Stadtentwicklung mit BewohnerInnenbeteiligung? Ein fachliches und persönliches Resümee nach 21 Jahren Gemeinwesen- und Quartiersarbeit in Freiburg-Rieselfeld
Clemens Back
1. Vorgeschichte
Mit einer Einwohnerzahl von ca. 230.000 [1] ist Freiburg im Breisgau die viertgrößte Stadt Baden-Württembergs. Laut den Bevölkerungsprognosen wird die Stadt Freiburg auch künftig stark wachsen (2030: 245.000 EinwohnerInnen), was u.a. auf ihre Funktion und Bedeutung als Universitätsstadt zurückgeführt werden kann. An der Universität und vier weiteren Hochschulen sind gegenwärtig rund 34.000 Studierende immatrikuliert, Tendenz steigend [2].
Freiburg gehört zu den klimatisch begünstigten Großstädten mit hohem Freizeitwert. Die nach dem Krieg auf den historischen Stadtgrundrissen wiederaufgebaute Altstadt mit dem gotischen Münster und den sogenannten Bächle – beides Wahrzeichen der Stadt – ist das Handels- und kulturelle Zentrum der Stadt und Anziehungspunkt für jährlich mehr als 3 Mio. TouristInnen.
Der Verdichtungsraum Freiburg nimmt mit seiner Zugehörigkeit zur trinationalen Metropolregion Oberrhein – zusammengesetzt aus französischen, schweizerischen und deutschen Regionen – eine herausragende wirtschaftliche wie kulturelle Stellung ein. Die Stadt liegt verkehrsgünstig und sie verfügt über ein engmaschiges Stadtbahn und Radverkehrsnetz. Im Vergleich mit anderen Städten ähnlicher Größe ist der Anteil des Pkw-Verkehrs am gesamten innerstädtischen Verkehrsaufkommen in Freiburg gering. Sehr hoch ist hingegen der Anteil des Fahrrad-Verkehrs.
1.1 Bedeutende Stadtentwicklungsprojekte der letzten Jahre
Die Siedlungsentwicklung der Stadt Freiburg ist ab den 1990er Jahren maßgeblich durch zwei Projekte geprägt worden. Mit dem neuen Stadtteil Rieselfeld und dem Konversionsvorhaben Vauban entstanden auf einer Fläche von insgesamt rund 110 Hektar neue Wohn-, Gewerbe- und Mischgebiete in innovativer und wegweisender Bauweise und Gestaltung. Die zwei jüngsten Stadtteile beinhalten die breite Palette nachhaltigen Bauens und die Zielsetzung einer Stadt der kurzen Wege. Im Ergebnis sind familienfreundliche Wohnquartiere entstanden, die weit über die Stadtgrenze hinaus Bekanntheit erlangt haben. Da der Autor über 20 Jahre im Stadtteil Rieselfeld gearbeitet, beschränken sich die weiteren Ausführungen auf diesen Stadtteil.
1.2 Stadtteil Rieselfeld
Noch bis Mitte der 1980er Jahre entsorgte die Stadt Freiburg teilweise ihre Abwässer auf natürliche Weise durch Verrieselung – ein Rieselfeld mit 320 ha Fläche entstand. Mit dem Vordringen der modernen Stadtentwässerung wurde dieses Verfahren obsolet. 1986 schloss man das Feld und ließ es einige Jahre ruhen. Seit 1995 ist im Freiburger Westen in der Nachbarschaft zur Dietenbachniederung (auf der zurzeit ein weiterer Stadtteil für mindestens 15.000 Menschen geplant ist) auf rund 70 ha ein neuer, attraktiver Stadtteil entstanden (vgl. ausführlicher auch Back 2011). Nach Abschluss des letzten Bauabschnitts im Jahr 2016 leben nunmehr rund 11.000 Menschen im Rieselfeld. Zudem sind hier rund 1.000 Arbeitsplätze angesiedelt. Im Rieselfeld wurde ein Mix aus Mietwohnungen (z.T. gefördert) und Eigentumswohnungen im Geschosswohnungsbau, Einfamilienhäuser, Kindereinrichtungen, Schulen, Geschäfte, Restaurants, Praxen und moderne Dienstleistungs-einrichtungen in unmittelbarer Nachbarschaft geschaffen. Rieselfeld ist somit ein Stadtteil der kurzen Wege. Hierzu trägt auch das Verkehrskonzept bei. In den zentralen Bereichen entlang der Rieselfeldallee befinden sich Blockrandbebauungen mit bis zu fünf Geschossen und gemeinschaftlichen, grünen Blockinnenbereichen, während die Randbereiche durch offene Bauformen geprägt sind. Durch die Bauweise und die relativ kleinteilige Parzellierung entsteht der Eindruck eines über Jahrzehnte gewachsenen Stadtviertels. Grundsatz war, dass Vielfalt den neuen Stadtteil auszeichnen sollte. Er sollte unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen Raum geben und dabei offen für zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen sein. Von Anfang an sollte sich deshalb das soziale und kulturelle Leben gleichzeitig zur entsprechenden Ausrichtung von Städtebau, Architektur, Verkehrs- und Freiräumen sowie ökologischen Maßnahmen, also parallel zum baulichen Wachsen entwickeln. Ein solches Konzept verbindet spezifische Lebens- und Erlebnisinhalte sowie Aktivitätsmuster von StadtbewohnerInnen, bestimmte Milieus mit bestimmten Raumstrukturen. Dem damit einhergehenden Streben nach einer Vielzahl von Stadt-Möglichkeiten entsprach denn auch die Zielvorgabe für eine hohe Anzahl an gemeinschaftsorientierten Wohnbauten. Neben einer Vielzahl kleinerer und größerer Investorenprojekte sind ca. 120 BauherrInnengemeinschaften (auch im Mehrfamilienhaus- und Geschoßwohnungsbau) für ca. 900 Menschen realisiert worden. [3]
1.3 Stadträumlich-soziales, architektonisches und ökologisches Konzept
In Kombination mit den dort vorhandenen Läden, Cafés usw. ist heute im Zentrum des Rieselfeldes ein attraktiver Ort urbanen Lebens entstanden. Private Räume unter freiem Himmel, wie z.B. MieterInnengärten, grenzen sich durch ihre Lage in den Blockinnenbereichen von den öffentlichen Räumen ab. Die Bebauung öffnet sich zu den Stadtteilrändern hin. Die hiesigen Punkt-, Zeilen- oder Reihenhäuser weisen mit drei bzw. vier Stockwerken aber immer noch eine relativ hohe Geschossflächenzahl auf. Ein Konzeptschwerpunkt war, dass eine Vielzahl an BauherrInnen mit unterschiedlichen ArchitektInnen zum Zuge kommt und, dass hierbei keine BauherrIn bzw. kein Bauträger mehr als 40 Wohnungen baut. Das ließ sich nicht durchgehend durchhalten. Aber auch der größte Investor (mit etwa 500 Wohneinheiten) erklärte sich bereit, an verschiedenen Standorten, in kleinen Einheiten und mit verschiedenen ArchitektInnen zu arbeiten. Frauen-, kinder-, alten-, und behindertengerechtes Bauen waren weitere angestrebte Qualitäten.
1.4 Die Sozialstruktur und die Ihr entsprechenden Wohnbauten
Einen Überblick zur sozialen Situation der BewohnerInnen gibt unter anderem die Finanzierung und die Preisklasse der jeweiligen Wohnungen. Ein Drittel der Wohnungen im ersten und zweiten Bauabschnitt (von 1994 bis 2008) wurde im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus finanziert, d.h. dort ist ein Drittel der Haushalte zum Bezug von Sozialwohnungen berechtigt 2. Ein weiteres Drittel wurde mit Hilfe von Sonderförderprogrammen im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus finanziert. Hier sind MieterInnen bezugsberechtigt deren Einkommen bis zu 60 % über dem für Sozialwohnungen definierten Einkommen liegt. Im ersten und zweiten Bauabschnitt entspricht die BewohnerInnenstruktur somit den ursprünglichen Zielen, nämlich der Schaffung preiswerten Wohnraums für Menschen mit geringerem Einkommen bei gleichzeitiger sozialer Durchmischung.
Da die öffentlichen Fördermittel für den Wohnungsbau ab dem Jahr 2000 radikal gekürzt wurden, wurde für den dritten und vierten Bauabschnitt verstärkt selbst genutztes Wohneigentum geplant. Diese Neuausrichtung fiel zusammen mit der wachsenden Nachfrage nach Wohneigentum, vor allem durch junge, kinderreiche Familien sowie durch Paare, die etwas später in die Familienphase eingetreten waren und den für Freiburg günstigen Grundstückspreisen im Rieselfeld. Entsprechend der politisch-planerischen Gesamtkonzeption verwirklichte zudem eine Vielzahl der InteressentInnen ihre Wohn- und Eigentumswünsche in Baugemeinschaften. Dabei wurden neben Netzwerken, die wiederum durch Kommunikationsstrukturen gebildet werden, auch BewohnerInnen empowert, die sich wiederum im Stadtteil engagieren und Verantwortung für den öffentlichen Raum übernehmen und somit zur Entstehung von sozialem und kulturellem Kapital beitragen. Da allerdings die Mietpreisbindung nach zehn Jahren ausgelaufen ist, sind von den Wohnungen noch fünf Prozent Sozialwohnungen, was auch eine Segregationsbewegung im Stadtteil in Gang gesetzt hat.
2. Der K.I.O.S.K. e. V. – Quartiersarbeit im Rieselfeld
Zur Begleitung der Quartier- und Stadtentwicklung im Rieselfeld wurde das Projekt K.I.O.S.K. e.V. (K steht für Kontakt, I für Information, O für Organisation, S für Selbsthilfe und K für Kultur) als zentrale Anlauf-, Moderations- und Katalysatorenstelle für alle Art gemeinwesen- und zivilgesellschaftlicher Interessen und Tätigkeiten ins Leben gerufen (vgl. Back 2016, 128). Dieses nahm seinen Anfang im Jahr 1996, also bereits vor dem Einzug der ersten „RieselfelderInnen“. Es entstand im Rahmen des von der Kommune Freiburg finanzierten Projekts „Quartiersaufbau Rieselfeld“. Als Kontaktstelle für praxisorientierte Forschung und nach dem Vorbild der skandinavischen Milieuarbeit (vgl. Ebbe/Friese 1989) konzipiert, wurde das Projekt von der Evangelischen Hochschule Freiburg betreut.
2.1 Entstehung des Konzepts Quartiersaufbau im Rieselfeld
Das Projekt „Quartiersaufbau Rieselfeld“ wurde von der Kontaktstelle für praxisorientierte Forschung an der Evangelischen Hochschule im Auftrag der Stadt Freiburg konzipiert und bis zum 30.09.2003 getragen. Danach übernahm ein Trägerverein, der aus BewohnerInnen des Stadtteils besteht, die Anstellungsträgerschaft. Die Idee entstand, als die Stadt Freiburg Anfang der 1990er Jahre als eine der ersten deutschen Städte wieder einen urbanen Stadtteil für 10.000 bis12.000 Menschen plante. Die Leitfrage dabei war: Können die problematischen Entwicklungen der Neubaustadtteile der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts verhindert oder positiv gewendet werden?
Zunächst galt es, das Ziel eines „normalen“ Stadtteils hinreichend präzise zu definieren, so dass einerseits konkrete Ziele für das Alltagshandeln der sozialen Fachkräfte hergeleitet werden konnten, zum anderen, dass das Erreichen der Ziele empirisch überprüfbar wurde. In Anlehnung an Hans Thierschs Begriff des „gelingenden Alltags“ (vgl. Thiersch 2006) wurde als Zielgröße die Entwicklung einer tragfähigen Alltagskultur im Stadtteil benannt. Alltagskultur wurde hier verstanden als ein System von lokalen Regeln und Traditionen, von Bewusstseinslagen, von selbstverständlichen Deutungs- und Handlungsmustern, die erkennbar, bekannt und vermittelbar sind. Allerdings ist den AkteurInnen auch die starke normative Ebene dieser Leitkonstruktionen bewusst gewesen.
Konkret wurden beim Aufbau des neuen Stadtteils folgende Ziele verfolgt:
- Anregung der BewohnerInnenschaft, sich an Prozessen der Entstehung und Entwicklung sozialer und kultureller Infrastruktur zu beteiligen,
- die Alltagskultur im neuen Stadtteil aufzubauen und zu entwickeln und Anregungen und Impulse für neue Initiativen aus der Bewohnerschaft aufzunehmen und deren Umsetzung zu begleiten,
- Eigeninitiativen zu fördern, selbstragende Netze im Stadtteil aufzubauen, und mitwirken, einen lebendiges Gemeinwesen mit guter Nachbarschaft zu schaffen.
Wichtig war dabei der Prozesscharakter dieser Ziele. Der Grad ihrer Verwirklichung war nicht von vornherein festlegbar und durfte auf keinen Fall im Sinne eines „je mehr desto besser“ verstanden werden. Er konnte nicht von außen gesetzt werden, sondern nur im Dialog mit den BewohnerInnen entwickelt werden. Mit diesem Projekt wurde parallel zur städtischen Entwicklung ein Stadtteilleben während seines Wachstums mit initiiert und organisiert.
Der K.I.O.S.K–Laden, der sich zunächst im ersten Bauabschnitt befand und seit 1999 im zweiten Bauabschnitt untergebracht wurde, dient seit Beginn als zentrale Anlaufstelle, als Nachbarschaftstreff, Informationsbüro, Laden, Versammlungs- und Diskussionsraum mit Tagescafé. 2003 übernahmen die Rieselfelder BewohnerInnen die Vereinsträgerschaft. Es entstand eine Neuverortung im „Glashaus“, ein von der Kommune finanzierter Neubau im Stadtteilzentrum.
2.2 Die Alltagskultur im Rieselfeld – Handlungsziele und deren Inszenierung
Die benannten Handlungsziele greifen teilweise auf inhaltlicher sowie auf struktureller Ebene ineinander und ergänzen sich so in ihren Inszenierungen. Die Inszenierungen der Handlungsziele, sprich die jeweiligen Interventionen oder Aktivitäten, hängen von der Gestaltungsfreiheit der BewohnerInnen und diversen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen ab. Dies impliziert eine stetige Bewegung. Der offene Konzeptrahmen, der weitere Handlungsziele, Bedürfnisse, Dimensionen und Inszenierungen vorbehält, ermöglicht eine konzeptionelle Flexibilität und ist somit unverzichtbar.
2.2.1 Kommunikation
Kommunikation bezeichnet den zwischenmenschlichen Austausch von Informationen und Gedanken und ist somit eine Voraussetzung für Teilhabe am Prozess der Vergemeinschaftung. Für letzteres werden Begegnungsorte im Stadtteil geschaffen, in denen persönliche Austauschmöglichkeiten stattfinden können: Im K.I.O.S.K.-Laden, mit Hilfe der Stadtteilzeitung oder bei diversen Veranstaltungen kann durch Kommunikation eine Kultur des ‚Sich-Begegnens’ geschaffen werden. Des Weiteren fördert eine offene Kommunikationskultur, in der ein kommunikatives Handeln im Sinne von Jürgen Habermas impliziert ist, soziale Integration und die Bewältigung von Alltagsproblemen (vgl. Habermas 1984, 589).
2.2.2 Hilfe im Alltag
Die Hilfe oder das Helfen wird in der Sozialen Arbeit als organisiertes helfendes Handeln charakterisiert, das durch unterschiedliche Organisationsformen aus einem weitgreifenden Netzwerk an Hilfeleistungen besteht. Der Aufbau eines lokalen Hilfesystems setzt sich aus dem Zusammenwirken von staatlichen Institutionen, Dienstleistungen, Familien, Nachbarschaften und bürgerschaftlichen Engagements zusammen. Diese Angebote werden von professionellen als auch von ehrenamtlichen AkteurInnen getragen: Die Reichweite der Gelegenheitsstrukturen im Quartier kann hierbei zwischen unmittelbarer Hilfe nach dem Reziprozitätsprinzip (wechselseitiges Helfen) über Selbsthilfegruppen sowie organisierte Nachbarschaftshilfe reichen und formiert ein vielschichtiges soziales Hilfenetzwerk im Wohnnahraum für unterschiedlichste Bedarfe.
2.2.3 Mitbestimmung und Mitverantwortung
Mitbestimmung ist im weiteren Sinne ein Leitprinzip demokratischer Gesellschaften. Dies bezieht sich sowohl auf die Wahrnehmung eigener Interessen als auch auf die Chance, gesellschaftliche Probleme zu lösen. Aufgabe des Quartiersaufbaus ist eine Kultur der Mitbestimmung in Bezug auf die Gestaltung des ‚eigenen‘ sozialen Raums. Dies impliziert einerseits eine Motivation seitens der BewohnerInnen, als autonome AkteurInnen und Mitentscheidende. Ziel ist eine allgemeine Mitverantwortung für den öffentlichen Raum und somit auch für das soziokulturelle Leben im Stadt-teil.
2.2.4. Soziokultur
Ein Ziel des Rieselfelder Stadtteilentwicklungskonzepts ist ein vielfaltiges Zusammenleben von unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Durch gesellschaftliche Entwicklungen sowie im sozialen und kulturellen Gestalten wird eine charakteristische Lebendigkeit im Stadtteil geschaffen. Diese Soziokultur der Vielfalt bezieht auch das Kommunikationssystem, das Regelsystem, das System von Hilfen im Alltag, die Kulturarbeit als Teil der Gemeinwesenarbeit und die Förderung von Eigentätigkeit und Genuss mit ein, wodurch eine Wechselwirkung unter den Handlungszielen entsteht.
2.2.5 Identifikation mit dem Stadtteil / „Heimat“
Um sich mit einem Stadtteil zu identifizieren, setzt man sich zunächst mit den Örtlichkeiten auseinander um sich anschließend dessen Raum anzueignen. In Bezug auf den Prozess der Raumaneignung wird im K.I.O.S.K.-Konzept auf die soziale Strukturierung des städtischen Raumes, das Konstruktionsprinzip durch Macht und Kapital im Anordnungsprozess nach Pierre Bourdieu (vgl. Bourdieu 1985) sowie auf den Habitus und der Raum der Lebensstile, in Anlehnung an Martina Löw (vgl. Löw 2001), Bezug genommen. Weiter kommen im Beheimatungsprozess Bedürfnisse nach Sicherheit, Verlässlichkeit, Zugehörigkeit und Abgrenzung auf, die innerhalb dieses Handlungsziels aufgegriffen werden sollen. Mittels Strategien, welche „intensive, verlässliche Kontakte im Sozialen Nahraum“ (Back 2015) initiieren, wird der Prozess der Beheimatung gefördert und die genannten Bedürfnisse in Bezug gesetzt. Dies geschieht beispielsweise durch Öffentlichkeitsarbeit und Stadtteil-feste.
2.3 Gesellschaftliche Wandlungsprozesse und das Wirken des K.I.O.S.K.-Konzepts
Die Quartiersarbeit im Rieselfeld und deren Wirkung unterliegen dem Leitziel einer tragfähigen Alltagskultur, die in den genannten Handlungszielen initiiert und von BewohnerInnen gestaltet wird. Wie diese Alltagskultur lokal gestaltet wird, hängt primär von den Rieselfelder BewohnerInnen ab. Zudem wirken sich aber auch gesellschaftliche Wandlungsprozesse auf die Gestaltenden, den sozialen Raum sowie auf die Inszenierungen der Handlungsziele aus. Diese Prozesse stellen zusätzliche Einflussfaktoren dar, die auf mehrdimensionaler Ebene die Quartiersarbeit im K.I.O.S.K. e. V. und somit dessen Wirkung mit formen.
3. Möglichkeiten und Grenzen der Organisation des Sozialen durch die BürgerInnen
Ausgehend vom Konzept der Quartiersarbeit im K.I.O.S.K. e. V. soll im Folgenden seine strukturellen Bedingungsfaktoren sowie die Gestaltungspielräume und Reichweiten seiner Interventionen betrachtet werden. Ebenso prägend, wie das oben benannte Planen, Bauen und Wohnen, ist für einen Stadtteil das generelle gesellschaftliche und gemeinschaftliche Leben. Denn wenn es heute um städtisches Leben geht, so scheint es unverzichtbar, das Verschwinden sozialer Beziehungen zu konstatieren.
Eine grundlegende Voraussetzung für sozialen Einfluss, für die Entstehung von Nachbarschaften, für das Herausbilden von Zivilgesellschaft ist das Vorhandensein und Ermöglichen von Einflussmöglichkeiten! Diese Möglichkeiten werden durch soziale Netze erreicht, diese sind gekennzeichnet durch mehr oder weniger starke Kohäsion. Allen Variationen der Nachbarschaften und Freundschaften im Stadtteil ist gemeinsam, dass sie immer nur zum Teil als soziale Beziehungen im Stadtteil verortet sind. Aktivierungsversuche können zwar eine bestimmte Engagement-Elite mobilisieren, sie verstärkt aber gleichzeitig auch Exklusionsprozesse (Ausschluss aus den Strukturen des Stadtteils) sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen und blenden dabei die zu der Ausgrenzung führenden Strukturen aus. Durch Inklusion (dies bedeutet, sich im Stadtteil zu engagieren und um die Menschen mit einzubeziehen und in das System Stadtteil aufzunehmen, bleiben die dominanten Milieus (die im Besitz des sozialen Kapitals sind) in Bewegung und offen für die Gestaltung interkultureller Zwischenwelten, aber auch wirk- und definitionsmächtig.
Die Aufgaben der Sozialen Arbeit in dem neuen Stadtteil führen somit in ein widerspruchsvolles Feld von Wertvorstellungen, Wahrnehmungen und Bewertungen, dem ein ebenso vielgestaltiger sozialer und physischer Raum gelebten Lebens gegenübersteht. Es ist klar, dass ein derartig vielfältiges, widersprüchliches und konträr bewertetes Feld von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen begleitet ist. Wenn wir also nach den Bedingungen der Quartiersarbeit in einem neu entstehenden, offenen Stadtteil fragen, dann müssen wir nach Thesen suchen, die dieses widerspruchvolle Feld aufnehmen, aber nicht auflösen.
Die Identität, die man gewinnt, indem man in einem bestimmten Raum lebt, ist in erster Linie praktisch bestimmt. Nur wenn der Ort des alltäglichen Lebens ein Überleben ermöglicht, wenn Wohnen und Arbeit und die Beteiligungsmöglichkeiten vorhanden sind, ist die notwendige, allerdings nicht immer hinreichende, Bedingung für die Bedeutung eines Raumes für die Herausbildung einer eigenen Subjektposition gegeben, die wiederum erst die Herausbildung einer Stadtteilgesellschaft ermöglicht. Das menschliche Dasein ist in Raumstrukturen eingebunden. Menschen sind im alltäglichen Handeln, über ihr Planen, durch der Ausübung von Kunst, in der Wissenschaft u. v. m. an der Konstruktion von Räumen beteiligt. Diese Raumkonstruktion in einem neuen Stadtteil ist besonders aufschlussreich für den Beobachter, da hier die Räume neu geschaffen werden. Eine zentrale Frage ist, wo sich die Aneignung eines Stadtteils unter welchen Bedingungen abspielt? Nach Martina Löw (Löw 2001) ist Raum eine relationale Anordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten. Raum wird konstituiert durch zwei analytisch zu unterscheidende Prozesse, dem Spacing und der Syntheseleistung. Der Soziale Raum wird dabei als ein Kräftefeld beschrieben, „das heißt als ein Ensemble objektiver Kräfteverhältnisse, die allen in das Feld eintretenden gegenüber sich als Zwang auferlegten und weder auf die individuellen Intentionen der Einzelakteure noch auf deren direkte Interaktionen zurückführbar sind" (Bourdieu 1985, 10).
Die Frage ist dabei nicht mehr, wer bin ich wirklich, sondern wo bin ich in der Wirklichkeit und von wem werde ich wahrgenommen? Die Wahrnehmung der umgebenden Welt läuft als Prozess nicht für alle Menschen gleich ab, sondern ist geprägt vom Habitus, als ein Wahrnehmungsschema. Bourdieu spricht von Einverleibung und einer leibhaft gewordenen Geschichte der gesellschaftlichen Ereignisse. Dieses Einverleiben milieuspezifischer Strukturen wird auch in der Alltagssprache ausgedrückt mit der sprichwörtlichen Wendung, „in Fleisch und Blut übergegangen". Von Kindesbeinen an erlernt das Individuum die in seinem Milieu ausgeprägten „Eigenschaften", mit denen sich die Einzelnen wie die Gruppen umgeben: z.B. Häuser, Möbel, Gemälde, Bücher, Autos, Spirituosen, Parfüms, Kleidung, aber auch Praktiken, mit denen ihr Anderssein dokumentieren, in beispielsweise sportlichen Betätigungen, den Spielen, den kulturellen Ablenkungen (Bourdieu 1989, 282).
Als Beispiel für diese strukturellen Wirkungen und Kräfte kann auch der Raum des neu entstehenden Stadtteils Rieselfeld wiederum herangezogen werden. Dieser wird konstituiert über die Straße, in der man wohnt, die soziale Institution, die außerhalb des eigenes Hauses ist, z.B. das Bachufer, das den eigenen Garten begrenzt, zwar nicht zum Grundstück gehört, aber dem Erleben nach zum eigenen Raum dazugehört. Weder in der Wahrnehmung noch in der Erinnerung unterscheidet man zwischen dem Ort, an dem ein Haus steht, und dem Haus als sozialem Gut, obwohl es verschiedene Aspekte eines Kontextes sind.
In einem sich ständig verändernden Stadtteil bekommen Räume eine ständig wechselnde Bedeutung. In den ersten zwei Baujahren existiert eine Grube, ein Abenteuerspielplatz für Kinder, es wird aufgeschüttet und planiert, ein vorläufiger Marktplatz und schließlich wieder Baustelle für das ökumenische Kirchenzentrum und den Stadtteiltreff. Die Räume entstehen durch die spezifische Wahrnehmung der Beteiligten, die wiederum abhängig vom Habitus ist. Durch den Habitus werden gesellschaftliche Lokalisierungen manifestiert, die den ständigen und stetigen Kampf um diese Räume erklären. Einige Orte stehen schon für die Geschichte des Stadtteils, auch wenn es eine bisher erst 22jährige Geschichte ist.
4. Ein Rück- und Ausblick – Aktuelle Chancen und Herausforderungen in der Gemeinwesen- und Quartiersarbeit (auch und gerade in Freiburg)
Die Gesellschaft eines neuen und urbanen Stadtteils sollte durchmischt sein und so eine gewisse soziale und kulturelle Stabilität gewährleisten und entwickeln. Vieles davon wurde im Rieselfeld erreicht. Eine Vielfalt von BauherrInnen sollte es geben. Und tatsächlich gibt es „HäuslebauerInnen" und Mehrfamilienhäuser, einfaches und hochwertiges Wohnen, MieterInnen (auch im Wohnprojekt, z.B. in der Genossenschaft Stadt + Frau), Wohnprojekte als Wohneigentümergemeinschaften. Es wurde viel investiert, die zur Zeit ca. 11.000 „RieselfelderInnen" sind etabliert. Es gibt drei Restaurants, ein Café, eine Pizza-Bude, zwei Imbissläden, verschiedene kleine (auch internationale) Läden für Alltägliches und Besonderes. Und zweimal die Woche ist Wochenmarkt. Auch aus lebensweltlicher Sicht ist der Stadtteil durch Vielfalt gekennzeichnet, durch eine Pluralität von Lebensstilen, ethnischen und religiösen Orientierungen, kulturellen, sozialen sowie wirtschaftlichen Milieus. Dieser Pluralismus ist eine wichtige Dimension für das Zusammenleben in einem städtischen Gesamtquartier.
Deutlich wird auch, dass es für Familien mit Kindern auch andere Wohnstandortpräferenzen gibt als das suburbane Eigenheim. Sie ermöglichen die zielgenaue Organisation gesellschaftlicher Netze, z.B. sowohl um bestimmte Haushaltsfunktionen gemeinschaftlich zu erledigen, als auch um Isolation und Anonymität zu verhindern. Dabei sind im Zuge der fortschreitenden Individualisierung und Auflösung tradierter Lebensformen die Lebenslagen und -wünsche der Einzelnen immer weniger dauerhaft. Gerade ein neuer Stadtteil lebt stark von Menschen, die sich zeitlich begrenzt, immer wieder auf eine neue Phase des Lebens beziehen wollen. Ein neuer Stadtteil hat für die ersten Jahre etwas Unbestimmtes. Es gab und teilweise gibt es noch eine Pioniersituation. Das heißt z.B. man redet und hilft sich bei Fragen und Problemen des Einlebens und der Neuorientierung, was in älteren, ausdifferenzierten, Stadtteilen schon nebeneinander oder sogar gegeneinander geschieht. Es liegt noch viel Potenzial in den Einzelnen und im Zusammenleben, teilweise unvermittelt und immer wieder neu gemischt nebeneinander.
Im Ganzen betrachtet kann die bisherige Entwicklung durchaus als Erfolg gewertet werden. Die Flexibilität der Entwicklung und Vermarktung, ein Städtebau mit einer Vielfalt an und Vielzahl von selbstbestimmt und gemeinschaftsorientierten Wohngebäuden, umfassende Dienstleistungen, der ökologische Schwerpunkt, das Naturschutzgebiet usw. waren Grundlagen dafür. Allerdings wäre das Rieselfeld mit seinem für einen Neubaustadtteil ausgeprägten Gesellschaftsleben nicht das was es ist, ohne die vielfältigen Aktivitäten und Initiativen der Bewohnern, ob als Einzelpersonen, als eine der zahlreichen Gruppen und Institutionen, ob in den Sportvereinen, im BürgerInnenverein oder in den Kirchengemeinden oder auch als intermediäre AkteurInnen des K.I.O.S.K.-Vereins. Die hiesige Stadtentwicklung hat sich dadurch neu positioniert. Die Menschen sind dabei, sich ihren Stadtteil anzueignen. Zum gemeinsamen Gelingen müssen Politik und Verwaltung, professionelle wie private AkteurInnen weiterhin beitragen. Die dabei zu Grunde liegende Sozialraumorientierung richtet den Blick auf Stadtteile oder Quartiere. Stadtteile existieren jedoch nicht im luftleeren Raum, denn gesamtstädtische, regionale, nationale und globale Entwicklungen manifestieren sich auf lokaler Ebene mit z. T. gravierenden Auswirkungen.
Wenn wir also nach den Bedingungen der Gemeinwesen- und Quartiersarbeit in einer neu entstehenden, offenen Stadt fragen, dann müssen wir nach Thesen suchen, die dieses widerspruchvolle Feld aufnehmen, aber nicht auflösen. Nach Abschluss der Evaluation zur Wirkung von 20 Jahren Quartiersarbeit im Rieselfeld (vgl. Bäuerle 2017) zeigt sich, dass die untersuchten Inhalte zum größten Teil den Anforderungen des Handlungsauftrages Sozialer Arbeit in Stadtteilen und Quartieren nach Martin Becker (vgl. Becker 2016) entsprechen. Es wurde eine Alltagskultur über die Jahre aufgebaut, die als ganzheitliches, direktes, nachhaltiges und soziales System fungiert, welches in unterschiedlichen Lebenslagen für eine entsprechende Gestaltung von Lebenswelten hinzugezogen werden kann.
Hervorzuheben ist die bewegliche, bedarfsorientierte und sich weiter ausdifferenzierende Vorgehensweise des K.I.O.S.K. e. V. in Verbindung mit dem Glashaus als Ort des Geschehens. Die charakteristischen Handlungsmaximen des K.I.O.S.K. e.V. finden sich im Rahmenkonzept, im Wechselwirkungskreislauf von Inszenierung und Gestaltung sowie im subjektiven Erleben von Rieselfelder BewohnerInnen wieder. Es kann davon ausgegangen werden, dass die stetige verzahnte Verortung von K.I.O.S.K. e. V. einen positiven Einfluss auf die Kommunikation und Vernetzung im Stadtteil hat und als zentrale Anlaufstelle verstanden wird. Damit spielt sie eine essenzielle Rolle im Stadtteilleben.
Dies wirkt sich positiv auf den Beheimatungsprozess der Rieselfelder BewohnerInnen und auf deren allgemeinen gesellschaftlichen Zusammenhalt aus. Weiterführend kann unter anderem die Thematik der Generationengerechtigkeit als ein zukunftsweisender Gegenstand der Quartiersarbeit im Rieselfeld benannt werden. Hierbei können die Teilthematiken im K.I.O.S.K. e. V. gebündelt, mit stadtteilbezogenen Interessen und Bedürfnissen verknüpft, in gewisser Weise auch kontrolliert und durch Inszenierungen nachhaltig sowie kleinräumig bearbeitet werden. Überdies kann K.I.O.S.K. e.V. als intermediärer Vermittler, Initiator von Beziehungs- und Bildungsprozessen und als vernetzendes Ressourcenmanagement auf lokaler Ebene verstanden werden. Ferner bündelt K.I.O.S.K. e.V. die Interessen der Rieselfelder BewohnerInnen und greift diese in vielfältigen soziokulturellen Settings auf, welche alle Ebenen des Alltagslebens im Rieselfeld betreffen und einen lokalen Grundpfeiler für Partizipationsmöglichkeiten darstellen. Der partizipative Ansatz fördert somit nicht nur die individuelle Teilhabe am Prozess der Vergemeinschaftung, sondern erzielt eine tragfähige Alltagskultur.
Für die Gemeinwesenarbeit in diesem (neuen) Stadtteil bedeutet dies, dass sie die Rolle einer autonomen Akteurin einnehmen muss, um sich auf die verschiedenen Teilsysteme beziehen zu können. Soziale Arbeit in und mit dem Gemeinwesen kommt nicht darum herum, Bedürfnisse, Ansprüche und Interessen sowie Rechte und Pflichten von Individuen mit der Struktur, Kultur und Dynamik gesellschaftlicher Teilsysteme zu verknüpfen, ohne von vornherein theoretisch festzulegen, wo die Probleme, sei es bei den ‚bösen‘ Strukturen oder bei der meist unbesehen als vorwiegend menschenfreundlich charakterisierten Lebenswelt, zu suchen sind (vgl. Staub-Bernasconi 1997).
Eine wichtige Bedingung hierbei ist die konstante und verlässliche Fortführung einer Gemeinwesenarbeit, die das Engagement von BewohnerInnen möglichst aller Milieus fördert und dabei deren jeweilige Lebenslage berücksichtigt. Dafür benötigt sie eine reflektierte und kontinuierliche wissenschaftliche Begleitung und Unterstützung sowie die entsprechende öffentliche Unterstützung und Finanzierung. Denn, Kommunale Sozialpolitik ist mehr ist als das bloße Nebeneinanderstehen von sozialen Dienstleistungen. Kommunale Sozialpolitik zielt darauf ab, durch eine soziale Infrastruktur Menschen in heterogenen, zum Teil sehr komplexen Lebenssituationen zu unterstützen und zu befähigen, soziale Gerechtigkeit herzustellen und soziale Teilhabe zu ermöglichen. Und K.I.O.S.K. als freier Träger versteht sich als Bestandteil und MitgestalterIn kommunaler Sozialpolitik. In meiner Arbeit beschäftigte ich mich als vor allem als Gemeinwesenarbeiter, aber auch als (Mit)Gestalter von Schnittstellen, integrierter Sozialplanung und der Ermöglichung von Innovationen. Die Gestaltung des Sozialen ist nicht statisch, sondern immer wieder Veränderungsprozessen unterlegen. Und diese gehen nun mal meist mit harten Aushandlungsprozessen einher. Meiner Meinung nach ist das der beste Weg, um Qualität und Innovation zu befördern. Also ein höchst produktiver Moment, in dem wir uns hier in Freiburg und an vielen anderen Orten gerade befinden. Denn es geht ja eigentlich um nichts weniger als die Frage: In was für einer Stadt wollen wir leben? Und wer tut dafür was?
Die starke Orientierung auf die kommunale, eigentlich ja auf die Stadtteilebene, birgt Chancen und Risiken. Klar ist, dass die Herausforderungen, vor den Kommunen gegenwärtig stehen, so vielfältig und unterschiedlich sind, dass lokale Lösungen gefunden werden müssen. Lebensrealitäten und damit Bedarfe unterscheiden sich ja nicht nur z. B. von Freiburg zu Berlin erheblich, sondern zum Teil schon von Stadtteil zu Stadtteil. Da wir dem Subsidiaritätsprinzip natürlich stark verbunden sind, sind wir der Meinung, dass Menschen vor Ort die besten Lösungen finden. Aber, das muss man auch sehen, auf lokaler, gar auf Stadtteilebene sind manche Themen und Strukturen „unbearbeitbar“. Phänomene von Armut, Langzeitarbeitslosigkeit, demographischer Wandel und Mobilität, um nur ein paar Stichworte zu nennen, werden zuvörderst auf lokaler Ebene spürbar, aber sie sind hier nur sehr bedingt zu lösen. Das Gemeinwesen ist keine sozialpolitische Allzweckwaffe.
Kurz: die Verlagerung von Aufgaben auf und Erwartungen an die lokale Ebene entspricht dem Subsidiaritätsprinzip, aber darf die anderen föderalen Ebenen nicht von ihrer Verantwortung entbinden. Das ist etwas, dass wir in der politischen Debatte meiner Meinung nach nicht aus dem Blick verlieren dürfen und das mir deswegen wichtig ist, an dieser Stelle zu betonen. Wir brauchen eine kommunale Sozialpolitik, die spezifischen lokalen Gegebenheiten und Bedarfen Rechnung trägt, die Handlungsschwerpunkte ermöglicht, die Konzepte ermöglicht – kurz: die Gestaltungsspielräume hat! Dafür brauchen wir aktive Kommunen und wir brauchen starke zivilgesellschaftliche AkteurInnen, wie z. B. freie Träger. Partizipation braucht aber ganz unterschiedliche Formate und Gelegenheiten. Die einen sind geübt darin, die eigenen Interessen zu artikulieren, Gruppen zu mobilisieren und haben Netzwerke, die sie aktivieren können, inklusive Zugängen zu Entscheidungsträgern. Es gibt aber auch BürgerInnen, die die bestehenden Partizaptionsstrukturen nicht so ohne weiteres für sich nutzen können. Kurzum: BürgerInnen beteiligen sich sehr unterschiedlich.
Soziale Vereine wie K.I.O.S.K. e. V., Initiativen, Projekte und Dienste sind nah dran an den Menschen. In der Schuldnerberatung ist das Problem von sich häufenden Stromsperren in einem Stadtteil lange Zeit bekannt, bevor sich dies in der Kommunalstatistik abbildet; ErzieherInnen erleben täglich den Kampf und die Erschöpfung von alleinerziehenden Müttern, GemeinwesenarbeiterInnen wissen, dass die Kinder der meisten BewohnerInnen längst in andere Städte gezogen sind und die älter werdenden Menschen die Vereinsamung fürchten.
Ich denke, ein wichtiger Faktor für die Arbeit war und ist die Ermöglichung und die Eröffnung von Möglichkeitsräumen. Das heißt konkret, viele Menschen kamen mit vagen Ideen und versuchten sie umzusetzen. Vieles glückte, einiges auch nicht, aber die Erfahrung zeigte: Ich kann etwas für mich, für andere, für den Stadtteil ermöglichen. Nur in Möglichkeitsräumen haben die AkteurInnen die Chance sich vorzustellen: Es kann auch anders sein.
Die Fähigkeit in der jeweiligen Situation kann also auch aus einer anderen Perspektive gesehen werden. Das heißt, die RieselfelderInnen verbinden jeweils mit diesen räumlichen Situationen einen individuellen und durch die Zugehörigkeit zu einer Teilgruppe des Stadtteils (wie z. B. der „Flüchtlingsgruppe“, der Schachgruppe, der Krabbelgruppen) einen geprägten Sinnzusammenhang.
Diese Fähigkeit von AkteurInnen, in Sinnzusammenhängen zu leben und zu erleben, erzeugt ihren kulturellen Niederschlag als Interesse am Quartier. Die Vielfalt solchen Erlebens und die Teilhabe an ihrem kulturellen Niederschlag zu ermöglichen ist unsere Aufgabe und auch der Erfolg der Arbeit von K.I.O.S.K. e. V. Dazu kommen die vielfältigen Aktivitäten und Initiativen der BewohnerInnen, ob als Einzelpersonen oder als eine der zahlreichen Gruppen und Institutionen, ob in den Sportvereinen, in verschiedensten Initiativen, im BürgerInnenverein oder in den Kirchengemeinden.
Das Faszinierende an dem neu entstandenen Großstadtviertel ist die Vielfalt, die verschiedenen Infrastruktureinrichtungen, die Geschichten der Ethnien und ihre BewohnerInnen in der (neuen) Vorstadt. In einem neu entstehenden Stadtteil wie dem Rieselfeld, der sich als städtisch intaktes Quartier entwickeln und von seinen BewohnerInnen angeeignet werden soll, vollzieht sich der soziale und gesellschaftliche Wandel parallel und gleichzeitig immer gesamtgesellschaftlich und auch stadtteilbezogen.
Es kam für die Bewohner darauf an, sich in dieser neuen Unbehaustheit einzurichten. An der Peripherie sollte die Artenvielfalt und die Kultur des Vielfachen triumphieren, denn: Ähnliche Menschen machen kein städtisches Leben aus. Das Quartier besteht aus dem Mosaik der kleinen Welten, diese heißt es zu erkennen und ihnen Raum zu geben.
Dazu braucht es allerdings gelingende Rahmenbedingungen. Die Arbeit der Hauptamtlichen bedarf der Kontinuität und Langfristigkeit mit möglichst den gleichen Bezugspersonen, denn Vertrauen und stabile Beziehungen im Stadtteil brauchen Zeit. Sie müssen auch eine gewisse Unabhängigkeit haben, die Sicherheit, dass ihnen der Träger in Konflikten den Rücken stärkt.
Und die Quartiersprojekte brauchen Zeit. Die Zeit für Lernen und Erfolge im Stadtteil ist nicht identisch mit politischen Abläufen (z.B. Legislaturperioden) oder Förderzeiträumen. Das macht vielen Projekten Schwierigkeiten, weil sie dann unter Erfolgs- und Legitimierungszwänge gestellt werden, denen sie nicht nachkommen können. Man kann Quartiersprojekte auch nicht so ohne weiteres vergleichen. Was in Freiburg Rieselfeld klappt, muss in einem anderen Stadtteil nicht klappen. Hier gilt das Prinzip der lokalen Richtigkeit. Wichtig für die Rahmenbedingungen sind auch die niederschwelligen Raumangebote, wie z. B. im Stadtteiltreff Glashaus. Niederschwellig – das heißt zum einen: sie müssen leicht erreichbar sein und man muss gern hinein gehen wollen. Lage und Ausstattung müssen passen. Zum anderen: es wird nichts erwartet, keine Leistung, man soll nur herein kommen und wird gern gesehen. Ohne einen solchen Raum, der im wahrsten Sinne Ermöglichungsraum ist, ist es schwer, erfolgreiche Quartiersarbeit zu machen.
Quartiere werden immer mehr zu gesellschaftlichen Orten. Immer bedeutsamer wird die Frage, was Menschen zu ihrer sozialen Verortung brauchen, um als integriert zu gelten und sich als integriert zu fühlen. Wie und wo entsteht dieses Gefühl, dazu zu gehören und für andere relevant zu sein? Wie und wo gelingt Menschen, dass sie anerkannt und respektiert werden und wie und wo gelingt ihnen ein gutes Leben im aristotelischen Sinne, nämlich ein verantwortliches Leben, ein Leben in Freundschaft, ein bewusstes Leben führen zu können? Wie gelingt es in unseren Turbokapitalismus den Menschen das Gefühl zu geben, sie gehören nicht zu den Überflüssigen! Den Menschen das Gefühl haben, sich sozial verorten zu können, also sich zugehörig zu fühlen und anerkannt zu sein, für andere von Bedeutung zu sein?
Was bedeutet soziale Verortung und die Entwicklung von lokalen Lebenszusammenhängen auf der Handlungsebene? Und unter welchen Bedingungen können sich solche lokalen Lebenszusammenhänge nur entwickeln und wann reden wir von solchen Lebenszusammenhängen? Sind nicht Anerkennung, Zugehörigkeit und das Gefühl für andere von Bedeutung zu sein hinreichende Voraussetzungen sozialer Integration und was muss dem vorausgehen?
Vor Ort schlummert das Wissen und Engagement, der Stadtteil ist auch ein Laboratorium für zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen, die auch Beheimatungsprozesse sein können. Heimat also als Gegensatz zu Fremdheit und Entfremdung, als Bereich der Aneignung, der aktiven Durchdringung. Für Prozesse der Beheimatung gibt es in diesem Zusammenhang folgende drei Ansatzpunkte:
- Den „sense of community“ – ein Gefühl des sozialen Eingebundenseins, der Vertrautheit in dem Stadtteil durch Aktivitäten.
- Den „sense of control“ – Heimat als aktiver Gestaltungsraum, Kenntnisse über Umgebung, Möglichkeit der Beeinflussung und drittens
- Den „sense of coherence“ – Heimat als stiften von übergeordneten Sinnzusammenhängen (vgl. Mitzscherlich 1997)
Dabei ist dieser Prozess ein permanenter nicht abschließbarer Prozess. Die Aufgaben der Gemeinwesen- und Quartiersarbeit, eben Teilhabe zu organisieren, führten in ein widerspruchsvolles Feld von Wertvorstellungen, Wahrnehmungen und Bewertungen, dem ein ebenso vielgestaltiger sozialer und physischer Raum gelebten Lebens gegenübersteht.
Literatur
Back, Clemens (2011): Das Rieselfeld – Stadtentwicklung mit BewohnerInnenbeteiligung. In: sozialraum.de (3) Ausgabe 1/2011. URL: https://www.sozialraum.de/das-rieselfeld.php. Datum des Zugriffs: 06.08.2018.
Back, Clemens (2015): Beheimatungsprozesse im neuen Stadtquartier. In: Regionalverband Mittlerer Oberrhein & Stadt Bruchsal (Hrsg.): Heimat machen? Geplante und gelebte Heimat. Lingenfeld: Maierdruck, 32-34.
Back, Clemens (2016): Die Rolle der Sozialen Arbeit bei der Stadterweiterung. Das Beispiel Freiburg Rieselfeld. In: Drilling, Matthias/ Oehler, Patrick (Hrsg.): Soziale Arbeit und Stadtentwicklung. Wiesbaden, 125-139.
Bäuerle Constanze (2017): 20 Jahre Quartiersarbeit im Rieselfeld – eine Wirkungsanalyse. Berlin.
Becker, Martin. (2016): GWA-Personalbemessung. Orientierungshilfe zur Personalbemessung professioneller Sozialer Arbeit im Handlungsfeld der Stadtteil- und Quartierentwicklung. Konstanz.
Bourdieu, Pierre (1985): Sozialer Raum und Klassen. Frankfurt a. M.
Bourdieu, Pierre (1989): Die feinen Unterschiede; Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M.
Habermas, Jürgen(1984): Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns; Frankfurt a. M.
Dangschat, Jens (1996): Raum als Dimension sozialer Ungleichheit und Ort als Bühne der Lebensstilisierung? Zum Raumbezug sozialer Ungleichheit und von Lebensstilen. In: Schwenk, Otto G. (Hrsg.): Lebensstil zwischen Sozialstrukturanalyse und Kulturwissenschaft. Opladen
Ebbe, Kirstin/Friese, Peter (1989): Milieuarbeit. Grundlagen präventiver Sozialarbeit in lokalen Gemeinwesen. Stuttgart.
Läpple, Dieter (1991): Essay über den Raum. Pfaffenweiler.
Löw, Martina (2001): Raumsoziologie, Frankfurt a. M.
Mitzscherlich, Beate (1997): Heimat ist etwas, was ich mache. Wiesbaden.
Stadt Freiburg (2016): Beiträge zur Statistik, Amt für Statistik und Einwohnerwesen der Stadt Freiburg.
Staub-Bernasconi, Silvia (1997): Handlungstheoretische Optionen in der Sozialen Arbeit in und mit Gemeinwesen. In: Ries, H.A./Elsen, S./Steinmetz, B./Homfeldt H.G.(Hrsg.): Hoffnung Gemeinwesen. Innovative Gemeinwesenarbeit und Problemlösungen. Neuwied.
Thiersch, Hans (2006): Die Erfahrung der Wirklichkeit. Perspektiven einer alltags-orientierten Sozialpädagogik. Weinhei
[1] Amt für Statistik und Einwohnerwesen 2016
[2] Bis zum Jahre 2002 wurden knapp 900 Mietwohnungen im sozialem Wohnungsbau errichtet, davon die Hälfte nach einem Sonderprogramm, bei dem die Einkommensgrenze für die MieterInnen 60% über dem in § 9 Abs. 2 des Wohnbaufördergesetzes (WoFG) definierten Einkommensgrenze für die „Berechtigungscheine" liegt.
Zitiervorschlag
Back, Clemens (2018): Stadtentwicklung mit BewohnerInnenbeteiligung? Ein fachliches und persönliches Resümee nach 21 Jahren Gemeinwesen- und Quartiersarbeit in Freiburg-Rieselfeld. In: sozialraum.de (10) Ausgabe 1/2018. URL: https://www.sozialraum.de/stadtentwicklung-mit-bewohnerinnenbeteiligung.php, Datum des Zugriffs: 21.12.2024