Innenhöfe und Fastfood-Restaurants als Aneignungsräume junger Menschen in urbanen Kontexten – Eine ethnografische Studie
Erik Theuerkauf, Jennifer Hübner
1. Auf den Spuren junger Menschen in den Räumen und Orten einer Großstadt
Ausgangspunkt dieses Artikels ist eine Interessen- und Bedarfsanalyse in einem Berliner Bezirk mit dem Titel Lebenswelten – Lebensräume: Auf den Spuren junger Menschen in der Großstadt im 21. Jahrhundert (Hübner 2023; i. E.). Einige Ergebnisse dieser Untersuchung werden hier dargestellt und entsprechend des Fragenhorizonts ‚Wie eignen sich junge Menschen im öffentlichen Raum ihre Sozialräume an?‘ diskutiert. Um dieser Leitfrage nachzugehen und überschaubare, aber auch aussagekräftige Erkenntnisse darzustellen, wurden zwei Planungsräume (Sozialraum) des Berliner Bezirks Tempelhof-Schöneberg ausgewählt, die an zwei unähnlichen Peripherien im Stadtgefüge einer Großstadt (Metropole) zu verorten sind: Einer befindet sich territorial betrachtet am äußersten Rand der Innenstadt (Zentrum), der andere am äußersten Rand der Großstadt. Durch diese kontrastierende Auswahl wird aufgezeigt, welche unterschiedliche Vielfalt von Gestaltungspotentialen junge Menschen in und zwischen Orten und Räumen entfalten oder erstreben.
Dabei betrachten wir allgemein gehalten den Raum als ein heterogenes Gewebe oder Geflecht aus sozialen Praktiken; und den Ort als eine Ordnung des Neben- und Nacheinanders von eher unbeweglichen Dingen (vgl. de Certeau 1988: 217f.). Zusammen sind sie ein Gefüge aus Relationen, wie ein Ensemble aus Elementen: das ermöglicht, gestaltet, durchlässt, verändert, blockiert, verschließt oder auch vernetzt und (an)ordnet (Löw 2017: 166ff.).
Bei der methodisch sehr umfangreichen Erhebung und Datenanalyse handelte es sich um ein Projekt der Auftragsforschung der öffentlichen Kommune, um sich entsprechend der Ergebnisse unausgeschöpfte Handlungspotentiale und tragfähige Zukunftsperspektiven für die außerschulische Bildungslandschaft (vgl. Claus et al. 2023; i. E.) und die Gestaltung von (halb)öffentlichen Raum zu erschließen. Dieser Beitrag knüpft an dieser an, geht aber über die Haupterkenntnisse der Studie hinaus. Er fokussiert mit Blick „das Doppelspiel von physischem (territorialem/geographischem) und sozialem Raum“ (Kessl/Reutlinger 2022a: 7) die Aneignungspotentiale von Zwischenräumen unter Rückgriff auf die Rekonstruktion von Bewegungen und Positionierungen junger Menschen an zwei für sie bedeutsamen Orten: Den Innenhöfen und Fastfood-Restaurants in einer Großstadt.
2. Praxeologische und ethnografische Zugänge zur Analyse von urbanem Raum
Gegenstand der Analyse war die Betrachtung von jungen Menschen und ihre Praxen im öffentlichen Raum (vgl. Wehmeyer 2016: 55ff.) als eine Form des ‚Praxis machens‘ – verbunden mit der Idee „soziale Ordnungsbildungen zu entschlüsseln und verständlich zu machen“ (Schmidt 2018: 202). Dabei sollte es weniger darum gehen, dem Forschungsanliegen eine heuristische Idee voranzustellen, als vielmehr die „Differenz zwischen Theorie und Praxis“ zugunsten einer praxeologischen Methodologie zu „überwinden“ (Hillemann 2018: 369). Eingenommen wurde eine nicht-essentialistische Forschungsperspektive, die Alltagspraxis und ihre innere Logik, ihren praktischen Sinn zur Sprache zu bringt (vgl. Sökefeld 2019: 219f.). Subjekte als Handelnde und Hervorbringende wurden im Anschluss daran nicht in einer Ausschließlichkeit ins Zentrum gerückt, sondern um den Fokus auf das „praktische[] Vollzugsgeschehen“, dass sich nach Bourdieu in „spezifischen räumlichen und materiellen Gegebenheiten zwischen verschiedenen Akteuren entfaltet[,]“ (Schmidt 2014: 194) ergänzt. Praxis und Soziales fallen zusammen und werden „in interaktiven Prozessen“ konstituiert. Sie sind „abhängig davon […], wie die Handelnden die Situation deuten und welche alltagsweltlichen Methoden der Kommunikation sie anwenden“ (Rosenthal 2015: 39). Das Interesse von Praxistheorien besteht an der „kleinste[n] Einheit der Kulturanalyse“ (vgl. Reckwitz 2016: 34), also sozialen Praktiken, die Reckwitz als „Kulturtechniken“ (ebd.) bezeichnet
Neben der Praxis, ihren Praktiken und ihrer sozialen Ordnung bot sich allen voran Raum als eine der Forschung zugrunde legende analytische Kategorie an. In der Studie wurde davon ausgegangen, dass sich soziale Praxis (sozial)räumlich vollzieht. Danach ist „Raum als [Entwurf und Implementierung] performativen Handlungsvollzug[s]“ und als Format „räumliche[r] Anordnungen“ (Löw 2018: 25) zu begreifen. Raum wird ein Charakter attestiert, der strukturierend anordnet und Handlungselement zugleich ist. Soziales zuuntersuchen, bedeutet von einem sozialen Raum (vgl. Kessl/Reutlinger 2022b: 10ff.) auszugehen, der durch eine „territoriale […] als auch […] soziale und gesellschaftliche Struktur“ (ebd.: 12) umspannt wird. Die Rede ist vom Sozialraum. Kessl und Reutlinger bezeichnen die „Ordnung des Räumlichen“ als „konkrete räumliche Praxis und die in sie eingeschriebenen und von ihr wiederum reproduzierten sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse“ (ebd.: 20).
Die sozialraumtheoretische Perspektive dieser Arbeit richtet sich von daher auf zwei Dimensionen: „[D]ie Rede vom Raum und die Ordnung des Räumlichen“ (ebd.: 29).Sozialer Raum ist Produkt von Gesellschaft, bringt sie aber gleichzeitig hervor (vgl. Löw/Sturm 2019: 7; vgl. nach Lefebvre 1991: 38). „In der Sprache von Martina Löw hieße das [mit Blick auf die Ordnung von Räumlichkeit den Fragen nachzugehen], was wird angeordnet (Dinge, Ereignisse etc.), wer ordnet an (mit welchem Recht, mit welcher Macht?) und wie entstehen dadurch Räume“ (Reutlinger 2009: 19).
Erweitert man diese Fragen um das räumliche Aneignungskonzept geht es auch um „das Erschließen und Begreifen, aber auch das Verändern, Umfunktionieren und Umwandeln der räumlichen und sozialen Umwelt durch aneignendes Handeln von Subjekten“ (Engelke et al. 2018: 538). Aus Sicht von Deinet (2009) bedeutet Aneignung die
- „eigentätige Auseinandersetzung mit der Umwelt
- (kreative) Gestaltung von Räumen mit Symbolen etc.
- Inszenierung, Verortung im öffentlichen Raum (Ecken, Bühnen) und in Institutionen
- Erweiterung des Handlungsraumes […]
- Veränderung vorgegebener Situationen und Arrangements
- Erweiterung motorischer, gegenständlicher, kreativer und medialer Kompetenz
- Erprobung des erweiterten Verhaltensrepertoires in neuen Situationen
- Entwicklung situationsübergreifender Kompetenzen.“
Um soziale Praxis zu untersuchen, muss soziale Praxis beobachtet werden. Entschieden wurde sich daher für eine ethnografische Forschungsstrategie. Die ethnografische Herangehensweise sollte in unterschiedlichen räumlichen Kontexten nachspüren, wie junge Menschen sich ihre Räume in der Großstadt aneignen. Sie gilt als eine Möglichkeit der „Entdeckungsreisen in soziale Welten“ aber auch „als ein Wagnis beobachtender und intellektueller Aneignung“ (Thomas 2019: 1). Sie „zielt auf ein Kennenlernen, Erforschen und Verstehen der Kulturen, in denen Menschen ihr Leben führen“ (ebd.). Genutzt wurde dazu ein offenes ethnografisches Verständnis, dass sich von strengen Beobachtungsformen wie der fokussierten Ethnografie zugunsten einer Methodenpluralität unterscheidet. Das bedeutet bei der „Datenerhebung hochgradig situationsflexibel“ zu sein und „die Reinheit der je eingesetzten Methode“ als „nachrangig […] gegenüber dem ‚Auftrag‘, so Vieles und so Vielfältiges wie möglich über die Welt, in der man sich jeweils bewegt, in Erfahrung zu bringen“ und zu betrachten (Hitzler/Gothe 2015: 10).
Die an der Studie beteiligten Forscher:innen haben dazu an verschiedenen lebensweltlichen Feldern junger Menschen als deren Aneignungsräume teilgenommen. Neben anderen Erhebungsformen, wie Interviews und quantitative Befragungen, galt die teilnehmende Beobachtung (Thomas 2019: 69ff.) als das zentrale Erhebungsformat. Im methodenpluralen Forschungsdesign kamen folgende Methoden zur Anwendung:
- Verdeckte Beobachtungen im öffentlichen Raum (bspw. Parks, Höfe)
- Offene Beobachtungen in Kinder- und Jugendeinrichtungen
- Ethnografisch gerahmte Interviews im öffentlichen Raum mit jungen Menschen
- Verdeckte Beobachtungen im halb-öffentlichen Raum (bspw. Bahnhöfe, Shopping-Center)
- Explorative Kurz-Interviews mit Fachkräften der Kinder- und Jugendarbeit
- Standardisierte Interviews mit Straßensozialarbeiter:innen und Schulsozialarbeiter:innen
- Zukunftswerkstätte mit jungen Menschen in Kinder- und Jugendeinrichtungen
- Quantitative Befragung von jungen Menschen (Stichprobe) und von Fachkräften der Kinder- und Jugendarbeit (Vollerhebung)
Ausgewertet wurden die Ergebnisse mit der qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring 2015). Dazu haben die Forschenden nach einer ersten Globalanalyse (Rosenthal 2015: 98ff.) Codes und Kategorien – also ein induktives Kodierparadigma (vgl. Mayring 2015: 69ff.) entwickelt. Nach den Analysen der verschiedenen Bezirksregionen wurden die Ergebnisse regionenübergreifend betrachtet, um mit Blick auf die räumliche Aneignung junger Menschen gesamtbezirkliche Aussagen treffen zu können.
3. „Je versteckter desto besser!“ – Hinterhöfe als Aneignungsorte junger Menschen im innerstädtischen urbanen Sozialraum
In Schöneberg-Nord (vgl. Theuerkauf 2023; i. E.) verbringen junge Menschen ihre Freizeit in Parks, auf öffentlichen Plätzen und Sportplätzen, in Cafés, in Jugendfreizeiteinrichtungen, in Vereinen, Shopping Malls usw. Da der nördliche Teil außerordentlich gut an das öffentliche Nahverkehrsnetz angebunden ist, sind die hier wohnenden jungen Menschen mobil. Sie nutzen die angrenzenden Bezirke genauso wie entferntere Sozialräume, um an Orte zu gelangen, an denen sie ihre Freizeit verbringen und Freund:innen treffen können. Zu den zentralen Freizeitaktivitäten der jungen Menschen gehören das gemeinsame Abhängen in (halb-)öffentlichen Räumen, das individuelle oder kollektive Sporttreiben sowie Flanieren im Kiez. Für das gemeinsame Abhängen hingegen fehlt es an Platz. In dem Sozialraum gibt einen Platzmangel an attraktiven und sicheren Orten für junge Menschen, die nicht bereits besetzt sind und erst noch gestaltet werden können. Das führt dazu, dass die jungen Menschen entweder in andere Regionen abwandern oder sich unberührte oder unbenutzte Räume aneignen.
Der Hinterhof als Territorium und Zwischenraum
Warum Hinterhöfe und keine anderen öffentlichen Plätze besetzt werden erklärt sich schnell. Einerseits werden die zugänglichen und attraktiven Orte zum Abhängen bereits von jungen Menschen rege und mehr oder weniger als verlässlicher Treffpunkt genutzt: Es gibt dahingehend keine alternativen oder ausreichend attraktiven Plätze mehr – oder es müssten andere Jugendgruppen verdrängt werden. Andererseits kommt für den Sozialraum das markante Merkmal hinzu, dass hier eine verdichtete Blockrandbebauung vorherrschend ist und es dadurch nur wenige öffentliche Grünflächen (insbesondere Parkanlagen) zur Nutzung gibt:
Die Bauweise der Blockrandbebauung als „geschlossener Block“ ist besonders, weil er sich dadurch auszeichnet, dass er „zu allen Blockseiten dem Straßenverlauf“ folgt und „sich zur öffentlichen Seite als ein Gebäude [präsentiert]. Der Innenbereich des geschlossenen Blocks ist privat und steht für die Bewohner zur Verfügung“ (Reicher 2017: 82). Die Innenbereiche der Blocks im Sozialraum weisen mal mehr, mal weniger verdeckte Zugangsmöglichkeiten auf. Für Außenstehende sind die Innenbereiche häufig nicht gut einsehbar, sodass eher Ortskundige von diesen versteckten Zwischenräumen wissen und diese nutzen.
Die Bedeutung dieses ungewöhnlichen Zwischenraums ist auch den sozialpädagogischen Fachkräften im Sozialraum bekannt: „Manchmal du triffst sehr viele Jugendliche, kommst überhaupt nicht vorwärts und manchmal, du läufst zwei Stunden rum, du hast überhaupt niemanden getroffen […] Besonders in den kälteren Jahreszeiten, ne oder jetzt zum Beispiel in dieser besonderen Zeit [der Covid-19-Pandemie] ist es halt auch oft so, dass die Kids einfach nicht anzutreffen sind und wenn, dann muss man schon mal gucken an ganz bestimmten Orten, Hinterhöfen und ne, es gibt da so Ecken, wo noch Platz ist für Jugendliche in unserer Gesellschaft und da trifft man sie dann halt manchmal, aber auch nicht immer, ne.“ Diese ‚ganz bestimmten Orte‘ sind vielleicht die letzten verbliebenen Orte (‚wo noch Platz ist‘) im Sozialraum, die für eingeweihte junge Menschen zugänglich bleiben und für Fremde schwer einsehbar und unwegsam sind. Die Konkurrenz ist hier, im Vergleich zu Andernorts, nicht so groß, wenngleich es durchaus auch Konflikte gibt.
Hinterhöfe als Aneignungsraum von jungen Menschen
In der Studie dokumentieren zwei verschiedene Hinterhoftypen, die durch junge Menschen im Sozialraum genutzt und sich angeeignet werden, um freie Freizeit zu gestalten. Einerseits gibt es den eher offenen Innenhof, der frei zugänglich und mehr oder weniger stark frequentiert wird, da er von unterschiedlichen Akteur:innen genutzt wird. Anderseits gibt es den eher geschlossenen Hinterhof, der (fast) vollständig von Wohngebäuden – eben wie ein ‚geschlossener Block‘ – eingegrenzt und zumeist durch verwinkelte Zugänge sowie Haus- oder Hoftüren vom öffentlichen Raum abgetrennt ist.
Der eher offeneInnenhoftyp ist Teil des öffentlichen Raums und verfügt mitunter über einen offenen Zugang, Sitzgelegenheiten und einen Spielplatz. Er ist für junge Menschen interessant, weil er für Andere nicht so gut einsehbar ist: „Je versteckter, desto besser also (lacht)?!“ Hier verbringen junge Menschen Zeit, die hier leben und andere, die von außen kommen, um Freund:innen zu treffen.
Auch die geschlossenen Hinterhöfe sind nicht wirklich geschlossen. Sie wirken durch ihre spezifische Architektur jedoch be- und abgrenzender. Hier verbringen bestimmte Jugendgruppen ihre Zeit. Sie kennen den Ort. Die geschlossenen Hinterhöfe werden nicht so stark frequentiert, da es keine offensichtlich freizugänglichen Durchgänge oder Passagen, sondern eher Sackgassen und Labyrinthe gibt. Zudem sind es verstecktere Orte, versteckter als die bekannten Innenhöfe in denen Nutzungskonflikte mit anderen jungen Menschen wahrscheinlicher sind: „Nee, da [auf dem Innenhof] waren wir früher, aber jetzt hängen wir nicht mehr da ab. Da kommen jetzt so andere, die wir nicht kennen.“ Hinterhöfe bieten jungen Menschen die Möglichkeit sich zu entziehen, da sie schwerer zugänglich sind; und: ‚Je versteckter, desto besser!‘ ist die einvernehmliche Devise, die die Hinterhöfe als attraktive Räume erscheinen lässt.
Verknappung des Sozialraums
Der Sozialraum ist gekennzeichnet von einer starken Gentrifizierung. Es gibt immer weniger freien und für sozioökonomisch weniger privilegierte Familien erschwinglichen Wohnraum im östlicheren Teil. Im westlichen Teil ist das Sozialgefüge bereits derart entmischt (Drilling/Dittmann 2022), dass junge Menschen ihre Freizeit hier wenig bis gar nicht verbringen wollen und eher durch andere Personengruppen wie Kleinkinder mit ihren Familien anzutreffen sind. Junge Menschen wirken unerwünscht. Prädestinierte Orte für sie gibt es nicht.
Im öffentlichen Raum gibt es kaum bis keine Gestaltungsfreiheit mehr, zumindest nicht für alle, und die verbliebenden Gestaltungsspielräume werden immer knapper. Dabei mangelt es jungen Menschen nicht nur an erschwinglichen, zugänglichen, geeigneten, sondern auch an attraktiven und sicheren Plätzen (vgl. auch Prieß/Theuerkauf 2023; i. E.): Entmischung statt Vielfalt. Aus einem Sozialraum der Vielfalt und soziökonomischen Durchmischung, wird ein Sozialraum des Mainstreams und der sozioökonomischen Entmischung. Das hat auch Auswirkungen auf die Aufteilung der Plätze. Junge Menschen erobern sich notdürftig noch freie Plätze, die mehr in die häusliche Sphäre des Privaten hinein und aus der öffentlichen Sphäre der Straße herausführt. Der Hinterhof als sicherer Rückzugsort ist dann oftmals eine bessere Alternative zum aussichtlosen Aneignungskampf im öffentlichen Raum. Der Hof ermöglicht es, ungestört(er) miteinander in Erscheinung zu treten und Freizeit zu gestalten. Hier befinden sich zudem Sitzmöglichkeiten und im Notfall zahlreiche angrenzende Dächer über dem Kopf. Aber wesentlicher ist die Möglichkeit, gemeinsam Zeit zu verbringen und nicht durch Andere vertrieben zu werden.
Zuhause ohne Haus
Im Hinterhof finden junge Menschen, wie Muchow und Muchow bereits für die Aneignung von Straßen in Großstädten feststellen konnten, „ein zweites, gleichsam nach draußen verlegtes Zuhause“. Ein Ort, der für „Beobachter keinerlei Besonderheiten oder gar Vorzüge vor“ anderen Orten aufzuweisen mag. Es ist aber ein durch soziale Praktiken gestaltetes und gemeinsames Zuhause ohne Haus, das nicht ortsgebunden ist, sondern als Gewebe durch Freundschaften, gemeinsame Interessen und Bedürfnisse geknüpft wird. Das gilt auch für ihren Hinterhof. Hier kennen sie sich aus, denn „[h]ier hat man seine „Freunde“, hier kennt man alle Ecken und Winkel, hier ist man mit der ganzen Nachbarschaft vertraut, von hier aus orientiert man sich im Stadtteil, in der Stadt und … im Leben“ (Muchow/Muchow 2012: 98). Hier wird (der eigensinnige) Sozialraum gestaltet.
Zentral für die Praxis des ‚Hinterhof machens‘ ist das Miteinandersein. Die Aneignungspraktiken konstituieren sich durch Geselligkeit und kollektives Abhängen. Durch das Abhängen selbst eignen sich junge Menschen Hinterhöfe an und eher selten durch sozial unverträgliche geltende Strategien. Sie haben das Interesse, beisammen zu sein – auch ohne sich bewusst abgrenzen zu müssen oder in Konflikte nach außen zu gehen. Der Hinterhof als Ort ist zweitrangig. Vielmehr sind es das veranstaltete soziale Machen und Gefüge vor Ort, welches Sicherheit und Attraktivität verspricht. Die Hinterhöfe mit ihren besonderen Eigenschaften sind lediglich die (letzten) geeigneten Orte, in denen Jugendliche in der Großstadt zusammenkommen und sich vom Blick der Erwachsenen sowie der Pädagogik entziehen können.
Die unscheinbaren Orte der Hinterhöfe, die weder verschlossen noch offen sind, sondern einen Zwischenraum darstellen, die zwischen öffentlichen und privaten Räumen rangieren, sind anscheinend (aus der Not heraus geborene) ideale Rückzugsorte: Sicher vor der Außenwelt und für die Eingeweihten der eigenen Gruppe ein offener Treffpunkt hinter mehr oder weniger verschlossenen Haus- und Hoftüren – oder zumindest nicht einsehbaren Höfen. Hier ist das Wir als Praxis einer sozialen Positionierung vorrangig, welches auf das Dasein der anderen Gruppenmitglieder und nicht (nur) auf das Wo ihres bzw. dieses einen Ortes verweist. Vielmehr wird die Aneignung dieser (halb-)öffentlichen und (halb-)privaten Sozialräume durch Kollektivität erzeugt. Was zählt ist die Innenperspektive der Jugendgruppe und ihr Befinden, ein zweites oder ins Offene verlegte Zuhause entfaltet und gestaltet zu haben.
4. „Ich will sitzen und Essen!“ – FastFood als doing slow von jungen Menschen in einem peripheren urbanen Stadtteil
Anders als Schöneberg liegt Mariendorf (vgl. Prieß 2023, i. E.) mitten im Bezirk und verbindet den Berliner Stadtkern mit dem Stadtrand. Um vom Zentrum in die Außenbezirke oder nach Brandenburg zu gelangen (und andersherum) muss der Sozialraum durchquert werden. Anders als für die hier wohnende Bevölkerung erfährt das Quartier auf diese Weise den Charakter eines Nicht- und Transitortes. Mit der Ausnahme funktionalisierter Ausflugsziele im Grünen, wie der Trabrennbahn oder dem Volkspark Mariendorf, wird dieser Stadtteil durch Hier-Nicht-Wohnende wenig bewusst frequentiert.
Anders als Schöneberg-Nord mit seinem Ost-Weste-Gefälle können Mariendorfs Einwohner:innen einem territorialen Nord-Süd-Gefälle zugeordnet werden. Die Menschen im Norden leben mehrheitlich in einer geschlossenen Wohnbebauung. Neben der in den 1950er Jahren entwickelten Siedlungsstruktur sind hier auch mehrere Hochhäuser im Nebengelass entstanden, die städtebaulich nachverdichtet werden. Grundsätzlich überwiegen im Sozialraum Einzel-, Doppel- und Reihenhausbebauungen, insbesondere im Süden. Der Stadtrand weist zudem viele Gewerbe- und Produktionsflächen auf (vgl. Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg 2017; 2021).
Der Sozialraum verfügt über nur wenig (freie) Orte, die für junge Menschen attraktiv sind. Auf Spielplätzen sind vorzugsweise Kinder und ihre Familien anzutreffen. Sportanlagen sind Mangelorte. Im Vergleich zu anderen Quartieren gibt es hier zwar eine Vielzahl an Grünflächen, die angeeignet werden könn(t)en, nicht jedoch an den Interessen junger Menschen anknüpfen. Vielmehr wirken Flächen wie Schrebergärten, Friedhöfe oder Parkanlagen hier vornehmlich funktionalisiert und spezialisiert (vgl. Reutlinger 2013: 591) und lassen sich nur wenig mit den lebensweltlichen Interessen der jungen Menschen verweben. Der Volkspark wird vor allem von Erwachsenen zur Erholung genutzt; eine Skate-Anlage von jungen Menschen, die aktiv skaten wollen oder von Erwachsenen, um mit (ihren) Kindern zu üben. Orte im Freien, die Nischen für Rückzug ermöglichen und nicht umfunktioniert werden müssen, gibt es nicht.
Die meisten jungen Menschen bewegen sich in diesem Sozialraum dort (hin), wo dichtes, öffentliches und lautes Leben stattfindet. Neben der für junge Menschen deutlich attraktiveren und urbanisierten Nachbarregion Tempelhof, samt seiner Shopping-Mall, handelt es sich bei diesem Sozialraum um Straßenzüge, die kommerzieller und dichter besiedelt sind.
Mikro-Peripherien und ihre (Ver)Ordnung von Alltag
Die Lebenswelt der jungen Menschen im Süden wirkt auf den ersten Blick unbekümmert. Der Eindruck täuscht jedoch, da sie einen Großteil ihres Alltags mit schulischen Anforderungen verbringen, denen sie nachgehen müssen. Ihr Alltag ist sehr strukturiert und funktionalisiert. Ungeplante freie Zeit gibt es kaum. Auch der Nachmittag zeigt sich durch ein reguliertes Programm geprägt (beispielsweise Care-Arbeit, Teilnahme an Sportangeboten, Tanzschule). Die jungen Menschen treffen sich entweder mit Freund:innen zuhause oder verlassen Mariendorf, um woanders kulturellen Angeboten, wie Kino, Theater oder Museum als eine Form des Ausgleichs nachzugehen (vgl. Prieß 2023; i.E.). Dem gegenüber kontrastierend stehen die lebensweltlichen Praktiken der jungen Menschen aus dem Norden. Sie leben diese in vergleichsweise beengten Wohnverhältnissen und können auf keinen eigenen Garten zurückgreifen. Sie verbringen ihre Freizeit vornehmlich im (halb-)öffentlichen Raum. Sie zieht es auf die Straße und öffentliche Plätze, wo sie gemeinsam abhängen.
Den öffentlichen Raum müssen sich die jungen Menschen mit anderen teilen, gleichwohl sie sich eigentlich nach eigenen – ab- und begrenzten – Räumen sehnen. So fungieren Spielplätze als „Ausweichort[e] zum Treffen, Sitzen, Chillen und der Möglichkeit, [um] gemeinsam Zeit zu verbringen. Sie identifizieren sich […] nicht mit dem Ort. Lieber hätten sie alternative Angebote im öffentlichen Raum, wie überdachte Sitzmöglichkeiten“ (Prieß 2023; i.E.). „Das Sitzen scheint [dabei] grundlegend zu sein, denn chillen können junge Menschen meist nur dort, wo es Möglichkeiten zum Sich-Ablegen in unterschiedlichsten Variationen gibt – ob sichtbar oder versteckt“ (Mengilli 2021: 1375). Diese jungen Menschen in Mariendorf streifen weniger umher, sondern fokussieren zielgerichtet Orte, die drinnen oder draußen Möglichkeiten zum Sitzen offerieren.
Essen und Chillen im Sitzen
Die Rede ist von den Jugendlichen im Sozialraum, die es an Orte zieht, wo sie „Gastronomie, kostenloses Internet und überdachte Räume zum Chillen“ (Prieß 2023; i.E.) finden. Dabei fallen die Tätigkeiten Essen und Sitzen als eine Praxis des gemeinsamen Chillens in einer warmen Umgebung zusammen, die sich für die jungen Menschen atmosphärisch als eine Form der Gemütlichkeit entfaltet. Bevorzugt werden Orte, wie der Kebab-Shop an der Hauptstraße von nebenan oder die sich am Rande des Sozialraums befindende McDonalds-Filiale.
Letztere zählt zu der Gattung der Schnellrestaurants, welches ein normatives Verständnis von dem, was Fastfood ist und können soll und warum Menschen hier hingehen, nahelegt: Schnelles Essen als ‚doing fast food‘. Im Fokus der Endverbrauchenden stehen Funktionalität und der schnelle Verzehr von Lebensmitteln. Weniger geht es um das „Vergemeinschaftungspotenzial“ (Roth/Zimmermann 2019: 85) gemeinsamen Essens, das auch als Ausdruck einer kulturellen Praxis gelebt werden kann.
Anders als Erwachsene, die die McDonalds-Filiale für eine überschaubar kurze Zeitspanne als eine Form des ‚Zwischendurchs‘ oder ‚Nebenbeis‘ aufsuchen, beginnt der Besuch für Jugendliche nicht erst mit dem Erreichen des Ortes, sondern bereits mit der Verabredung und dem gemeinsamen zielgerichteten Spaziergang. Chillen stützt sich damit nicht allein auf die Praktik des Sitzens und sich Hinsetzens, das an einen konkreten (Ziel)Ort geknüpft ist, sondern entfaltet sich bereits im Aufeinandertreffen, Losschlendern, zielgerichteten (Hin)Laufen, also dem gemeinsamen Gehen als vergemeinschaftete soziale Praxis der jungen Menschen. Der unattraktive öffentliche Raum transformiert zu einem schwellenartigen Transitraum, der in seiner Einöde genutzt wird, um das Fastfood-Lokal zielgerichtet zu erreichen. Die Praktik des (Hin)Setzens ist dabei nicht in das Umherziehen der jungen Menschen eingelassen oder gleicht einem Wechselspiel zwischen Laufen und Aufenthalt. Vielmehr wird das ‚Chillen im Laufen‘ in ein ‚Chillen im Sitzen‘ überführt. Die Praktik des Niederlassens figuriert sich als „Schnittstelle“, durch die neue räumliche Ordnungsverhältnisse generiert werden (vgl. Schmitt 2012: 5) und junge Menschen eigensinnigen und intimeren Vergemeinschaftungspraktiken nachgehen, die entlang der funktionalisierten Flächen im öffentlichen Raum nicht möglich sind.
Die McDonalds-Filiale dient den jungen Menschen als alltägliches „Ausflugsziel“ (Hübner 2018: 22), wenngleich der Ziel-Begriff, anders als bei den Ausflugszielen von Erwachsenen für ihre Ausflüge am Wochenende, eine andere, doppelte Bedeutung erfährt. Es geht nicht um das räumliche Erreichen eines Zielortes, zu dem ein exklusiver Ausflug gemacht wird, sondern um das lebensweltimmanente Ziel, fernab von Erwachsenen, pädagogischem Personal oder anderen Gruppen im Alltag gemeinsam unverzweckte Zeit verbringen zu wollen. Um die entfernt gelegene McDonalds-Filiale im Gewerbegebiet zu besuchen, nehmen die jungen Menschen einen längeren Fußweg auf sich und scheuen den Aufwand nicht. Anstatt sich für den Besuch des Kinder- und Jugendclubs um die Ecke zu entscheiden, wollen sie abseits und unbeobachtet miteinander Zeit verbringen, auch und gerade am Wochenende, wenn Orte der außerschulischen Kinder- und Jugendbildung geschlossen sind. Im Gegensatz zu den Ausflugszielen der jungen Menschen im Süden Richtung Museum oder Kino, fliegen sie im Norden (aus ihren beengten Wohnverhältnissen) aus, um an ihrem rückzugstiftenden Zielort Gemeinschaft im Alltag zu machen.
Alltagsentschleunigung durch Fastfood
Anders als der Begriff ‚fast‘ es nahelegt, geht es den jungen Menschen in FastFood-Lokalen dabei nicht darum, schnell an ihr Essen zu kommen, um es auf schnelle Weise zu verzehren. Vielmehr wollen sie über einen längeren Zeitraum verweilen und an diesem Ort miteinander Zeit verbringen. Essen und Sitzen münden in eine gemeinsame Praxis des entschleunigenden Abhängens, die sich als eine Form passiver Widerspenstigkeit der Erwartungshaltung schnell und funktionalisiert zu essen, entzieht. Ihre gemeinsame Zeit im Schnellrestaurant vollzieht sich konträr zu dem, was Erwachsene an diesem Ort tun. Der McDonalds-Besuch soll möglichst schnell hinter sich gebracht werden, um im (Berufs)Alltag noch mehr zu schaffen: Für Essen ist keine Zeit. Der komprimierte und vornehmlich hungerstillende Aufenthalt soll zu einem Mehr an Randzeiten im Alltag führen, um mehr freie Zeit zu erhalten. Junge Menschen wälzen diese Idee schnellen Konsums um: sie essen und sitzen lange an ihrem (und in ihrem) Fastfood(restaurant).
Zudem integrieren junge Menschen ihren Besuch bewusst in ihr Danach, in die Randzeiten nach Schule oder Ausbildung (o.Ä.). Ihnen geht es nicht darum, durch schnelles Essen Freizeit zu generieren. Vielmehr ist Essen eine Praktik, die mit weiteren Praktiken bewusst in ihrer freien Zeit verwoben ist. Die Praxis des FastFoods der Erwachsenen und die des SlowFoods der jungen Menschen fallen zusammen. SlowFood entfaltet sich dabei nicht durch den bewussten Verzehr regionaler und ökologischer Lebensmittel, sondern durch andere Praktiken, die dem allgemeinen Verständnis von SlowFood entsprechen: Junge Menschen nehmen sich Zeit und zelebrieren ihr Essen in Gemeinschaft, auf ihre Weise ästhetisch. Sie greifen dazu auf gemeinsames Versorgen oder Teilen zurück. Um zusammen einen einzigen Burger zu essen, wird das „Geld [auch schon mal] zusammengeschmissen“ (Hübner 2018: 22). Sie genießen ihre freie Zeit und können dabei, anders als im Park, auf überdachte und witterungsunabhängige, warme Sitzmöglichkeiten sowie kostenfreien Internetzugang und eine öffentliche Toilette zurückgreifen. Der (schnelle und funktionalisierte) Lebensmittelverzehr ist nicht der (primäre) Beweggrund hierher zu kommen. Vielmehr gleicht der Ort einem geschäftigen Zuhause auf Zeit, um in einer vertrauten Umgebung der Fremde gemeinsam und eigensinnig Zeit zu gestalten.
Anders als im beengten Zuhause gibt es im Schnellrestaurant ausreichend Platz zum gemeinsamen Verweilen. Zwar sind auch hier unterschiedliche Personengruppen anzutreffen, das räumliche Arrangement jedoch vermittelt weniger das Gefühl des verpflichteten Teilens, wie es für die jungen Menschen auf dem Spielplatz im Freien der Fall ist. Das Teilen von und das Ringen um Orte weicht einem akzeptierten Nebeneinander der jungen Menschen, das nicht in Abgrenzung zum anderen, sondern durch ein Konzentrieren auf das Eigene als ein Auf-Sich-Einlassen konstituiert. Innerhalb des halb-öffentlichen Raums entstehen soziale Mikroräume als Hinterbühnen (Goffman 1969: 104), die durch unsichtbare, imaginäre – jedoch selbst erschaffene und passiv widerspenstige – Grenzen umsäumt werden. Flankiert werden diese durch die nischenförmige (An)Ordnung von Stühlen und Tischen. Zwar evoziert dieses örtliche Ensemble normative Anrufungen zum performativen Sich-Niederlassen, schwingt andernfalls aber auch als aktive Hintergrundfolie mit, die McDonalds-Filialen überhaupt erst aufzusuchen.
Die McDonalds-Filiale am Stadtrand wird von jungen Menschen als lebensweltlicher und alltäglicher Zwischenraum konfiguriert, der sich anderen funktionalisierten und jederzeit einsehbaren Räumen, die sich als „Schwellenphase“ auftun (Wirth 2012: 14) und durchbrochen werden müssen, entziehen. Der private Raum ist (zu) beengt und der öffentliche Raum (zu) weit und/oder besetzt. Junge Menschen überwinden und nutzen ihn als transitorische Verbindungs- und Übergangsmöglichkeit, als räumlich-örtliches Dazwischen, um räumlich begrenzten und (an)ordnenden Orten, wie Zuhause und Schule, zu entfliehen und sich selbst ein räumlich-soziales Dazwischen zu ermöglichen, das sich in einer Kombination aus Essen und Sitzen als informelle, eigensinnige und gemeinsame Bildungspraxis mit einer eigenen Zeitlichkeit entfaltet.
5. (Un)Genutzte Zwischenräume und ihr schöpferisches Potential, sozialen Raum zu verstehen
Die Analyse der beiden Sozialräume unter Rückgriff auf die exemplarische Bedeutungsentfaltung von Hinterhöfen und Schnellrestaurants hat gezeigt, dass und wie sozialräumliche Aneignungspraktiken nicht auf den Erhalt des Gegebenen, sondern auf die Herstellung eigen(sinnig)er Räume zielen: Es wird sich Raum angeeignet, um ihn in einem Miteinander zu gestalten, um sich durch ihn voneinander abzugrenzen oder auch um in ihm gegeneinander zu agieren. So konnten gemeinsame Selbstbildungsprozesse herausgearbeitet werden, die zeigen, dass Sozialräume städtebaulich und planerisch unbeabsichtigt durch junge Menschen als offenes Feld der Möglichkeiten perspektiviert werden, die versteckte Qualitäten von Zwischenräumen in Sozialräumen einer Großstadt aufweisen und aufgrund von erwachsenen normativen Raumvorstellungen verdeckt liegen. Dies sind auch Möglichkeiten, die die Kräfteverhältnisse zugunsten junger Menschen verrücken könn(t)en.
Wie die beiden Untersuchungsausschnitte zeigen, ermöglichen es Aneignungspraktiken, Sozialräume zu erschließen, sodass Aneignungsräume im öffentlichen Raum entfaltet werden – Räume, die es lohnt zu erkämpfen und zu verteidigen. Diese Aneignungsräume können nicht nur als geografische Territorien, sondern müssen als gewebeartige Räume betrachtet werden, die durch die aktive Auseinandersetzung der jungen Menschen mit- und untereinander entstehen. Es braucht eine Vielfalt von (Zwischen)Räumen und die Gestaltung als und Vernetzung im Gewebe:
Die vorliegende Analyse lässt dabei deutlich werden, dass durch das Aneignen von Sozialräumen andere soziale Räume konstituiert werden, die quer zu den tradierten Grenzen und Räumen liegen und gesellschaftliche (An)Ordnungsstrukturen umarbeiten (vgl. Deinet/Reutlinger 2014: 19ff.) können. Der Sozialraum in dem hier skizzierten Verständnis wird nicht entsprechend eines „IKEA-ähnlichen Bausatzprinzips“ (Reutlinger 2017: 40) erschaffen und jungen Menschen bereitgestellt. Vielmehr konstituieren junge Menschen (ihren) sozialen Raum (Sozialraum) subjekthaft in einer gemeinsamen Sozialität, fernab von konstruierter und verordneter Funktionalität. Dieses Miteinander aus sozial(räumlich)en Praktiken zeigt dem Denken des behälterartigen Raumes seine Grenzen auf. Es entstehen Zwischenräume, zwischen antiquierten Raumverständnissen und idealisierten Raumordnungen ordnungspolitischer Phantasien, die das Denken und Handeln derjenigen verändern können, die soziale Räume nicht nur auf politischer Ebene gestalten, sondern diese auch allzu eigensinnig als Macht- und Herrschaftsinstrumente nutzen wollen: Sozialräume sind auch Subjektivierungsräume (vgl. Rund 2022) – die Frage ist hier nur, wie viele vorgefertigte Subjektivierungsgebote offenen Subjektivierungsangeboten gegenüberstehen.
Soziale Räume, so ließe sich mit Arendt sagen, treten nur dort in Erscheinung, wo Menschen „zusammen handeln“ können. Und sie „verschwinde[n]“ dort, wo Menschen aufgrund unzureichender Möglichkeiten nicht zusammenzukommen und „sich wieder zerstreuen“ (Arendt 1994: 240). Ziel stadt- und jugendpolitischer Sozialraumdebatten sollte es sein, das Zusammenkommen junger Menschen als soziales und dynamisches Gefüge in Bewegung zu ermöglichen und nicht fertiggestaltete Sozialräume vorzugeben, in denen bereits klar ist, wie eine Nutzung zu erfolgen hat. Junge Menschen wollen selbst in diesem Gewebe als Subjekte aktiv mitstricken und nicht als passive Objekte in die Ideen der Erwachsenenwelt verwickelt werden. Möglichkeiten wollen entdeckt und erkundet werden: Es braucht offene Räume, die sich nicht an den geschlossenen Normen und Ordnungsstrukturen der Erwachsenwelt ausrichten. Und es sollten die Möglichkeiten geschaffen werden, die Erwachsenwelt umzustricken, wie es die jungen Menschen in den Hinterhöfen und McDonalds-Filialen Berlins machen. Aneignung ist auch immer Gestaltung und damit Veränderung. Ob diese Veränderungen dann notwendigerweise unvorteilhaft für Nichtjunge Menschen sind, kann zumindest nicht behauptet werden, bis entsprechende Erfahrungen gemacht wurden. Die jungen Menschen sollten am Zug sein und die Ressourcen bekommen, die sie zum Gestalten und Verstetigen ihrer ‚pädagogischen Orte‘ (Winkler 2022) benötigen. Orte zur Gestaltung ihrer freien Zeit, die sie in soziale Selbstbildungsräume umgestalten.
Die Gefahr einer Verräumlichung von Bildung muss vermieden werden, indem eine umfassendere Sicht auf die räumlichen Zusammenhänge und Prozesse in Bildungslandschaften eingenommen wird. Das wird nur über die Partizipation von jungen Menschen (vgl. Pohl et al. 2019) erfolgen können und es erfordert eine kritische Reflexion von Raummetaphern und eine stärkere Verknüpfung von Bildung und gesellschaftlichen Entwicklungen. Die hier dargestellte Studie zeigt, dass die Aneignung von Sozialräumen durch junge Menschen neue gesellschaftliche Räume schaffen kann und dass es dafür mehr Engagement von Seiten derjenigen braucht, die das Potenzial und die Wirkungskraft haben, junge Menschen zu ermutigen, zu unterstützen und zu begleiten sich ihre Orte zu erschließen.
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Zitiervorschlag
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