiteres Beispiel ist die Idee der digital gestalteten Selbstorganisation der lokalen Jugendlichen einer anderen Gemeinde über eine digitale Plattform, die zunächst in Form einer Messengergruppe umgesetzt wurde.
Insgesamt zeigt sich, dass durch die ethnografische Arbeit zahlreiche neue Perspektiven entstanden sind, die auch in neue Angebote und Ansatzpunkte Offener Jugendarbeit zu Digitalität gemündet sind. Gleichzeitig verdeutlicht sich, dass die Prozesse der Sozialraumanalyse und Konzeptentwicklung nicht unabhängig sind vom Vorwissen der Jugendarbeitenden hinsichtlich der Digitalität, ihren Haltungen und auch den bisherigen Tätigkeiten. So wurden durch die Auseinandersetzung der Fachpersonen mit den Jugendlichen und ihrer Lebenswelt Lernprozesse der Jugendarbeiter:innen angestoßen, die im gesamten Entwicklungsprozess der Einrichtung und der lokalen Konzepte berücksichtigt werden müssen.
4. Fazit und Diskussion
Aktionsforschung stellt eine ausgesprochen anspruchsvolle Methode von Wissenschafts-Praxis Entwicklung dar (Simonsen 2009). Diese in zahlreichen vergangenen Projekten erlangte Erkenntnis kann aufgrund der Erfahrungen der hier vorliegenden Aktionsforschung bestätigt werden. Es zeigen sich Herausforderungen auf unterschiedlichen Ebenen, die in sehr kurzer Form anhand der folgenden drei Punkte benannt werden kann: 1. Der Anspruch, die Projektentwicklung und -umsetzung partizipativ zwischen Wissenschaft und Praxis zu organisieren, ist vor dem Hintergrund eingeschränkter Ressourcen und Zeit oft schwierig einzulösen; 2. Praxis und Wissenschaft haben vielfach unterschiedliche Verständnisse von Forschung – Annäherungen und Klärungen benötigen Zeit und die Entwicklung einer Vertrauensbasis zwischen den Beteiligten; 3. Praxis ist häufig stark im Wandel begriffen, Prioritäten und Zuständigkeiten verändern sich, was die Projektkontinuität immer wieder herausfordert.
Gleichzeitig zeigen sich in den Prozessen des forschenden Erkundens digitaler Lebenswelten Heranwachsender durch die Jugendarbeitenden, der gemeinsamen Reflexion der Erfahrungen und der Diskussion und Vernetzung zwischen den Projektpartner:innen unterschiedlicher Standorte immer wieder „Aha“-Momente, Erkenntnisse zu Fragen digitaler Jugendarbeit, die erst aufgrund aktionsforscherischer Herangehensweisen gewonnen werden konnten. Gerade aber aufgrund der hohen Dynamik und Komplexität der entstehenden Kultur der Digitalität erscheint ein Aktionsforschungsprozess, in welchem Phasen des Handelns von Phasen der erhöhten Reflexivität abgelöst werden, als besonders sinnhafter, wenn nicht sogar notwendiger Ansatz, um eine fachlich begründete Form digitaler Jugendarbeit zu entwickeln, die nicht nur auf jeweils aktuelle Trends reagiert, sondern eine für alle Beteiligten – Fachkräfte und Adressat:innen – befähigende Gestaltung digitaler Alltagswelt ermöglicht.
Hinsichtlich der ethnografischen Herangehensweise der Sozialraumanalysen zeigen die Erfahrungen sowohl im Kontext der Beobachtungen als auch auf der Ebene der Auswertungen, dass dieser methodische Ansatz mit seiner Nähe zum Alltagshandeln von Jugendarbeiter:innen zahlreiche neue Perspektiven und Erkenntnisse eröffnet und insbesondere neue Bezugspunkte für die konzeptionelle Weiterentwicklung von Vor-Ort-Konzepten von Jugendarbeit unter den Bedingungen der Digitalität aufzeigen kann.
Gleichzeitig weisen die Erfahrungen aus dem vorliegenden Projekt auf verschiedene Bedingungen und Gestaltungsaspekte hin, die bei zukünftigen Vorhaben (und auch im laufenden vorliegenden Projekt) Berücksichtigung finden sollten. Hierzu gehört, dass die persönlichen Lern- und Haltungsentwicklungsprozesse von Fachpersonen einen bedeutenden (insbesondere zeitlichen) Faktor in den Entwicklungsprozessen darstellen, weil sie häufig (noch) nicht Teil von Aus- und Weiterbildung sind. Sie müssen daher in der Planung sowie hinsichtlich der Erwartungsdefinition berücksichtigt werden.
Zudem sollte die Beobachtungspraxis weiterentwickelt werden und allenfalls auch ein praxisorientierter Methodenkatalog für diese Aufgabe formuliert werden. Hier kann ein Augenmerk auf Rahmenbedingungen gelegt werden, die es Fachpersonen der Jugendarbeit erlauben, sich stärker auf eine beobachtende Haltung einzulassen und Verwertungsaspekte vorübergehend hintenanzustellen. Die ethnografische Forschung im Rahmen von Sozialraumanalyse bietet zudem Anknüpfungspunkte für persönliche Lernprozesse, weil sie mögliche Fehlannahmen und Vorurteile zugänglich machen kann und so Potenziale für die Bewusstmachung der eigenen Haltungen bietet.
Insgesamt zeigt sich: Unter den Bedingungen von Digitalität und angesichts relationaler Raumvorstellungen sind umfassende Sozialraumanalysen, die die Bedürfnisse von Jugendlichen zum Ausgangspunkt konzeptioneller Weiterentwicklungen machen, mit bisherigen Methoden eher schwierig zu realisieren. Ethnografische Forschung bietet hier neue Zugänge, die auch das mediatisierte Alltagshandeln digitale Jugendkulturen für die Sozialraumanalyse eröffnet. Der enge Einbezug von Jugendlichen in der Erhebung, der Diskussion der Auswertungsergebnisse sowie der Neubetrachtung der bisherigen Angebote bietet zahlreiche Anlässe zur Auseinandersetzung, die für Fachpersonen Lern- und Reflexionsgelegenheiten eröffnen. Mit einer solcherart ausgestalteten Weiterentwicklung des Methodenrepertoires von Konzeptentwicklungen in der Kinder- und Jugendarbeit können die Bedürfnisse von Jugendlichen auch unter den Bedingungen von Digitalität umfassend berücksichtigt und die Zielsetzungen von Sozialraumanalysen eingelöst werden.
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[1] Eine solche Weiterentwicklung wird etwa für die Nadelmethode von Rohrauer und Rösch (2016) beschrieben.
Zitiervorschlag
Rösch, Eike, Olivier Steiner und Martina Gerngross (2024): Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt e_space. In: sozialraum.de (15) Ausgabe 1/2024. URL: https://www.sozialraum.de/das-forschungs-und-entwicklungsprojekt-e-space.php, Datum des Zugriffs: 21.12.2024