Aufenthalts- und Lebensqualitäten in urbanen Quartieren – Sozialräumliche Einblicke in die Bremer Überseestadt und das Bremer Viertel

Christian Spatscheck

Warum fühlen sich Menschen in manchen Stadtteilen wohler als in anderen? Woran machen Menschen Qualitäten von Orten fest? Und wie könnten diese Bezüge für die Raumforschung erschlossen werden? Der folgende Beitrag greift die Fragestellung der Erfassung und Erkundung von Aufenthalts- und Lebensqualitäten in räumlichen Settings auf und konkretisiert diese anhand der Ergebnisse eines Lehrforschungsprojektes [1] in Bremen bei dem zwei Stadtteile anhand dieser Fragestellung verglichen wurden. Als konzeptionelle Grundlagen dienen dabei Modelle von Marc Augé (2014) und Jan Gehl (Gehl 2012; 2015; Gehl/Svarre 2016), die im Vorgehen mit Konzepten und Methoden der sozialräumlichen Forschung und der Sozialraumanalyse (vgl. Deinet 2009a; Spatscheck/Wolf-Ostermann 2016) in Verbindung gesetzt werden.

1. Hintergrund und Methode

Das vorliegende Projekt findet einen stärkeren konzeptionellen Bezug in den Arbeiten von Marc Augé über Orte und Nicht-Orte. Als „Ethnologe des Nahen“ versteht Augé das empirische Arbeiten im Feld als niemals abgeschlossenen relationalen Erkenntnisprozess: „Die Tätigkeit des ethnologischen Feldforschers besteht von Anbeginn darin, das Soziale zu vermessen, Größenordnungen abzuwägen und kleinteilige Vergleiche anzustellen; er bastelt sich eine bedeutungstragende Welt zusammen, erkundet bei Bedarf in raschen Untersuchungen Zwischenwelten oder zieht als Historiker die einschlägigen Dokumente zu Rate“ (Augé 2014, 23f.). Die beobachteten sozialen Relationen verbleiben dynamisch, sie „‚arbeiten‘ wie frisches Holz, sie bilden (aus äußeren ebenso wie aus inneren Gründen) keine fertigen Totalitäten“ (Augé 2014, 32.). Und auch die „Individuen […] sind niemals so einfach, dass sie nicht in irgendeiner Beziehung zu der Ordnung stünden, die ihnen einen Platz zuweist; sie drücken die Totalität stets nur unter einer bestimmten Perspektive aus“ (Augé 2014, 32).

Eine zentrale Haltung ist für Augé die Annahme der Fremdheit. Auch wenn manche Stadtteile den Forschenden bereits vertraut erscheinen, befasst sich die anthropologische Forschung mit dem Neuen und dem Unvertrauten, mit „der Frage des anderen“ und mit den „Arten des anderen“, dem Fremden und nicht Identischen (Augé 2014, 28).

Studien mit anthropologischer Ausrichtung haben nicht den Anspruch, ganze Stadtteile oder Dörfer endgültig beschreiben zu können. Vielmehr sollten sie „als Beitrag zu einem noch unvollständigen Inventar“ verstanden werden, das zwar empirisch fundierte Generalisierungen beschreibt, die auf bestimmte Gruppen bezogen und durch Untersuchungen abgesichert sind, jedoch nur vordergründig den Fokus auf jene Aspekte des sozialen Lebens lenken können, die sich als empirische und intellektuelle Objekte den Forschenden „aufdrängen“ (Augé 2014, 26). Diese können räumliche Formen als „Kreuzung und Kombination der individuellen und der kollektiven Erfahrung“ erfassen (Augé 2014, 67), man betrachtet als Forschende*r einzelne und setzt die erhaltenen Informationen in Verbindung zum größeren Ganzen. „Wir müssen in der Tat wissen, was die, mit denen wir sprechen und die wir sehen, uns über jene berichten, mit denen wir nicht sprechen und die wir nicht sehen“ (Augé 2014, 23). In den Geschichten der einzelnen spiegeln sich soziale Strukturen, Grenzen und Trennungslinien wider, die im „seltsam gescheckten und zerrissenen urbanen Gewebe“ der Stadtteile gefunden werden, deren soziale Spaltungen manchmal „überdeutlich und gnadenlos diskriminierend“ wirken (Augé 2014, 126).

Diese relationale und prozesshafte Grundhaltung weist große Ähnlichkeiten mit dem hermeneutisch-kritischen Zugängen des „sozialräumlichen Blicks“ von Sozialraumanalysen (Deinet 2009a; 2009b, 18; Krisch 2009; Reutlinger 2017; Spatscheck 2009) auf. Auch hier werden Räume in ihrer relationalen Verfasstheit und ergründet und dabei die Sichtweisen von Mikro-, Meso- und Makroperspektiven integrativ aufeinander bezogen.

Die von Augé ethnografisch und anthropologisch begründete Position der Fremdheit vermag die entdeckende Perspektive auf sozialräumlicher Zugänge konzeptionell zu schärfen und zu konkretisieren. Sie weist Parallelen zur vom französischen Philosophen Michel de Certeau beschriebenen Zugangsweise der „Promenadologie“ auf, die den Akt des Umherstreifens im Einklang mit dem Erkunden und Betrachten von Räumen setzt und dessen „Spiele der Schritte“ gleichzeitig als Akt des Erkennens und des (Um-)Gestaltens von Räumen betrachtet (de Certeau 1988, 188f.).

2. Zum Konzept der Aufenthaltsqualität

In der hier dargelegten Studie geht es, später beispielhaft ausgeführt anhand zweier Bremer Ortsteile, um die Erfassung von Qualitäten von Orten, insbesondere deren Aufenthalts- und Lebensqualitäten. Um diese begründeter erfassen zu können und die Zugänge transparenter zu gestalten, haben wir uns als Forschende stärker auf zwei Modelle zur Beschreibung und Erfassung von Orts- und Aufenthaltsqualitäten bezogen. Diese werden im Folgenden erläutert.

2.1 Anthropologische Orte und Nicht-Orte

Marc Augé betrachtet in seinem ursprünglich bereits 1994 veröffentlichten Buch „Nicht-Orte“ (Augé 2014) Orte als Ausdruck einer „in Zeit und Raum lokalisierten Kultur“ (Augé 2014, 42) und unterscheidet grundlegend zwischen anthropologischen Orten und Nicht-Orten.

Anthropologische Orte sind organisch gewachsene Orte „des eingeschriebenen und symbolisierten Sinnes“ (Augé 2014, 86) mit einer „Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart“ (Augé 2014, 81), die wie eine „Bassstimme“ wirkt und „sämtliche Zeiten des Ortes“ im „Raum und im Wort fixiert“ (Augé 2014, 82). Als Versammlungsorte liegen sie oft im öffentlichen Raum und sind „nachhaltig von sozialen Beziehungen (zum Beispiel von strengen Verhaltensregeln) oder von einer gemeinsamen Geschichte geprägt […], zum Beispiel Kultstätten“ (Augé 2014, 124). Anthropologische Orte sind lebendige Orte, als „an denen die Wege der Einzelnen sich kreuzen und verbinden, zu denen Kommunikation stattfindet und die Einsamkeit einen Augenblick vergessen wird“ (Augé 2014, 71), etwa „auf den Stufen der Kirche, an der Theke des Cafés, an der Tür der Bäckerei“ (Augé 2014, 71). Sie sind durch „Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet“ (Augé 2014, 83), durch ein bestimmtes Verhältnis zur Welt, welches stark geprägt ist durch die sprachliche und tätige Auseinandersetzung mit dem Raum (Augé 2014, 85).

Nicht-Orten fehlen diese Qualitäten. Ein Nicht-Ort ist ein Raum der „keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen lässt“ (Augé 2014, 83). Nicht-Orte entstehen durch die strukturellen Einflüsse einer beschleunigten „Übermoderne“, die ein Übermaß an Ereignissen, eine Überfülle des Raumes und eine Individualisierung von Referenzen mit sich bringt (Augé 2014, 108) und dazu führt, dass sich Menschen in Nicht-Orten „immer noch und niemals mehr ‚zu Hause‘“ fühlen können (Augé 2014, 108). Nicht-Orte können „die alten Orte nicht integrieren“ und diese nicht mehr länger registrieren, klassifizieren und zu „Orten der Erinnerung“ machen (Augé 2014, 83), sie sind vom „Lärm der Partikularismen dominiert“ (Augé 2014, 42) und verlieren die „Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart“ (Augé 2014, 81). Sie sind oft Transiträume (Augé 2014, 83), etwa stark beschleunigte Verkehrsmittel, Schnellstraßen, Autobahnkreuze, Flughäfen, Einkaufszentren, Durchgangseinrichtungen, Neubaugebiete (Augé 2014, 42) aber genauso auch medial bestimmte Kommunikationsräume (Augé 2014, 124). Nicht-Orte ermöglichen es dem Einzelnen „in einer intellektuellen, musikalischen oder visuellen Umwelt [zu] leben, die vollkommen unabhängig von seiner aktuellen physischen Umgebung ist“ (Augé 2014, 124). Damit ist ein Nicht-Ort auch „das Gegenteil der Utopie; er existiert, und er beherbergt keinerlei organische Gesellschaft“ (Augé 2014, 111). Orte und Nicht-Orte sind nicht immer absolut voneinander getrennt, sie durchdringen sich und können auch ineinander übergehen (Augé 2014, 107).

Augé hat uns bei unseren Beobachtungen inspiriert, stärker auf die Unterschiede zwischen gewachsenen und sozial stärker geregelten anthropologischen Orten und den beschleunigten und entregelten aber auch entfremdeten Nicht-Orten zu achten. In einer Gruppendiskussion fiel die Wahl auf die gerade neu entstehende und oft noch als eher unbekannte Quartier der Bremer Überseestadt sowie das eher organisch gewachsene und oft mit hoher Aufenthaltsqualität attribuierte Quartier des Bremer Viertels (vgl. weitere Informationen zu den beiden Stadtteilen unter Abschnitt 4.1 bzw. 4.2).

2.2 Zur Messbarkeit von Aufenthaltsqualität

Die Charakterisierung von anthropologischen Orten als Orte, „an denen die Wege der Einzelnen sich kreuzen und verbinden, zu denen Kommunikation stattfindet und die Einsamkeit einen Augenblick vergessen wird, auf den Stufen der Kirche, an der Theke des Cafés, an der Tür der Bäckerei“ (Augé 2014, 71) erschien uns vertraut, jedoch noch etwas vage. Aus diesem Grund haben wir noch nach weiteren Modellen und Indikatoren zur Beschreibung von Aufenthaltsqualitäten in räumlichen Settings recherchiert. Dabei sind wir auf die Arbeiten des dänischen Architekten und Stadtforschers Jan Gehl (vgl. Gehl 2012; 2015; Gehl/Svarre 2016) gestoßen. Dieser unterscheidet zur Beschreibung von Orts- und Aufenthaltsqualitäten zwischen notwendigen, optionalen und sozialen Aktivitäten (vgl. Gehl 2012, 11ff.) der Menschen im Raum und, an anderer Stelle, zwischen den dortigen Aktivitäten des Gehens, Stehens und Sitzens, sowie auch des Sehens, Hörens und Sprechens und des sich Entspannens (vgl. ebd.) und deren jeweiligen Auswirkungen auf die empfundenen Raumqualitäten.

Inspiriert von den den Arbeiten von Gehl haben wir uns entschlossen, die Kriterien der notwendigen, optionalen und sozialen Aktivitäten sowie der Aktivitäten des Gehens, Stehens und Sitzens als ergänzende Kategorien für unsere weiteren Beobachtungen hinzuzuziehen, die wir in unseren Beobachtungen im Raum als ergänzende Matrix nutzen konnten.

3. Konkretes Vorgehen

Gemäß eines Leitfadens zur Planung und Entwicklung von Sozialraumanalysen (vgl. Spatscheck/Wolf-Ostermann 2016, 37) wurden im weiteren Projektverlauf die zentralen Rahmendaten des Projektes geklärt.

Dabei wurde zunächst a) die Fragestellung geklärt und als „Welche Aufenthalts- und Lebensqualitäten weisen die beiden Bremer Quartiere Überseestadt und Viertel auf?“ definiert. Dabei sollte ein spezieller Fokus auf den öffentlichen Raum sowie auf die Perspektiven von jungen und jüngeren Menschen gelegt werden, die in der Kinder- und Jugendarbeit und der Jugend- und Familienhilfe zur Zielgruppe Sozialer Arbeit werden könnten.

Als b) Entstehungs- und Verwertungszusammenhang wurde benannt, dass im Rahmen eines Lehrforschungsprojektes ein exemplarischer Einblick in Orts- und Raumqualitäten der beiden Stadtteile zur Schärfung des Blicks auf urbane Quartiere und zur Schärfung eines sozialräumlich methodischen Blicks gerichtet werden soll. Zudem wurde schon recht früh festgelegt, dass eine Publikation der Ergebnisse erfolgen soll.

Als c) Gegenstände des Projektes wurden Personen im öffentlichen Raum der beiden Quartiere in einem vergleichbaren Zeitfenster (je dienstags nachmittags) und deren Aktivitäten im Raum benannt.

Als d) methodische Zugänge wurde eine leitfadengestützte Befragung von PassantInnen in Kombination mit der Nadelmethode (Deinet/Krisch 2009a), eine leitfadengestützte Befragung von Schlüsselpersonen bzw. lokalen SozialraumexpertInnen (Deinet/Krisch 2009b), Beobachtungen anhand eines Beobachtungsrasters anhand der Kriterien von Jan Gehl, Fotos aus den Ortsteilen sowie verfügbaren Daten zum Sozialraum festgelegt.

In Bezug auf e) die ethischen Erwägungen wurde diskutiert, welche Zugänge und Vorgehensweise ethisch vertretbar sind. Hier wurden als nötige Standards festgelegt, dass wir uns klar als Lehrforschungsgruppe der Hochschule Bremen ausweisen müssen, unsere Ziele und Fragestellungen offenlegen, die Anonymität der beteiligten Personen wahren, die erhobenen Daten sicher verwahren und nach Studie vernichten sowie nicht gegen Interessen der Beteiligten handeln dürfen. Diese Aspekte wurden im Lauf der Studie immer wieder reflektiert. Aus ethischer Sicht ist das Projekt außerdem dann wünschenswert, wenn es weitere Hinweise für die Entwicklung der beiden Gebiete liefert und diese auch für weitere Personen und Projekte zur Verfügung gestellt werden.

Für f) den Projektablauf wurden mehrere vorbereitende Treffen der Forscher*innengruppe an der Hochschule, für die Erhebungen in der Überseestadt ein Dienstagnachmittag (15:45-19 Uhr) Ende Mai, für die Erhebungen im Viertel Anfang ein Dienstagnachmittag (15:45-19 Uhr) Anfang Juni sowie ein gemeinsames Auswertungstreffen in Gesamtgruppe und weitere Treffen in Kleingruppen festgelegt.

4. Ergebnisse der Studie

Im Folgenden werden zunächst die Ergebnisse der Betrachtung der beiden Quartiere dargestellt. Abschließend werden diese verglichen und zu einem Ausblick zusammengefügt.

4.1 Überseestadt – Der lange Wind des Wandels

Das Bremer Quartier „Überseestadt“ ist ein Bremer Ortsteil und gleichzeitig ein Stadtentwicklungsvorhaben auf dem Gebiet des ehemaligen Bremer Hafengebietes im Stadtteil Walle (Wirtschaftsförderung Bremen 2018). Nach dem Rückgang von Hafen- und Werftentätigkeit im Bremer Stadtgebiet entstand die Möglichkeit, auf zentralem Stadtgebiet direkt neben der Innenstadt und entlang der Weser auf über 300 ha einen neuen Stadtteil mit einer Mischnutzung von Gewerbe, Wohnen und Stadtkultur zu schaffen. Zwischen 1998 und 2025 soll so ein neuer Stadtteil entstehen, in dem perspektivisch 17.000 Arbeitsplätze entstehen und Wohnraum für 6.300 BewohnerInnen geschaffen werden soll. Das Stadtentwicklungsprojekt wurde bewusst in mehreren Phasen und Schritten angelegt, um ein organischeres Wachsen zu ermöglichen. Aktuell hat der Ortsteil etwa 2.000 BewohnerInnen und seine etwa 1.000 Unternehmen bieten 16.000 Arbeitsplätze.

Historisch ist der Ortsteil sehr geprägt durch die ehemaligen Übersee-, Europa- und Holz- und Fabrikenhäfen, ehemalige Werften und Handelsfirmen wie Melitta, Kaffee Hag, Kaba und Kellogg’s Deutschland. Mittlerweile sind im Stadtteil neben Firmen und Wohnungen mit Restaurants und Bars auch zahlreiche gastronomische Orte sowie durch die Hochschule für Künste, Museen, Bandproberäume und Clubs auch Orte für Kultur und Bildung entstanden. Große Teile der Hafenbecken blieben erhalten und trotz vieler Neubauten wurden auch mehrere Hafengebäude und Speicherhallen erhalten oder in Neubauten integriert. Es entstanden viele Neubauten, oft zu höherem Preis, einige erschwinglichere Wohnungen wurden auch durch Wohnungsbaugesellschaft Gewoba erstellt.

 Abbildung 1: Umgebaute Speichergebäude und Neubauten in der Überseestadt (Quelle: Matthias Kroll)
Abbildung 1: Umgebaute Speichergebäude und Neubauten in der Überseestadt (Quelle: Matthias Kroll)
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Mit dieser Vorgeschichte kann die Überseestadt zunächst als klassischer Nicht-Ort beschrieben werden, der nach und nach zu einem anthropologischen Ort gemacht werden soll. Durch die baulichen Veränderungen werden neue Orte erschaffen, die oft noch nicht miteinander verbunden sind, wenig soziale Verbindungen aufweisen und nicht oder nur indirekt an die Geschichte des Hafens anschließen. Kulturelle und gastronomische Orte sowie neue Arbeitskontexte und Formen schaffen jedoch auch erste Ansätze von anthropologischen Orten, die sich grundsätzlich auf den ganzen Stadtteil beziehen. Insofern haben wir einen Ort im fortlaufenden Wandel vorgefunden. Das Gefühl des Wandels wurde durch den häufigen und sehr andauernden Wind auf dem Hafengelände unterstützt, dieser wurde von mehreren Personen als Ortsqualität beschrieben und wurde für uns als Forscher*innenteam zu einer Metapher für den dort „andauernden Wind des Wandels“.

4.1.1 Beobachtung und Befragung in der Überseestadt

Unser Beobachtungs- und Befragungsort war der Platz vor dem Speicher XI. Die meisten der dort Befragten (n = 8) halten sich regelmäßig in der Überseestadt auf, wohnen jedoch dort nicht und kamen aus sehr verschiedenen Bremer Stadtteilen um den Ort als Transitraum auf dem Weg zur Arbeit und Hochschule bzw. nach Hause oder zu Freizeitaktivitäten im Hafen oder an anderen Orten zu nutzen.

Als positive Orte der Überseestadt wurden Bars, Restaurants, Läden, Events, der Skateplatz und die zugängigen Hafenbecken am Europahafen genannt. Als negative Orte wurden die nüchternen und gesichtslosen Wohnbauten, das negative und kühle Flair und der „Industriecharme“ der Gebäude und die zunehmende Bebauung von Freiflächen genannt, häufig wurde aber auch kein ausdrücklich negativer Ort bestimmt.

Als Vorteile des Ortsteils benannten die Personen häufig den vielen verfügbaren Platz für Neues, die geringere Dichte der Bebauung, die Ruhe und den Wind sowie das Gefühl der Freiheit am Wasser, den Platz für Kinder sowie bestimmte Restaurants oder Treffpunkte, wie die Skateranlage und den Spielplatz. Als Nachteile der Überseestadt wurde benannt, dass der Ortsteil „leblos“ wirkt und wenig Vielfalt aufweist, sich dort zu wenig Menschen im öffentlichen Raum aufhalten, begegnen und treffen können und dass es zu wenige oder keine Orte zum Verweilen gibt, wie etwa Wochenmärkte, und auch insgesamt keine Möglichkeiten bestehen, sich mit wenig Geld mit Menschen aus der Nachbarschaft zu treffen. Insgesamt scheinen Räume für Begegnung zu fehlen. Außerdem wurden interessante und individuellere Läden, bezahlbare und schöne Cafés oder Grünflächen und Orte zum Verweilen vermisst. Häufiger wurde angesprochen, dass der Ortsteil, außer für diejenigen die mit dem Fahrrad oder gut zu Fuß unterwegs sind, durch zu wenige Verbindungen mit öffentlichen Verkehrsmitteln und durch sehr volle Straßen nicht gut erreichbar ist und dass Straßen durch viel Durchgangsverkehr, wenig Ampeln und Straßen oft als „Rennstrecke“ genutzt werden. Ebenso benannt wurde, dass zu wenig oder keine Supermärkte, Apotheken, Paketstellen, Ausgehmöglichkeiten und kulturelle Einrichtungen vorhanden sind, durch Baulärm und Verkehr eine hohe Lärmbelastung herrscht und dass die Überseestadt gerade abends oft unheimlich und unsicher wirkt.

Die befragten SozialraumexpertInnen (n = 3, Mitarbeiter*innen in Kiosks oder kleinen Läden an verschiedenen Orten) beschreiben, dass sich die Menschen bei Ihnen nur kurz aufhalten, „früher mehr Bau-, jetzt mehr Büroarbeiter“, die „fast immer von ihrer Arbeit oder aus Büros“ „oder vom nahe gelegenen Skate- und Sportplatz“ kämen.

Die Haupteigenschaft der Überseestadt wurde spontan mit: „sauber und ruhig, man findet hier gut seine Ruhe - kann hier entspannt leben“ bis hin zu „eher ruhig, hier ist ja sonst nichts“ beschrieben. Der Stadtteil wird als Ort „für verschiedene Gesellschaftsschichten“ beschreiben, jedoch gäbe es „vor allem Büros in der Gegend, zum Wohnen aber sehr teuer“ oder mit „Ganz ruhig, was will man mehr, ist aber wirklich teuer – teuer und ruhig“ charakterisiert. Entsprechend sei der Stadtteil nur dann für jüngere Leute attraktiv, wenn sie genügend Einkommen hätten, „Die Wohnungen sind traumhaft schön, aber es kommt niemand der jünger ist, als 25“.

In Bezug auf Angebote für Familien und junge Menschen wurde der Stadtteil unterschiedlich eingeschätzt. Einerseits wurde bemängelt, dass es „eigentlich hier keine“ Angebote für diese Zielgruppe gibt, „höchstens der Red Bull Flugcontest oder das Sportstudio Werdersports“, entsprechend wurde der Stadtteil als „eher nicht geeignet für Familien eingeschätzt“, da es außer Sport- und Skatepark und der Promenade am Europahafen keine Angebote gibt, „kein Einkaufszentrum keine Spielplätze. Ich habe Töchter mit denen würde ich hier nicht wohnen, die würden bestimmt Langeweile haben“. Der Skate- und Sportplatz wird jedoch als Ort für junge Menschen und Familien beschreiben, der „unter der Woche nur von Jugendlichen“ frequentiert wird, „aber am Wochenende sind auch Familien da“.

Zur Lebensqualität des Stadtteils wurde eingeschätzt: „Die Menschen, die hier wohnen haben eine hohe Lebensqualität, weil sie es sich leisten können hier zu wohnen“, aber im öffentlichen Raum wurde „mehr bezahlbares Wohnen und was Attraktiveres, das ein bisschen mehr Leben reinbringt“ vermisst. Weitere Befragte vermissten Angebote, „etwas anderes als Sport, damit die Leute mehr Abwechslung finden, gäbe ja genug Platz um etwas anderes schaffen“.

Abbildung 2: Wohnhäuser in der Überseestadt (Quelle: Matthias Kroll)Abbildung 2: Wohnhäuser in der Überseestadt (Quelle: Matthias Kroll)
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4.1.2 Erfassung von Aktivitäten in der Überseestadt

Zur Beschreibung konkreter Aktivitäten der Personen im öffentlichen Raum wurden an zwei Orten parallel die Aktivitäten anhand der Einteilung von Jan Gehl erfasst. Dazu wurde die häufiger frequentierte Kreuzung vor dem Speicher XI sowie der öffentliche Skate- und Sportplatz ausgewählt.

An der Kreuzung vor dem Speicher XI, einem von einem Radweg, einer Bushaltestelle und mehreren alten Hafengebäuden umgrenzten Platz, wurden an einem Dienstagnachmittag Ende Mai von 17 bis 18:30 Uhr folgende Aktivitäten erfasst:

 

Optionale / eher optionale Aktivitäten (Ausgeübt, wenn Lust und Zeit, z.B. bummeln, etwas erleben, sonnenbaden, meist mit Muße erledigt)

Notwenige / eher notwendige Aktivitäten (zurücklegen von Schul- und Arbeitswegen, Einkaufen, Warten, meist effizient erledigt)

Soziale Aktivitäten (Interaktionen zwischen Personen, z.B. sich begrüßen und verabreden, spielen, sich unterhalten, zuschauen)

Gehen

0

71

0

Stehen

6

4

4

Sitzen

2

3

0

Der Schwerpunkt der Nutzung des Ortes liegt klar auf notwenigen Aktivitäten, insbesondere dem Zurücklegen von Wegen und dem Warten. Gleichzeitig weist der Ort auffällig wenige optionale und soziale Aktivitäten auf, nur einzelne Personen verweilen um den Ausblick zu genießen, sich zu grüßen oder zu verabreden oder um sich sitzend zu entspannen. Der klare Fokus ist auf der Funktion eines Transitortes. Dieser Eindruck wird auch darin verstärkt, dass viele der bei der gleichzeitigen Befragung angesprochenen äußern, sie hätten gerade keine Zeit, da sie auf dem Weg an einen anderen Ort sind.

Am Skate- und Sportplatz, einem öffentlichen Platz, der in einem Verfahren der Bürger*innen- und Jugendbeteiligung erstellt wurde, wurden an einem Dienstagnachmittag Ende Mai von 17 bis 18:30 Uhr folgende Aktivitäten erfasst:

 

Optionale / eher optionale Aktivitäten (Ausgeübt, wenn Lust und Zeit, z.B. bummeln, etwas erleben, sonnenbaden, meist mit Muße erledigt)

Notwenige / eher notwendige Aktivitäten (zurücklegen von Schul- und Arbeitswegen, Einkaufen, Warten, meist effizient erledigt)

Soziale Aktivitäten (Interaktionen zwischen Personen, z.B. sich begrüßen und verabreden, spielen, sich unterhalten, zuschauen)

Gehen

20

49

4

Stehen

12

5

14

Sitzen

61

3

0

Erwartbarerweise liegt hier der Schwerpunkt der Raumnutzung auf optionalen Aktivitäten die vor allem im Sitzen erfolgen, etwa des sich Aufhaltens, Beobachtens und Verweilens. Eine weitere hohe Anzahl beschreibt notwendige Aktivitäten, hier liegt der Schwerpunkt auf dem Zurücklegen von Wegen, dem Einkaufen und dem etwas Erledigen. Trotz des Charakters eines öffentlichen Treffpunktes, der von vielen vermutlich regelmäßiger aufgesucht wird, gibt es auffällig wenige soziale Aktivitäten. Diese erfolgen, soweit vorhanden, vor allem im Stehen, des sich Treffens, des etwas zusammen Ansehens und dem etwas zusammen Tuns. Als Schwerpunkt der Aktivitäten kann das sich Aufhalten und Verweilen genannt werden, gleichzeitig entsteht vor Ort (noch) nicht das Verbindende und Gemeinsame, das nach Augé einen anthropologischen Ort charakterisiert.

4.1.3 Gesamteindruck zur Überseestadt

Als Gesamteindruck beschreibt unsere Forscher*innengruppe die Überseestadt als weitläufigen Ortsteil mit viel Platz für neue und große Gebäude und „viel Luft und viel Wind“. Gleichzeitig fällt auf, dass sehr wenig Leben auf der Straße stattfindet, eher wenige Menschen sichtbar sind und sich wenig öffentliches Leben auf den Straßen und Plätzen zeigt. Optische Eindrücke sind „die Farbe grau“, „wenig grün“, „steril, eckig, kantig“, „nicht so gemütlich“ und „wenig Mülleimer“. Der Ort wirkt eher wie ein Transitraum, nicht fußläufig, er hat oft lange Wege und scheint sehr stark auf Autos ausgerichtet. Wenn sich Menschen dort treffen, dann meist verabredet oder zur Arbeit, zum Essen oft mit Reservierung. Die wichtigsten Zeiten sind eher tagsüber oder am frühen Abend, es gibt wenig geschaffene oder von den Menschen angeeignete Orte für Gemeinschaft und Begegnung.

Abbildung 3: Café am Europahafen in der Überseestadt (Quelle: Matthias Kroll)
Abbildung 3: Café am Europahafen in der Überseestadt (Quelle: Matthias Kroll)
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Die Überseestadt wirkt modern und dynamisch und schafft Orte für Unternehmen und Start-Ups, Proberäume, die Hochschule für Künste, Restaurants und die Promenade am Europahafen. Aber sie wirkt (noch) geplant und nicht organisch gewachsen und weist insgesamt wenig Vielfalt, eine geringere Mischung unterschiedlicher Gruppen und wenig Austausch und Begegnung auf. Dies mag zum einen am geplanten Charakter liegen, zum anderen aber auch an der Höhe der Miete und der Wohnungspreise, die Geringverdienende in der Regel ausschließen. Somit weist der Stadtteil eine moderne und neue Infrastruktur auf, die auch Orte der Ruhe und Erholung aufweist, aber diese nur bestimmten Zielgruppen eröffnet. Orte der Mischung und auch Angebote für Familien, Kinder, Bildung, Schulen, etc. sind gegeben, aber insgesamt eher noch in geringerem Umfang und oft noch nicht so lebendig frequentiert wie in anderen Stadtteilen. Der ursprüngliche Charakter des Stadtteils als geplanter und geschaffener Nicht-Ort im Sinne Augés ist noch sichtbar. Erste Bemühungen der Schaffung anthropologischer Orte sind vorhanden, aber dieser Wandel scheint nur langsam vonstatten zu gehen und noch mehr Zeit zu benötigen.

4.2 Viertel – Ortsgeister und die gemeinsam bestandenen Abenteuer der ersten Bewohner*innen

Als „Das Viertel“ werden in Bremen umgangssprachlich das Gebiet der beiden Ortsteile Ostertor und Steintor bezeichnet. Direkt östlich der Bremer Altstadt gelegen weist das Viertel eine besonders hohe Dichte an Gastronomie, Einzelhandel, Kultur, Freizeitangeboten, Festen und Märkten auf und ist auch durch seine Nähe zum Osterdeich am Weserufer sowie dem Weserstadion mit dem Fußballverein Werder Bremen geprägt. Bereits seit dem 19. Jahrhundert gilt dieses Stadtviertel als Ausgeh- und Einkaufszentrum. Mit den noch zahlreich erhaltenen Altbremer Häusern und ihren oft prachtvollen Fassaden und Hinterhofgärten bestehen viele attraktive Wohnmöglichkeiten im Viertel. Die Infrastruktur an öffentlichen Einrichtungen gilt als sehr gut gewachsen und vernetzt. Durch die lebendige Kultur- und Gastronomieszene gilt das Viertel als ein Ort, der sehr viele junge und ausgehfreudige Menschen anlockt und dabei auch sehr unterschiedliche Gruppen, Milieus und Kulturen mit Toleranz und Begegnung zusammenführt und offen für gelebte Vielfalt ist. Dadurch wird es auch oft mit Berlin-Kreuzberg und dem Schanzenviertel in Hamburg verglichen.

Stark geprägt wurde das Viertel durch seinen Gründungsmythos. In den späten 1960er Jahren gab es Pläne, die von einer sehr gemischten Bevölkerung bewohnten Wohnhäuser zugunsten der großen „Mozartrasse“ als Schnellstraßenzubringer abzureißen und am Rande dieser Trasse neue Hochhäuser mit über 20 Stockwerken zu bauen. Schnell regte sich ein Bürger*innenprotest der über viele Jahre anhielt, über Gruppen, Milieus und Bewegungen hinweg organisiert wurde, schließlich die regierende SPD spalten konnte und 1973 zu einer rettenden Abstimmung gegen den Abriss führte. Der damit verbundene Mythos eines widerständigen und gemeinsam unschlagbaren Stadtteils ist ein Paradebeispiel für eine jene von Marc Augé als für anthropologischer Orte nötig beschriebenen „Gründungserzählungen“, diese verknüpfen „meist die Ortsgeister und die ersten Bewohner mit den gemeinsam bestandenen Abenteuern einer wandernden Gruppe. Die soziale Markierung ist umso aufwendiger, als sie nicht immer die erste ist“ (Augé 2014, 51f.).

Abbildung 4: Eingang zum Viertel von der Altstadt (Quelle: Matthias Kroll)
Abbildung 4: Eingang zum Viertel von der Altstadt (Quelle: Matthias Kroll)
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Vor diesem historischen Hintergrund lässt das Viertel vermuten, ein anthropologischer Ort im Sinne Augés zu sein der durch seine Beliebtheit viele Orte mit hoher Aufenthaltsqualität vorweist. Gleichzeitig gibt es aber auch kritische Stimmen über die zunehmende und in vielen Teilen vollzogene Gentrifizierung des Viertels und regelmäßig auftauchende Konflikte über Lärm, Sauberkeit und Sicherheit im Stadtteil. Somit sollten auch diese kritischen Aspekte ihre Beachtung finden.

4.2.1 Beobachtung und Befragung im Viertel

Als Beobachtungsort wählten wir die zentrale Sielwallkreuzung als belebten Verkehrsknotenpunkt mit vielen gastronomischen Angeboten sowie die daran angrenzenden Straßen. Hier liegen besonders viele Orte, die symbolisch für die dem Viertel zugewiesenen Eigenschaften stehen und es war für uns interessant zu sehen, in welcher Verfassung wir den Ort vorfinden würden.

Die meisten der dort Befragten (n = 8) halten sich regelmäßig Viertel auf und wohnen dort auch, nur etwa ein Viertel der Befragten kam aus anderen Bremer Stadtteilen. Als positive Orte im Viertel werden sehr häufig der Osterdeich und bestimme Cafés, Bars oder Restaurants genannt. Als negative Orte wurden die Plätze benannt, an denen offen mit Drogen gehandelt wird, Straßen, etwa jene vom Sielwall zum Osterdeich, die als „zu eng“ empfunden wurden. Von der Hälfte wurde benannt, dass sie sich im öffentlichen Raum des Viertels lieber in Gemeinschaft mit Verabredungen aufhalten, um sich sicherer zu fühlen. Ebenfalls die Hälfte der Befragten benannte keinen negativen Ort.

Als Vorteile des Viertels benannten die Personen dass es dort „viel Leben“ gibt und dort „viel los“ ist, dass es viele Angebote zum Essen, Trinken und Einkaufen, viele kulturelle Angebote sowie eine von allen Befragten als gut oder sehr gut empfundene Verkehrsanbindung gibt. Als Nachteile des Viertels wurde benannt, dass es auf den Straßen oft sehr schmutzig ist, dass es durch die vielen Menschen eng wird, dass durch viele Passant*innen und schlechte und enge Radwege das Radfahren erschwert wird, dass es zu wenig verfügbaren und bezahlbaren Wohnraum gibt und dass es zu wenige Parkmöglichkeiten für Autos gibt. Eine weitere Gruppe der Befragten verwies darauf, dass es im Viertel „zu viele Spießer“ gibt, die die feiernden Menschen zunehmend einschränken.

Die befragten Sozialraumexpert*innen (n = 3, Mitarbeiter*innen in Kiosks oder kleinen Läden an verschiedenen Orten) beschreiben ihre Kund*innen als „Laufkundschaft“ jeden Alters „zwischen 20 und 70, alle, Jung und Alt, früher viele Alte, jetzt auch viele junge Menschen“ bzw. zwischen 22 und 38. Deren Aufenthaltsdauer wird als „nicht lange“, „in der Woche sind die meisten hektisch, am Wochenende länger, da wollen die gar nicht raus gehen wenn Musik läuft“ beschrieben.

Als Eigenschaften des Stadtteils werden genannt: „ … wenn Leute von außerhalb kommen sehen sie, dass es hier anders ist: Bisschen lockerer.“, dabei wird die Vielfalt und Toleranz betont: „Hier kann man alles finden: Leute ab der Armutsgrenze bis zum Professor oder Doktor halten sich hier im Viertel auf. Weil, hier ist Leben. Man hat hier kein Schamgefühl, du kannst hier halbnackt rumlaufen“. Als spontane Beschreibungen werden genannt: „Das Viertel ist einfach Bremen, das originale Bremen“. „Die Mentalität hier, diese Unterschiedlichkeit das find ich sehr positiv. Ich bin seit 18 Jahren bei diesem Unternehmen aber diese Filiale ist einfach top, weil hier die Leute so locker sind.“ „Das Viertel ist meine Familie, ich liebe das Viertel. (…), ich habe in der Sternschanze gearbeitet, die ist genau wie das Viertel“.

Die Eignung für Familien wird grundsätzlich bejaht, „das Viertel ist familienfreundlich, es gibt einen guten Spielplatz beim Theater“, „verschiedene Angebote und Geschäfte für Familien“ und die Nähe zum Osterdeich am Weserufer. Gleichwohl ist die Eignung für Familien auch mit Herausforderungen verbunden: „Kommt darauf an, wenn sie nicht ängstlich sind – es gibt Vorurteile, hier gibt’s Drogen, Schlägereien aber welchen Stadtteil gibt’s das nicht? Die kennen und sehen das nicht, hier sieht man das halt“.

Für junge Menschen und junge Erwachsene wird die Eignung sehr klar betont: „Für junge Leute ist das Viertel wirklich cool, man kann hier gut essen und trinken gehen“. „Für junge Leute ist das top, sieht man auch, es sind viele junge Menschen unterwegs, junge Erwachsene Kneipen und Bars“. Es geht um „Spaß haben, locker sein. Du kannst essen und trinken egal zu welcher Uhrzeit. Du kannst mit deinen Freunden vor den Läden sitzen auch wenn die schon zu haben und entspannt chillen, keiner fragt dich warum machst du das, warum sitzt du hier? Die Leute wollen hier ihre Freizeit verbringen, gerade für junge Leute ist es hier das Beste“, es „gibt alles, was sie brauchen“.

In Bezug auf mehr Lebensqualität werden nur wenige Punkte genannt: „Man muss nicht viel verändern“, „Die Leute, die bei mir einkaufen wünschen sich mehr Bio-Produkte“. Das tolerante Zusammenleben der unterschiedlichen Gruppen wird als Hauptfaktor für eine hohe Lebensqualität betrachtet: „Wenn die Leute lockerer werden ist die Lebensqualität automatisch wieder besser, wenn die Leute nicht so steif sind. Man kann immer was verbessern, aber ich liebe es, so wie es ist, ich lebe schon seit 18 Jahren hier und betreibe diesen Laden und möchte noch die nächsten 20 Jahre hier sein, solang ich stehen kann“.

Abbildung 5: Altbremer Haus im Viertel (Quelle: Matthias Kroll)
Abbildung 5: Altbremer Haus im Viertel (Quelle: Matthias Kroll)
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4.2.2 Erfassung von Aktivitäten im Viertel

Zur Beschreibung konkreter Aktivitäten der Personen im öffentlichen Raum wurden an einem Ort die Aktivitäten anhand der Einteilung von Jan Gehl erfasst. Dazu wurde mit der Sielwallkreuzung der zentrale Treff- und Knotenpunkt im Viertel ausgewählt. An diesem Ort treffen sich zwei Straßenbahnlinien und die Hauptverkehrswege des Viertels für Fußgänger*innen, Rad- und Autofahrer*innen. An der Kreuzung befinden sich zahlreiche viel frequentierte Imbisse, Kiosks, Cafés, Restaurants sowie ein Frisör und ein Kino.

An der Sielwallkreuzung wurden an einem Dienstagnachmittag Anfang Juni von 17 bis 18:30 Uhr folgende Aktivitäten erfasst:

 

Optionale / eher optionale Aktivitäten (Ausgeübt, wenn Lust und Zeit, z.B. bummeln, etwas erleben, sonnenbaden, meist mit Muße erledigt)

Notwenige / eher notwendige Aktivitäten (zurücklegen von Schul- und Arbeitswegen, Einkaufen, Warten, meist effizient erledigt)

Soziale Aktivitäten (Interaktionen zwischen Personen, z.B. sich begrüßen und verabreden, spielen, sich unterhalten, zuschauen)

Gehen

760

345 zu Fuß plus 688 Fahrrad

35

Stehen

59

334 (davon 143 an Fußgängerampel und 190 auf Straße)

23

Sitzen

2

12

2 plus 58 vor Cafe

Als erstes fällt auf, dass dieser Ort von deutlich mehr Menschen frequentiert wird als an den beobachteten Orten in der Überseestadt. An der Sielwallkreuzung gibt es besonders viel Bewegung, sie ist ein zentraler Treff- und Knotenpunkt. Bei den beobachteten Aktivitäten gibt es viele hybride Mischformen des Gehens und Stehens, von notwendigem und optionalem Einkaufen. Auch das Wege zurücklegen, Bummeln und Verweilen verschwimmt oft ineinander. Optionale und notwenige Aktivitäten halten sich in etwa die Waage, aber es gibt stärkere Schwerpunkte auf dem Promenieren und dem Wege zurücklegen. Insgesamt gibt es viel Bewegung durch die gehenden und fahrenden Passant*innen. Weitere Schwerpunkte liegen auf dem Warten, Hunde ausführen, Einkaufen oder dem etwas Erledigen. In Bezug auf die vor Ort vorhandenen Personen gibt jedoch es weniger gemeinsame soziale Aktivitäten, es sind vor allem Paare von Menschen oder kleinere Gruppen unterwegs um sich zu treffen und zusammen unterwegs zu sein.

Abbildung 6: Straßenszene im Viertel (Quelle: Matthias Kroll)
Abbildung 6: Straßenszene im Viertel (Quelle: Matthias Kroll)
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4.2.3 Gesamteindruck zum Viertel

Als Gesamteindruck beschreibt unsere Forscher*innengruppe das Viertel als einen mit sehr positiven Attributen aufgeladenen Ort, der von seinem Mythos und der Vielfalt der sich dort aufhaltenden Menschen lebt und sehr stark von Freizeit, Nachtleben und Einkauf bestimmt ist. Auch die Bebauung mit den Altbremer Häusern und die vielfältigen Kulturangebote von Musik, Museen, Theater, Poetry Slam, Diskussionen sowie das reichhaltige und auch abends verfügbare Angebot kleiner und sehr individueller Läden lädt zum Stöbern, Bummeln und Einkauf ein. In Bezug auf die Verkehrsmittel fällt auf, dass es dort deutlich mehr Fahrräder und weniger Autos gibt, dass die Autos langsamer fahren und weniger hupen und Fußgänger*innen und Radfahrer*innen im Zweifel im Vorrecht sind.

Dabei wirkt das Viertel in verschiedener Hinsicht als offen und barrierefrei. Zum einen laden viele Orte zum offenen und unverbindlichen Verweilen ein und bieten viele günstige und erschwingliche Angebote. Zum anderen gibt es eine besonders große Toleranz für Vielfalt und „bunte“ Verhaltensweisen und Lebensstile, die es dort ermöglicht, leicht an das Leben und Geschehen anzudocken. Die öffentlichen Räume des Stadtteils ermöglichen Prozesse und Aktivtäten der Aneignung und Mitgestaltung. Gleichwohl gibt es auch Barrieren, seien es Konflikte um Lärm, Müll, Drogenhandel, Kriminalität oder auch um die Privatisierung von Hinterhöfen und Vorgärten sowie die sehr teuren Wohnungspreise, die zunehmend mehr Menschen vom Wohnen im Viertel ausschließen. Obwohl in seiner Historie ein gewachsener anthropologischer Ort im Sinne Augés, gerät das Viertel in Gefahr, diese Eigenschaft dort zu verlieren, wo es nur noch ein Ort des Ausgehens wird, der zunehmend weniger von jenen Menschen bewohnt wird, die dort abends und an den Wochenenden unterwegs sind.

4.3 Gemeinsames und Trennendes der beiden Stadtteile

Ein vergleichender Blick auf die Stadtteile zeigt trotz eines unterschiedlichen ersten Eindrucks sehr viel Gemeinsames. Die Wohnsituation ist in beiden Stadtteilen durch die hohen Miet- und Kaufpreise sehr privilegiert und längst nicht für alle Personen erschwinglich. Gerade die in dieser Studie stärker mitbetrachteten jungen Menschen und Familien stoßen hier sicherlich an Grenzen und weichen in andere Stadtteile aus. Darüber hinaus sind in beiden Stadtteilen Tendenzen einer zunehmenden Verregelung sichtbar. Sowohl der Hafen als auch das Viertel verlieren ihre proletarischen und rauen Seiten und werden zunehmend bürgerlicher und nach dem Geschmack des gesellschaftlichen Mainstreams gestaltet. Konflikte um die Gestaltung des Raumes werden ausgetragen, aber wirtschaftliche und ordnungspolitische Interessen erhalten dabei den Vorrang. Und, eher als historische Randbetrachtung fällt auf, dass beide Stadtteile in ihrer Geschichte immer auch Orte der offen sichtbaren Prostitution und des Rotlichtmilieus waren und diese Vergangenheit auch in beiden Stadtteilen bis heute, nun eher indirekt, sichtbar bleibt.

Darüber hinaus gibt es auch vieles Trennendes und Unterschiedliches. Hinsichtlich der empfundenen Ortsqualitäten sind folgende Differenzlinien als Spannungsfelder sichtbar. Während die Überseestadt eher übersichtlich und ordentlich wirkt, wirkt das Viertel noch immer eher unübersichtlich und unordentlich. Während die Überseestadt modern und kühl wirkt, wirkt das Viertel eher altmodisch und gemütlich. Während die Überseestadt wenig tolerant zu Regelverstößen und Grenzverletzungen wirkt, wirkt das Viertel hier eher tolerant und permissiv. Während die Bewohner*innen und die Personen im öffentlichen Raum der Überseestadt eher homogen wirken und wenig Begegnung zwischen unterschiedlichen Gruppen stattfindet, wirken diese Personengruppen im Viertel eher heterogen und es scheint mehr spontane und institutionelle Begegnung stattzufinden.

5. Ausblick

Mit unserer Sozialraumanalyse konnten wir viele spannende und auch überraschende Einblicke in die beiden betrachteten Bremer Quartiere erhalten und viele Aspekte und Elemente ihrer Aufenthalts- und Ortsqualitäten erfassen. Diese beschreiben sicherlich viele Momentaufnahmen der nach Augé wie „frisches Holz arbeitenden“ sozialen Relationen. In diesen Einblicken wurden und wird jedoch das überdauernde relationale Zusammenspiel von Subjekten, Gruppen und Sozialstrukturen in räumlichen Settings für uns als Forschende und für die Leser*innen sicht- und nachvollziehbar.

Wir konnten dabei unser sozialräumliches Bewusstsein und unseren methodischen Werkzeugkoffer deutlich erweitern. Die Ethnologie des Nahen von Marc Augé und die stadtanalytischen Modelle von Jan Gehl sind dabei bereichernde Zugänge und Erweiterungen für sozialräumliche Analysen, die wir direkt und unmittelbar nutzen konnten.

Dieses theoretische, methodische und sozialgeografische Wissen und Können kann und soll nun in Zukunft auf andere räumliche Settings der Sozialen Arbeit und der Sozialwissenschaften übertragen werden. Wir freuen uns, wenn die Zugänge und die Ergebnisse unserer Studie auf ähnliche Fragestellungen und Analysen übertragen wird und sozialräumliche Studien inspirieren kann. Dies erscheint uns nicht nur für die Soziale Arbeit, sondern auch für weitere Felder der Planung und Stadtentwicklung von Interesse und Relevanz zu sein.

Literatur

Augé, Marc (2014): Nicht-Orte. 4. Auflage. C. H. Beck, München (Original: 1994).

de Certeau, Michel (1988): Gehen in der Stadt. In: Ders.: Kunst des Handelns. Merve, Berlin, 179-209.

Deinet, Ulrich (2009a): Methodenbuch Sozialraum. VS Verlag, Wiesbaden.

Deinet, Ulrich (2009b): Grundlagen und Schritte sozialräumlicher Konzeptentwicklung. In: Ders. (Hrsg.): Sozialräumliche Jugendarbeit: Grundlagen, Methoden und Praxiskonzepte. VS Verlag, Wiesbaden. 13-26.

Deinet, Ulrich/Krisch, Richard (2009a): Nadelmethode. In: sozialraum.de (1) Ausgabe 1/2009. URL: https://www.sozialraum.de/nadelmethode.php, Datum des Zugriffs: 18.09.2018.

Deinet, Ulrich/Krisch, Richard (2009b): Befragung von Schlüsselpersonen. In: sozialraum.de (1) Ausgabe 1/2009. URL: https://www.sozialraum.de/befragung-von-schluesselpersonen.php, Datum des Zugriffs: 18.09.2018.

Gehl, Jan (2012): Leben zwischen Häusern: Konzepte für den öffentlichen Raum. Jovis, Berlin (Original 1980).

Gehl, Jan (2015): Städte für Menschen. Jovis, Berlin (Original 2010).

Gehl, Jan/Svarre, Brigitte (2016): Leben in Städten. Wie man den öffentlichen Raum untersucht. Birkhäuser, Basel (Original 2013).

Krisch, Richard (2009): Sozialräumliche Methodik der Jugendarbeit. Aktivierende Zugänge und praxisleitende Verfahren. Juventa, Weinheim.

Reutlinger, Christian (2017): Machen wir uns die Welt, wie sie uns gefällt? Ein sozialgeographisches Lesebuch. Seismo, Zürich.

Spatscheck, Christian (2009): Methoden der Sozialraum- und Lebensweltanalyse im Kontext der Theorie und Methodendiskussion der Sozialen Arbeit. In: Deinet, U. (Hrsg.): Methodenbuch Sozialraum. VS Verlag, Wiesbaden, 33-44.

Spatscheck, Christian/Wolf-Ostermann, Karin (2016): Sozialraumanalysen. UTB/Barbara Budrich, Opladen, Toronto.

Wirtschaftsförderung Bremen (2018): Die Überseestadt Bremen – Daten und Fakten. URL: https://www.ueberseestadt-bremen.de/de/page/ueberseestadt-uebersicht/daten-fakten, Datum des Zugriffs: 18.09.2018


[1] Das Projekt fand im Rahmen des Projektseminars „Sozialräumliches Denken und Handeln in der Sozialen Arbeit“ im SoSe 2018 an der Hochschule Bremen statt. Mitglieder des zehnköpfigen Forscher*innenteams waren Lena Fachathaler, Paulina Felske, Fabian Hugo, Matthias Kroll, Lena Matz, Wiebke Schöne, Jens Schütte, Silas Wellner und Aicha Zouheir, angeleitet wurde das Projekt durch den Autor.


Zitiervorschlag

Spatscheck, Christian (2018): Aufenthalts- und Lebensqualitäten in urbanen Quartieren – Sozialräumliche Einblicke in die Bremer Überseestadt und das Bremer Viertel. In: sozialraum.de (10) Ausgabe 1/2018. URL: https://www.sozialraum.de/aufenthalts-und-lebensqualitaeten-in-urbanen-quartieren.php, Datum des Zugriffs: 25.04.2024